Betriebsrente - Auslegung - versicherungsmathematischer Abschlag
Gesetze: § 1 BetrAVG, § 307 Abs 1 BGB, § 307 Abs 2 BGB, § 310 Abs 3 Nr 3 BGB
Instanzenzug: ArbG Mönchengladbach Az: 4 Ca 2497/08 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Düsseldorf Az: 4 Sa 102/09 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, wegen der vorgezogenen Inanspruchnahme der Betriebsrente durch den Kläger einen versicherungsmathematischen Abschlag in Höhe von 0,5 % pro Vorgriffsmonat vorzunehmen.
Der Kläger erhält von der Beklagten eine betriebliche Altersversorgung nach den „Richtlinien für die Betriebliche Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung der Firma B, Zweigniederlassung R vom “ (künftig: BAV-Richtlinien 1986). Diese lauten auszugsweise:
3Der Kläger nimmt eine vorgezogene Altersrente in Anspruch, wobei der Vorgriffszeitraum sich auf 44 Monate beläuft. Für jeden dieser Monate hat die Beklagte einen Abschlag von 0,5 % vorgenommen. Diesen hat sie auf der Grundlage der Barwertmethode errechnet.
4Der Kläger hat die Ansicht vertreten, der Abschlag könne nicht auf Abschnitt V Buchst. b der BAV-Richtlinien 1986 gestützt werden. Er werde durch die Regelung unangemessen benachteiligt. Außerdem sei die Regelung unklar und könne deshalb nicht angewendet werden.
Der Kläger hat zuletzt sinngemäß beantragt,
6Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat mit einem Urteil, das keinen Tatbestand enthält, die Berufung zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter. Die Beklagte begehrt die Zurückweisung der Revision.
Gründe
8Die Revision ist unbegründet. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts ist nicht bereits aus prozessualen Gründen ganz oder teilweise aufzuheben. Dem Berufungsurteil und den von diesem in Bezug genommenen Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils lassen sich - gerade noch - hinreichende Tatsachenfeststellungen entnehmen, aus denen sich ergibt, dass das Landesarbeitsgericht zu Recht die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts zurückgewiesen hat. Die Beklagte ist berechtigt, einen Abzug von 0,5 % für jeden Monat der vorgezogenen Inanspruchnahme der Betriebsrente des Klägers vorzunehmen.
9I. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts ist nicht deswegen aufzuheben, weil es keinen Tatbestand enthält. Zwar hat das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerhaft auf die Darstellung des Tatbestands verzichtet. Aus seinen sonstigen Ausführungen und der Bezugnahme auf die Erwägungen des Arbeitsgerichts ergeben sich jedoch hinreichende tatsächliche Feststellungen, die dem Senat eine Sachentscheidung ermöglichen und damit eine Zurückverweisung ausnahmsweise erübrigen.
101. Wie sich aus § 69 Abs. 2 und Abs. 4 ArbGG iVm. § 313a ZPO ergibt, hat das Berufungsurteil einen Tatbestand zu enthalten. Etwas anderes gilt aufgrund des danach entsprechend anzuwendenden § 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO lediglich dann, wenn ein Rechtsmittel unzweifelhaft nicht gegeben ist. Das ist nur denkbar, wenn - anders als hier - die Parteien auf Rechtsmittel verzichtet haben. In allen anderen Fällen muss das Berufungsurteil einen den Anforderungen des § 69 Abs. 3 ArbGG genügenden Tatbestand enthalten. Das gilt auch, wenn - wie hier - die Statthaftigkeit der Revision von der Zulassung durch das Revisionsgericht auf eine Nichtzulassungsbeschwerde abhängt. Enthält das Urteil entgegen diesen Regeln keinen Tatbestand, ist es von Amts wegen aufzuheben und der Rechtsstreit ist an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn der Zweck des Revisionsverfahrens, dem Revisionsgericht die Nachprüfung des Berufungsurteils, insbesondere der Rechtsanwendung auf den festgestellten Sachverhalt, zu ermöglichen, im Einzelfall deswegen erreicht werden kann, weil der Sach- und Streitstand sich aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils in einem für die Beurteilung der aufgeworfenen Rechtsfrage ausreichenden Umfang ergibt (vgl. zum Ganzen: - Rn. 15 f., AP KSchG 1969 § 15 Ersatzmitglied Nr. 2 = EzA ArbGG 1979 § 69 Nr. 5).
