BSG Urteil v. - B 14 AS 86/09 R

Arbeitslosengeld II - Beschränkung des Streitgegenstandes - Angemessenheit der Unterkunfts- und Heizkosten - Angemessenheitsmaßstab - Wohnflächengrenze - Sachsen - Anwendung von landesrechtlichen Verwaltungsvorschriften

Gesetze: § 19 Abs 1 SGB 2 vom , § 22 Abs 1 S 1 SGB 2, § 1 Abs 2 WoFG, § 10 WoFG, § 95 SGG

Instanzenzug: SG Dresden Az: S 10 AS 77/06 Urteilvorgehend Sächsisches Landessozialgericht Az: L 3 AS 29/08 Urteil

Tatbestand

1Umstritten sind höhere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Unterkunft und die Heizung vom bis .

2Der im Jahr 1966 geborene Kläger ist alleinstehend und erwerbsfähig, im streitgegenständlichen Zeitraum hatte er kein Einkommen. Seit dem bewohnt er eine 58,01 qm große Mietwohnung, für die er im streitgegenständlichen Zeitraum monatlich zahlen musste: Nettokaltmiete 279,67 Euro, kalte Betriebskosten 52,41 Euro und Heizkosten 71,19 Euro (insgesamt 403,27 Euro). Ab Juli 2005 bewilligte der Rechtsvorgänger des beklagten Landkreises (im Folgenden auch: Beklagter) dem Kläger Arbeitslosengeld II (Alg II) in Höhe von 705,83 Euro monatlich, davon für die Unterkunft und Heizung 374,83 Euro (Bescheid vom ). Er wies den Kläger darauf hin, dass dessen Kosten der Unterkunft unangemessen hoch seien, er sich deswegen mit seinem Fallmanager in Verbindung setzen solle und die übernommenen Heizkosten ausreichend sein müssten, sodass eine mögliche Nachzahlung nicht übernommen werden würde. Zur Begründung seines Widerspruchs führte der Kläger aus, ihm sei nicht erklärt worden, wie sich der Betrag von 42,75 Euro für die Heizkosten zusammensetze und er erwarte eine Aufstellung, aus der er nachvollziehen könne, welche Kosten übernommen würden und welche nicht. Für die Zeit vom bis bewilligte der Beklagte monatlich 603,75 Euro Alg II und legte eine Grundmiete von 230 Euro einschließlich kalter Betriebskosten sowie 42,75 Euro für Heizkosten zu Grunde (Bescheid vom ). Die Widersprüche des Klägers wurden unter Hinweis auf die "Richtlinie des Landkreises zu den angemessenen Kosten für Unterkunft nach den Sozialgesetzbüchern II und XII" vom (im Folgenden: Unterkunftskosten-Richtlinie) zurückgewiesen (Widerspruchsbescheide vom ).

3Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) hat den Beklagten unter Änderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger vom bis zum monatliche Leistungen in Höhe von 734 Euro zu zahlen. Eine nachvollziehbare Kostensenkungsaufforderung sei nicht nachweisbar, sodass die Kosten der Unterkunft und Heizung in voller Höhe zu übernehmen seien, zumal für den Abzug einer Warmwasserpauschale keine Rechtsgrundlage bestehe (Urteil vom ). Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG geändert und den Beklagten verurteilt an den Kläger monatlich vom 1.7. bis zum : 728,05 Euro, vom 1.10. bis zum : 605,21 Euro und vom 1.1. bis zum : 605,65 Euro zu zahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom ). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Nach den aufgrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) anzuwendenden Maßstäben sei die Wohnung des Klägers mit 58,01 qm und einer Nettokaltmiete von 279,67 Euro monatlich für ihn als Alleinstehenden unangemessen. Nach den landesrechtlich festgesetzten Wohnungsgrößen aufgrund der zwar außer Kraft getretenen, aber nach wie vor anzuwendenden Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums des Innern zum Sächsischen Belegungsgesetz vom (SächsABl S 478 - VwV-SächsBelG) gelte als Höchstgrenze für Alleinstehende eine Wohnfläche von 45 qm. Auf die seit dem geltende Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums des Innern zur Modernisierung und Instandsetzung von Mietwohnungen als Ersatzwohnraum im Rahmen des Stadtumbaus vom (SächsABl S 682 - VwV-Ersatzwohnraumförderung) könne nicht zurückgegriffen werden, da deren Ziel die Beschleunigung des Freizugs von Abrissobjekten sei. Vor diesem Hintergrund sei die Unterkunftskosten-Richtlinie nicht zu beanstanden, nach der für Alleinstehende bei einer Wohnungsgröße von 45 qm in allen Gemeinden mit der Mietstufe II und einer Bezugsfertigkeit ab eine Miete von 230 Euro monatlich zu Grunde gelegt werde.

