BVerwG Beschluss v. - 6 A 1/11

Rechtsweg; sachliche Zuständigkeit; Beweiserhebung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses

Gesetze: § 40 Abs 1 S 1 VwGO, § 50 Abs 1 Nr 1 VwGO, Art 35 Abs 1 GG

Gründe

I.

1Dem vom Niedersächsischen Landtag eingesetzten 21. Parlamentarischen Untersuchungsausschuss obliegt die Aufgabe, die Vorgänge um die Schachtanlage Asse II, in der unter anderem radioaktive Abfallstoffe gelagert sind, aufzuklären. Der Ausschuss beschloss, Beweis zu erheben durch die Beiziehung von Akten, Schriftstücken und elektronisch gespeicherten Dokumenten unter anderem des Bundeskanzleramtes. Nachdem das Bundeskanzleramt Ablichtungen von Schriftgut übersandt hatte, entstand Streit über die Frage, ob dadurch dem Begehren des Untersuchungsausschusses vollständig Rechnung getragen worden sei. Mit der Klage begehrt der Kläger die Verurteilung der Beklagten, alle Akten und Urkunden vorzulegen sowie alle elektronischen Dokumente zu übermitteln, die im Zusammenhang mit dem Untersuchungsauftrag stehen und beim Bundeskanzleramt noch vorhanden sind.

2Die Beklagte ist unter anderem der Auffassung, die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts sei nicht gegeben, da das dem Rechtsstreit zugrunde liegende Rechtsverhältnis maßgeblich durch Verfassungsrecht geprägt sei und es sich deshalb um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit handele.

II.

3Aufgrund der Rüge der Beklagten entscheidet der Senat nach § 83 Satz 1 VwGO und § 17a Abs. 3 GVG vorab über den Rechtsweg und die sachliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts.

4Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten und die sachliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts sind gegeben. Es handelt sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art zwischen dem Bund und einem Land (§ 40 Abs. 1 Satz 1, § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

51. Die für die sachliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts zur Entscheidung der Streitsache zwischen einem Land und dem Bund vorausgesetzte Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs liegt vor. Insbesondere handelt es sich um eine nichtverfassungsrechtliche Streitigkeit im Sinne von § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

6Für die Abgrenzung eines verfassungsrechtlichen Bund-Länder-Streits, über den das Bundesverfassungsgericht zu befinden hat (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, § 13 Nr. 7 BVerfGG), von einem nichtverfassungsrechtlichen Streit zwischen dem Bund und einem Land ist maßgebend, inwieweit das streitige Rechtsverhältnis durch Verfassungsrecht oder durch einfaches Recht geprägt ist (vgl. BVerwG 2 VR 1.99 - BVerwGE 109, 258 <259 f.> und BVerwG 7 A 2.07 - Buchholz 451.171 § 9a AtG Nr. 2 Rn. 10; jeweils m.w.N.). Die Prägung ist nur dann verfassungsrechtlich, wenn die Verletzung oder unmittelbare Gefährdung einer verfassungsrechtlichen Rechtsposition innerhalb eines Bund und Land umspannenden materiellen Verfassungsrechtsverhältnisses geltend gemacht wird (vgl. Beschluss vom a.a.O. S. 260; - BVerfGE 109, 1 <5> und - BVerfGE 116, 271 <298>; jeweils m.w.N.). Für die Bestimmung der Rechtsnatur des Streits ist maßgebend, ob der Klageanspruch in dem verfassungsrechtlichen Grundverhältnis zwischen Bund und Ländern oder ob er in einem engeren Rechtsverhältnis wurzelt, das durch Normen des einfachen Rechts geprägt ist (vgl. BVerwG 3 A 2.05 - BVerwGE 129, 99 Rn. 15; a.a.O. S. 6; jeweils m.w.N.). Auf die Vorstellung des Klägers von der Rechtsnatur des Streitverhältnisses kommt es nicht an (vgl. - BVerfGE 62, 295 <313>). Eine entscheidende Prägung durch das Verfassungsrecht ist regelmäßig anzunehmen, wenn um föderale Ansprüche, Verbindlichkeiten oder Zuständigkeiten gestritten wird, welche auf Normen des Grundgesetzes gestützt werden, die gerade das verfassungsrechtlich geordnete Verhältnis zwischen Bund und Ländern betreffen (vgl. Urteil vom a.a.O. Rn. 10 m.w.N.). Ein Bund-Länder-Streit erfährt nicht schon dadurch eine entscheidende Prägung durch Verfassungsrecht, dass Bund und Land über die Auslegung und/oder Anwendung einer Vorschrift des Grundgesetzes unterschiedlicher Auffassung oder dass die Beteiligten Subjekte des Verfassungsrechts sind (vgl. Beschluss vom a.a.O. S. 260 m.w.N.). Erweist sich das für den geltend gemachten Anspruch maßgebliche Rechtsverhältnis als nichtverfassungsrechtlich, behält es seinen einfachrechtlichen Charakter selbst dann, wenn der Ausgang des Streits wesentlich oder gar ausschließlich von der Auslegung und/oder Anwendung einer Verfassungsnorm abhängt (vgl. BVerwG 9 A 16.01 - BVerwGE 116, 92 <93> und Beschluss vom a.a.O. S. 260; jeweils m.w.N.). Gemessen an den vorstehenden Grundsätzen handelt es sich hier um eine nichtverfassungsrechtliche Streitigkeit. Der geltend gemachte Anspruch wurzelt nicht im verfassungsrechtlichen Grundverhältnis zwischen Bund und Ländern, sondern im einfachen öffentlichen Recht.