112. Nach diesen Grundsätzen ist hier eine Zurückverweisung entbehrlich. Zwar enthält das landesarbeitsgerichtliche Urteil rechtsfehlerhaft keinen Tatbestand. Aufgrund der Sachverhaltsangaben in den Entscheidungsgründen und der Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils ergeben sich jedoch hinreichende tatsächliche Feststellungen, die eine revisionsgerichtliche Beurteilung der aufgeworfenen Rechtsfragen ermöglichen.
12II. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen. Die Beklagte ist nach Abschnitt V Buchst. b der BAV-Richtlinien 1986 berechtigt, die Betriebsrente des Klägers um 0,5 % pro Monat der vorgezogenen Inanspruchnahme zu kürzen.
131. Aus dem Berufungsurteil einschließlich seiner Verweisung auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit, dass die BAV-Richtlinien 1986 für die Versorgungsansprüche des Klägers maßgeblich sind und dass die Beklagte auf die vorgezogene Inanspruchnahme der Betriebsrente mit einem nach der Barwertmethode ermittelten versicherungsmathematischen Abschlag von 0,5 % pro Vorgriffsmonat reagiert hat. Verfahrensrügen gegen diese Feststellungen sind nicht erhoben.
142. Aufgrund dieses Sachverhaltes steht fest, dass die Beklagte zu den vorgenommenen Abzügen berechtigt ist. Dies ergibt die Auslegung von Abschnitt V Buchst. b der BAV-Richtlinien 1986. Diese Regelung ist wirksam.
15a) Bei den BAV-Richtlinien 1986 handelt es sich - wovon beide Parteien ausgehen - um Allgemeine Geschäftsbedingungen. Allgemeine Geschäftsbedingungen sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden, wobei die Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen sind. Dabei sind die den Vertragsschluss begleitenden Umstände gemäß § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB grundsätzlich nicht bei der Auslegung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, sondern bei der Prüfung der unangemessenen Benachteiligung nach § 307 Abs. 1 und Abs. 2 BGB zu berücksichtigen. Zur Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen können allerdings solche Umstände herangezogen werden, die beim Vertragsschluss den beteiligten Kreisen allgemein bekannt sind und die für einen verständigen und redlichen Vertragspartner Anhaltspunkte für eine bestimmte Auslegung des Vertrages geben (vgl. hierzu - Rn. 50, 51, AP ArbGG 1979 § 66 Nr. 37 = EzA BGB 2002 § 310 Nr. 9). Zweifel bei der Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen gehen nach § 305c Abs. 2 BGB zu Lasten des Verwenders.
16Allgemeine Geschäftsbedingungen unterliegen als typische Erklärungen der uneingeschränkten Auslegung durch das Revisionsgericht (vgl. - Rn. 32, AP ArbGG 1979 § 66 Nr. 37 = EzA BGB 2002 § 310 Nr. 9).
17b) Unter Zugrundelegung allein der BAV-Richtlinien 1986 ist die Beklagte berechtigt, bei der vorgezogenen Inanspruchnahme der Betriebsrente einen pauschalierten Abschlag von 0,5 % pro Vorgriffsmonat vorzunehmen.