4Besondere Umstände, die höhere Kosten der Unterkunft begründen würden, seien weder vorgetragen worden noch ersichtlich. Dem Kläger sei ein Umzug in eine Wohnung mit angemessenen Kosten der Unterkunft in seinem Wohnort möglich und auch die Unangemessenheit seiner Kosten der Unterkunft bekannt gewesen. Eine vorherige Kostensenkungsaufforderung sei keine zwingende Voraussetzung für die Entscheidung der Behörde, nur die angemessenen Kosten der Unterkunft zu übernehmen. Der Beklagte habe auch die Kosten der Heizung auf das angemessene Maß senken dürfen.

5Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Er macht ua geltend: Nach Seite 14 des Urteils gehe das LSG von einer Nettokaltmiete von 230 Euro als angemessen aus, dies entspreche auch seiner Auffassung, während es auf Seite 19 seines Urteils eine Bruttokaltmiete von 230 Euro für angemessen erachte, dies entspreche der Auffassung des Beklagten. Es sei fraglich, ob die Unterkunftskosten-Richtlinie eine geeignete Grundlage zur Bestimmung der angemessenen Kosten der Unterkunft sei, da die Zahlen weit vor dem Jahr 2004 gewonnen worden seien. Angesichts des Anstiegs der Nebenkosten hätte eine jährliche Aktualisierung erfolgen müssen. Er sei von dem Beklagten nicht ordnungsgemäß darüber unterrichtet worden, dass die Kosten der Unterkunft unangemessen seien.

6Der Kläger beantragt,das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom zurückzuweisen.

7Der Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

8Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Hinsichtlich der Bestimmung der angemessenen Wohnungsgröße sei nicht dem ) zu folgen. Als örtlicher Vergleichsmaßstab sei auf den Wohnort des Klägers abgestellt worden. Da kein einfacher oder qualifizierter Mietspiegel vorhanden sei, seien Auskünfte eingeholt worden.

Gründe

9Auf die Revision des Klägers ist das aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das LSG zurückzuverweisen.

10Streitgegenstand des Verfahrens sind allein Ansprüche des Klägers auf höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung für die Zeit vom bis zum , soweit das LSG auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG geändert hat, und die diese Ansprüche regelnden Bescheide des Beklagten vom und in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom . An der Zulässigkeit derart beschränkter Rechtsmittel (vgl nur B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 18) hat sich durch die Neufassung des § 19 Abs 1 SGB II im Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom (BGBl I 453), das insofern am in Kraft getreten ist, zumindest für laufende Verfahren über vorher abgeschlossene Bewilligungsabschnitte nichts geändert.

11Der Kläger lebt nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) allein in einer Wohnung und gehört dem Grunde nach zum leistungsberechtigten Personenkreis nach dem SGB II, weil er das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. noch nicht vollendet hat, erwerbsfähig und hilfebedürftig ist und den gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat (§ 7 Abs 1 Satz 1 SGB II, der insofern vom bis heute nicht geändert wurde).