7Die erstrebte Vorlage bzw. Übermittlung von Akten, Unterlagen und elektronischen Dokumenten durch das Bundeskanzleramt soll Aufschluss über die Vorgänge im Zusammenhang mit der Schachtanlage Asse II geben. Sie dient der Erhebung von Beweisen durch den 21. Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Niedersächsischen Landtages. Begehrt ein Untersuchungsausschuss eines Landesparlaments gegenüber einer Bundesbehörde zum Zwecke der Beweiserhebung, dass ihm bestimmte Materialien zugänglich gemacht werden, kann er sich auf den allgemeinen Anspruch auf Gewährung von Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 GG stützen (vgl. Beschluss vom a.a.O. S. 268; Glauben, in: ders./Brocker, Das Recht der Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern, 2. Aufl. 2011, § 17 Rn. 13 <S. 246 f.>). Die Untersuchungsausschüsse haben insoweit die Stellung von Behörden im Sinne von Art. 35 Abs. 1 GG (vgl. Beschluss vom a.a.O. S. 268 und BVerwG 7 C 85.78 - Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 183 S. 68; - NVwZ 1994, 54 <55>). Zwar wurzelt das Begehren auf Gewährung von Amtshilfe (ebenso wie das Beweiserhebungsrecht) in der Verfassung. Die Beweiserhebung als solche berührt hingegen nicht das verfassungsrechtliche Grundverhältnis zwischen Bund und Ländern. Sie bestimmt sich nach den Regelungen des einfachen Rechts.

8Die Beistandspflicht des Art. 35 Abs. 1 GG stellt sich als notwendige Folge der Gewaltenteilung und der Ausübung der Staatsgewalt durch verschiedene Behörden dar und will auf dem Gebiet der Rechts- und Amtshilfe die Einheit der in Bundes- und Landesgewalt geteilten Staatsgewalt herstellen (vgl. - BVerfGE 31, 43 <46>). Darin erschöpft sich die Bedeutung des Art. 35 GG (vgl. BVerwG 6 C 99.67 - BVerwGE 38, 336 <340>). Art. 35 GG sagt nichts über den Umfang der Verpflichtung zur Amtshilfe aus, insbesondere nichts darüber, inwieweit aus einfachem Recht oder dem Grundgesetz Schranken der Verpflichtung zum gegenseitigen Beistand herzuleiten sind (vgl. BVerwG 2 C 15.74 - BVerwGE 50, 301 <310> und vom a.a.O. S. 340). Art. 35 GG erweist sich deshalb als eine auf das Grundsätzliche beschränkte Bestimmung, die im besonderen Maß der Ausfüllung durch das einfache Recht bedarf (vgl. Erbguth, in: Sachs <Hrsg.>, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 35 Rn. 18). Eine Konkretisierung erfährt Art. 35 Abs. 1 GG insbesondere durch die Regelungen der Amtshilfe in §§ 4 bis 8 VwVfG. Diese Bestimmungen finden hier entgegen der Auffassung der Beklagten Anwendung. Zwischen den Beteiligten ist der Umfang der von der Beklagten zu leistenden Amtshilfe umstritten. Ersucht eine Landesbehörde eine Behörde des Bundes um Amtshilfe, richten sich die Zulässigkeit und die Grenzen der Amtshilfeleistung nach den für die ersuchte Behörde maßgeblichen Regelungen (vgl. BVerwG 3 C 74.84 - Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 218 S. 61). Als Bundesbehörde unterliegt das Bundeskanzleramt dem Anwendungsbereich des Verwaltungsverfahrensgesetzes. Das hier streitige Rechtsverhältnis erfährt seine Prägung durch das die verfassungsrechtliche Pflicht zur Gewährung von Amtshilfe konkretisierende einfache Recht. Dies entspricht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der es sich um eine nichtverfassungsrechtliche Streitigkeit handelt, wenn umstritten ist, ob eine Bundesbehörde verpflichtet ist, dem Ersuchen eines Untersuchungsausschusses eines Landesparlaments, ihm zum Zwecke der Beweiserhebung im Wege der Amtshilfe Unterlagen zugänglich zu machen, Rechnung zu tragen hat (vgl. Beschluss vom a.a.O. S. 268; zustimmend Glauben, a.a.O., § 28 Rn. 17 <S. 397>). Die Beweiserhebung durch den insoweit als Behörde handelnden Untersuchungsausschuss stellt sich als materielle Verwaltungstätigkeit dar. Mangels einer anderweitigen ausdrücklichen Zuweisung im Sinne von § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO ist der Verwaltungsrechtsweg gegeben.