18aa) Wie sich aus Abschnitt V Buchst. b dieser Richtlinien ergibt, wird bei der Zahlung der Altersrente vor dem normalen Ruhealter der Betrag der Altersrente auf der Grundlage der tatsächlichen pensionsfähigen Dienstzeit mit einem „versicherungsmathematischen Abschlag für die längere Laufzeit der Rente“ berechnet. Diese Regelung trägt dem Umstand Rechnung, dass die vorgezogene Inanspruchnahme der Betriebsrente zu einer Verschiebung des in der Versorgungsordnung festgelegten Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung führt, da die erdiente Betriebsrente mit höherer Wahrscheinlichkeit, früher und länger als mit der Versorgungszusage versprochen in Anspruch genommen wird. Dies rechtfertigt es, einen versicherungsmathematischen Abschlag vorzusehen.
19Da die BAV-Richtlinien den Abschlag für die vorgezogene Inanspruchnahme der Betriebsrente der Höhe nach nicht näher bezeichnen, sie aber bestimmen, dass er nach versicherungsmathematischen Grundsätzen erfolgen soll, scheidet ein „untechnischer“ versicherungsmathematischer Abschlag aus. Einen solchen hat der Senat bei der vorgezogenen Inanspruchnahme der Betriebsrente nach vorzeitigem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis für angemessen erachtet, wenn die Versorgungsordnung für diesen Fall keine Regelung enthält. Bei einem „untechnischen“ versicherungsmathematischen Abschlag ist die Zeit zwischen dem Beginn der Betriebszugehörigkeit und der vorgezogenen Inanspruchnahme der Betriebsrente in Bezug zu setzen zu der Zeit vom Beginn der Betriebszugehörigkeit bis zum Erreichen der festen Altersgrenze und die Betriebsrente ist entsprechend anteilig zu kürzen (vgl. - Rn. 24, EzA BetrAVG § 2 Nr. 31). Diese Methode knüpft allerdings nicht an versicherungsmathematische Kriterien an und ist deshalb nicht als „versicherungsmathematischer Abschlag“ zu verstehen, der nach den BAV-Richtlinien vorzunehmen ist.
20Da die BAV-Richtlinien viele Arbeitnehmer erfassen, ist davon auszugehen, dass nicht in jedem Versorgungsfall eine exakte versicherungsmathematische Berechnung vorzunehmen, sondern ein pauschalierter Abschlag gewollt ist. Dafür sprechen schon Gründe der Praktikabilität. Der Höhe nach maßgeblich ist insoweit das, was in der betrieblichen Altersversorgung allgemein üblich ist und als angemessen akzeptiert wird (vgl. hierzu - Rn. 22, NZA 2011, 206). Das ist ein Abschlag von 0,5 % pro Monat der vorgezogenen Inanspruchnahme der Betriebsrente. Eine Kürzung in diesem Umfang hat nicht nur in der ständigen Rechtsprechung des Senats Billigung gefunden (vgl. zB - zu II 1 b bb der Gründe, BAGE 101, 163). Sie entspricht auch der Handhabung durch den Pensionssicherungsverein als Träger der gesetzlichen Insolvenzsicherung (vgl. Merkblatt 110/M 3 Stand 1.05).
21bb) In dieser Auslegung hält Abschnitt V Buchst. b der BAV-Richtlinien 1986 einer Transparenzkontrolle (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) stand. Dies folgt aus den im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten (§ 310 Abs. 4 Satz 2 BGB). Zu diesen Besonderheiten gehören auch die Besonderheiten der betrieblichen Altersversorgung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber wegen der ungewissen Entwicklung der Lebenserwartung ein Interesse daran hat, die künftige Entwicklung mit einer entsprechenden Klausel vertraglich in Bezug zu nehmen. Der Arbeitgeber geht mit einer Versorgungszusage eine langfristige, zumeist jahrzehntelange Bindung ein. Mit der Festlegung der genauen Höhe des versicherungsmathematischen Abschlags wäre eine Inhaltskontrolle hierüber eröffnet; dahingestellt bleiben kann, ob diese nach § 307 Abs. 1 BGB zu erfolgen hätte oder ob allgemeine Rechtsgrundsätze heranzuziehen wären. Jedenfalls bestünde damit die Möglichkeit, dass der konkret festgesetzte - zunächst angemessene - versicherungsmathematische Abschlag zu einem künftigen Zeitpunkt wegen geänderter demografischer Verhältnisse unwirksam würde. Dann wäre möglicherweise die Versorgungsordnung im Wege ergänzender Auslegung an die geänderten Verhältnisse anzupassen. Auch durch die konkrete Benennung der Höhe eines versicherungsmathematischen Abschlags in der Versorgungsordnung wäre keine endgültige Klarheit geschaffen (vgl. hierzu bereits - Rn. 28, NZA 2011, 206).