12Leistungen für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind (§ 22 Abs 1 Satz 1 SGB II, der insofern ebenfalls zwischenzeitlich nicht geändert wurde). Der Begriff der "Angemessenheit" unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der uneingeschränkten richterlichen Kontrolle (stRspr, vgl nur - BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 <München>, jeweils RdNr 12 mwN). Zwischen der Leistung für die Unterkunft und der Leistung für die Heizung ist zu unterscheiden, wie schon dem Wortlaut der Vorschrift mit der Verwendung des Plurals "Leistungen" sowie der Rechtsprechung des Senats zu entnehmen ist ( - BSGE 104, 41 = SozR 4-4200 § 22 Nr 23; zuletzt , zur Veröffentlichung vorgesehen, RdNr 18).

13Zur Ermittlung der Leistung für die Unterkunft, auf die der dem Grunde nach Leistungsberechtigte Anspruch hat, ist in mehreren Schritten vorzugehen. Zunächst ist die abstrakt angemessene Leistung für die Unterkunft unter Zugrundelegung der sog Produkttheorie in einem mehrstufigen Verfahren festzustellen und als Grundlage für alle weiteren Berechnungen zuerst die angemessene Wohnungsgröße zu bestimmen (vgl unter Anderem B 7b AS 18/06 R - BSGE 97, 254 = SozR 4-4200 § 22 Nr 3; - zur Veröffentlichung vorgesehen RdNr 20 ff; zuletzt , zur Veröffentlichung vorgesehen).

14Schon hinsichtlich der abstrakt angemessenen Wohnungsgröße von 45 qm für Alleinlebende im Freistaat Sachsen - wie dem Kläger - kann dem LSG jedoch nicht gefolgt werden.

15Zur Festlegung der angemessenen Wohnfläche ist auf die Wohnraumgrößen für Wohnberechtigte im sozialen Mietwohnungsbau abzustellen (stRspr seit B 7b AS 18/06 R - BSGE 97, 254 = SozR 4-4200 § 22 Nr 3, jeweils RdNr 19; zuletzt ). Hinsichtlich der Überlassung von gefördertem Mietwohnungsbau verweisen sowohl § 27 Abs 4 als auch § 10 des Gesetzes über die soziale Wohnraumförderung vom (BGBl I 2376: "Wohnungsförderungsgesetz" im Folgenden: WoFG) wegen der maßgeblichen Wohnungsgröße auf die "Bestimmungen" des jeweiligen Landes.

16Nach den Feststellungen des LSG gibt es in Sachsen keine derartigen Bestimmungen nach dem WoFG. Soweit das LSG aufgrund dessen meint, die außer Kraft getretene VwV-SächsBelG weiterhin anwenden zu können, kann dem nicht gefolgt werden. Speziell zur Situation im Freistaat Sachsen hat der 4. Senat des BSG in seinem Urteil vom (B 4 AS 70/08 R - RdNr 14 f) ausgeführt: Aus Gründen der Rechtssicherheit und der Praktikabilität sei auf die auf der Grundlage des § 10 WoFG von den Ländern festgelegten Werte zurückzugreifen, bis der Verordnungsgeber eine nach § 27 SGB II mögliche Verordnung erlassen habe. Dementsprechend verbiete es sich aber, die aktuell in Sachsen festgesetzten Werte nach der VwV-Ersatzwohnraumförderung nicht zu Grunde zu legen, sondern stattdessen auf die VwV-SächsBelG abzustellen, die im Zeitraum vor dem Inkrafttreten des SGB II zur Anwendung gekommen war. Insoweit sei auch das vom LSG für seine Auffassung angeführte Argument nicht hilfreich, aus den speziellen Zielsetzungen der VwV-Ersatzwohnraumförderung ergebe sich, dass die dort zu Grunde gelegten Wohnflächenhöchstgrenzen nicht maßstäblich für die Ermittlung üblicher Wohnflächen im unteren Segment seien können. Denn der Umstand, dass sich die aktuellen Verwaltungsvorschriften möglicherweise nicht hinreichend daran orientierten, was eine Wohnung mit bescheidenem Zuschnitt sei, werde in Folge des Rückgriffs auf die Werte nach § 10 WoFG ohnehin bewusst in Kauf genommen. Insoweit komme dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit eine überragende Bedeutung zu. Eine Heranziehung anderweitiger Verwaltungsregelungen zur Bestimmung der Wohnflächen erscheine nur dann vertretbar, wenn aktuelle Verwaltungsvorschriften zu § 10 WoFG nicht existierten.