9Dies gilt auch in den Fällen, in denen das Amtshilfeersuchen unter Hinweis auf Verfassungsrecht ganz oder teilweise abgelehnt wird. Eine Streitigkeit erfährt - wie dargelegt - nicht schon dadurch eine verfassungsrechtliche Prägung, dass die Auslegung und/oder Anwendung von Verfassungsrecht streitig oder für den Ausgang des Rechtsstreits gar entscheidend ist. Deshalb wird das hier streitige Rechtsverhältnis nicht dadurch von Verfassungsrecht geprägt, dass die Beklagte dem Begehren des Klägers auch entgegenhält, dieses greife in verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigender Weise in ihren Kompetenzbereich und den Bereich exekutiver Eigenverantwortung ein.

10Entgegen der Auffassung der Beklagten kann für die Annahme, es handele sich hier um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit, nicht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Anspruch genommen werden, nach der es sich bei einem im Rahmen einer verfassungsgerichtlichen Organklage ausgetragenen Streit über grundgesetzlich begründete Ausnahmen von der Pflicht der Bundesregierung zur Vorlage von Akten an einen Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages um eine Auseinandersetzung über eine genuin verfassungsrechtliche Frage handelt, für die der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG und § 13 Nr. 5 BVerfGG eröffnet ist (vgl. - BVerfGE 124, 78 <105>). Diese Rechtsprechung bezieht sich auf die Zulässigkeit einer verfassungsgerichtlichen Organklage, die unter anderem zu bejahen ist, wenn es um die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans geht. Davon zu unterscheiden ist die hier in Rede stehende Frage, ob der Streit zwischen dem Bund und einem Land die aufgezeigten spezifischen Voraussetzungen einer das föderale Grundverhältnis zwischen Bund und Land berührenden verfassungsrechtlichen Streitigkeit erfüllt.

112. Das Bundesverwaltungsgericht ist sachlich zuständig und hat im ersten und letzten Rechtszug über den Antrag zu befinden (§ 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

12Die Vorschrift des § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist eng auszulegen und soll von den allgemein geltenden Zuständigkeitsregeln nur solche Streitigkeiten ausnehmen, die in ihrer Eigenart gerade durch die Beziehung zwischen dem Bund und einem Land geprägt sind und sich ihrem Gegenstand nach einem Vergleich mit landläufigen Verwaltungsstreitigkeiten entziehen. Dies trifft jedenfalls für Streitigkeiten zu, bei denen über die Abgrenzung der beiderseitigen Hoheitsbefugnisse und der Rechtsstellung zueinander zu entscheiden ist (vgl. Beschluss vom a.a.O. S. 261 m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Die Beteiligten streiten darüber, ob und inwieweit die Beklagte verpflichtet ist, dem Beweisbeschluss uneingeschränkt nachzukommen. Diese Frage betrifft die Abgrenzung der beiderseitigen Hoheitsbefugnisse im Rahmen einer grundsätzlich zu leistenden Amtshilfe und begründet die sachliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts, ohne dem Verfahren seinen verwaltungsrechtlichen Charakter zu nehmen.

Fundstelle(n):
CAAAD-91323