22cc) Diese Grundsätze kommen unabhängig davon zur Anwendung, ob der Kläger eine vorgezogene Altersrente nach Abschnitt IV Buchst. b BAV-Richtlinien 1986 in Anspruch genommen hat, das Arbeitsverhältnis also bis zum Versorgungsfall bestanden hat oder ob das Arbeitsverhältnis iSv. Abschnitt VI Buchst. a BAV-Richtlinien 1986 vorzeitig vor dem Eintritt des Versorgungsfalls beendet wurde. Im erstgenannten Fall ist Abschnitt V Buchst. b der BAV-Richtlinien 1986 ohne Weiteres anwendbar. Für den letztgenannten Fall fehlt es in den BAV-Richtlinien 1986 an einer ausdrücklichen Regelung in der Versorgungsordnung. Das in der Versorgungsordnung festgelegte Verhältnis von Leistung und Gegenleistung verschiebt sich auch in den Fällen des vorzeitigen Ausscheidens aus dem Arbeitsverhältnis bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Betriebsrente dadurch, dass die erdiente Betriebsrente mit höherer Wahrscheinlichkeit, früher und länger als mit der Versorgungszusage versprochen in Anspruch genommen wird. In derartigen Fällen ist, wenn diese Verschiebung für den Fall des unmittelbaren Eintritts in den Ruhestand in der Versorgungsordnung eine Regelung gefunden hat, diese nach den allgemeinen Grundsätzen des Betriebsrentenrechts ebenfalls heranzuziehen (vgl. - Rn. 18, NZA 2011, 206). Dies führt zur Anwendung von Abschnitt V Buchst. b BAV-Richtlinien 1986 auch bei der vorgezogenen Inanspruchnahme der Betriebsrente nach vorzeitigem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis.
23c) Allerdings könnten die BAV-Richtlinien 1986 dann anders auszulegen sein, wenn im Betrieb der Beklagten allgemein bekannt gewesen sein sollte, dass jeweils im Einzelfall eine konkrete Berechnung des versicherungsmathematischen Abschlags aufgrund der Barwertmethode, die bei der Berechnung der Betriebsrente des Klägers angewendet wurde, erfolgen sollte. Dieser Umstand wäre bei der Auslegung zu berücksichtigen mit der Folge, dass der versicherungsmathematische Abschlag nicht pauschal mit 0,5 % pro Vorgriffsmonat vorgenommen werden könnte, sondern in jedem Einzelfall berechnet werden müsste. Das führte im Streitfall jedoch nicht zu einem anderen Ergebnis. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts wäre auch nach dieser Berechnung ein Abschlag von 0,5 % vorzunehmen.
24Die Barwertmethode ist rechtlich nicht zu beanstanden. Dies ergibt sich schon daraus, dass sie vom Gesetzgeber zur Ermittlung des Übertragungswertes bei einer nach § 4 Abs. 1 bis Abs. 3 BetrAVG vorzunehmenden Übertragung der Versorgungsanwartschaften aus einer unmittelbar über den Arbeitgeber oder von ihm über eine Unterstützungskasse durchgeführten betrieblichen Altersversorgung in § 4 Abs. 5 BetrAVG ausdrücklich vorgesehen ist. Der Gesetzgeber hat diese Methode der Wertermittlung daher inhaltlich gebilligt.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
BB 2011 S. 2036 Nr. 33
CAAAD-88278