17Der Beklagte ist dem entgegengetreten: Es sei vom BSG schon nicht begründet worden, warum zur Bestimmung der in § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II geforderten Angemessenheit hinsichtlich der Wohnungsgröße gerade auf § 10 WoFG zurückgegriffen werde. Es stehe nicht fest, ob der mit der Angemessenheitsprüfung nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II verfolgte Zweck mit den Zwecken des WoFG nebst Ausführungsbestimmungen der Länder übereinstimme. Auf die vom 4. Senat des BSG herangezogene VwV-Ersatzwohnraumförderung könne, wie das LSG zu Recht ausgeführt habe, nicht zurückgegriffen werden, da deren Ziel die Beschleunigung des Freizugs von Abrissobjekten sei.

18Diese Begründung für die VwV-Ersatzwohnraumförderung zeigt jedoch, dass diese in Übereinstimmung mit dem 4. Senat gerade der Angemessenheitsprüfung nach dem bundesrechtlichen § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II zu Grunde gelegt werden muss und nicht die ältere VwV-SächsBelG. Denn die abstrakte Angemessenheit der Leistung für die Unterkunft kann nicht ohne Berücksichtigung des verfügbaren Wohnraums erfolgen (vgl - <Berlin> RdNr 27 f; - <Freiburg>). Wenn die VwV-Ersatzwohnraumförderung nach ihren vom LSG festgestellten weiteren Zwecken der Beschleunigung des Freizugs von Abrissobjekten durch das Anbieten adäquater Wohnungen für Mieterhaushalte, die im Zuge des Stadtumbaus ihre bisherige Wohnung aufgeben müssen, dienen soll und die Wohnflächen gegenüber der bisherigen VwV-SächsBelG erhöht werden, so lässt dies nur den Schluss zu, dass es eine entsprechende Anzahl kleinerer Wohnungen für Mieterhaushalte im sozialen Wohnungsbau nicht gibt. Dann stehen solche Wohnungen aber auch für die Bezieher von SGB II-Leistungen nicht zur Verfügung.

19Dass zur Bestimmung der Angemessenheit nach § 22 Abs 1 SGB II auf die Wohnungsgrößen nach den Vorschriften des sozialen Wohnungsbaus abgestellt wird, folgt aus § 1 Abs 2 WoFG ("Gesetz über die soziale Wohnraumförderung"), der lautet: "Zielgruppe der sozialen Wohnraumförderung sind Haushalte, die sich am Markt nicht angemessen mit Wohnraum versorgen können und auf Unterstützung angewiesen sind. Unter diesen Voraussetzungen unterstützt die Förderung von Mietwohnraum insbesondere Haushalte mit geringem Einkommen …" Zu diesen Haushalten mit geringem Einkommen, die Schwierigkeiten haben sich am Markt mit angemessenem Wohnraum zu versorgen, gehören die Haushalte, deren Mitglieder Leistungen nach dem SGB II beziehen, weil sie hinsichtlich ihrer möglichen Aufwendungen für die Kosten der Unterkunft entsprechend begrenzt sind.

20Der Rechtsstreit ist an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 SGG), weil schon die für eine Entscheidung über die abstrakt angemessene Leistung für die Unterkunft aufgrund der Wohnungsgröße für Alleinstehende im Freistaat Sachsen notwendigen weiteren Feststellungen, zB zur abstrakt angemessenen Nettokaltmiete, dem Urteil des LSG nicht zu entnehmen sind.

21Eine Entscheidung über die Leistung für die Heizung ist ebenfalls nicht möglich, weil diese zwar getrennt von der Leistung für die Unterkunft nach eigenen Regeln zu ermitteln ist, aber keinen eigenen von der Leistung für die Unterkunft zulässigerweise abtrennbaren Streitgegenstand beinhaltet ( - BSGE 104, 41 = SozR 4-4200 § 22 Nr 23).

22Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2011:260511UB14AS8609R0

Fundstelle(n):
DAAAD-91473