BSG Beschluss v. - B 5 R 440/09 B

Nichtzulassungsbeschwerde - sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - unterbliebene Ladung zur mündlichen Verhandlung - rechtliches Gehör

Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 62 SGG, § 202 SGG, § 547 Nr 4 ZPO, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: Az: S 26 R 318/06 Urteilvorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: L 3 R 30/09 Urteil

Gründe

1I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gewähren muss.

2Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat am einen Termin zur mündlichen Verhandlung durchgeführt, zu dem es den (unvertretenen) Kläger versehentlich nicht geladen hatte. Mit Urteil vom selben Tage hat es die klageabweisende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) vom bestätigt und die Berufung in Abwesenheit des Klägers zurückgewiesen. Gegen die Nichtzulassung der Revision hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt und Verfahrensfehler iS von § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geltend gemacht.

3II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf ordnungsgemäße Mitteilung des Termins zur mündlichen Verhandlung (§§ 153 Abs 1, 110 Abs 1 Satz 1, 63 Abs 1 Satz 2 SGG) und auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 Grundgesetz <GG>) verletzt. Darüber hinaus war er "in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten" (absoluter Revisionsgrund: § 202 SGG iVm § 547 Ziff 4 Zivilprozessordnung <ZPO>). Aufgrund dieser Verfahrensmängel ist das angefochtene Urteil gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

4Die Beschwerde ist zulässig. Der Kläger hat diese Verfahrensfehler ausreichend iS von § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet wenn er vorträgt, das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) verletzt, weil es über seine Berufung entschieden habe, ohne ihn zu dem anberaumten Verhandlungstermin am geladen zu haben.

5Die Beschwerde ist auch im Sinne der Zurückverweisung begründet. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) gewährleistet, dass die Beteiligten zum gerichtlichen Verfahren herangezogen werden und Gelegenheit erhalten, sich vor Erlass der Entscheidung zum Prozessstoff zu äußern (Bundesverfassungsgericht <BVerfG> Beschlüsse vom - 2 BvR 566/76 - BVerfGE 46, 185, 187; vom - 2 BvH 1/82 ua - BVerfGE 60, 175, 210; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Komm zum GG, Art 103 Abs 1 RdNr 66 ff; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 62 RdNr 2). Zu diesem Zweck bestimmt der Vorsitzende Zeit und Ort der mündlichen Verhandlung und teilt sie den Beteiligten (in der Regel zwei Wochen vorher) mit (§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG). Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt wird, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG). Gegen diese Grundsätze hat das LSG verstoßen, als es die Berufung am durch Urteil auf Grund mündlicher Verhandlung zurückwies, ohne den Kläger zuvor von diesem Termin benachrichtigt zu haben. Es ist auch nicht auszuschließen, dass das angefochtene Urteil auf dem gerügten Vorgehen des LSG beruht. Wegen des besonderen Rechtswerts der mündlichen Verhandlung lässt sich das Beruhenkönnen der Entscheidung auf der fehlenden Mündlichkeit in der Regel nicht verneinen (, BSGE 53, 83, 85 f = SozR 1500 § 124 Nr 7 S 15 und vom - B 9 V 6/01 R - SGb 2002, 382 sowie Beschluss vom - B 14 AS 41/09 B). Auch hier ist nicht ausgeschlossen, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung zu seinen Gunsten Ausführungen gemacht hätte und deswegen eine andere Entscheidung ergangen wäre. Das LSG hätte sich möglicherweise zu weiteren medizinischen Ermittlungen, etwa zu Rückfragen bei dem Sachverständigen Dr. O., veranlasst sehen können. Bei einem derartigen Verfahrensverlauf hätte es zu einer Verurteilung der Beklagten kommen können.

6In der Rechtsprechung des BSG ist zudem anerkannt, dass über § 202 SGG die absoluten Revisionsgründe, wie sie in der ZPO geregelt sind, auch in Verfahren vor der Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gelten, weil das SGG insoweit keine Vorschriften enthält und die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten die entsprechende Anwendung des § 547 ZPO nicht ausschließen. Unter den absoluten Revisionsgrund des § 547 Nr 4 ZPO fällt auch die unterbliebene Ladung, wenn deshalb weder der Beteiligte selbst noch sein etwaiger Bevollmächtigter an der mündlichen Verhandlung teilnehmen konnte (vgl 9a RV 55/83 - SozSich 1984, 289; vom - 5b RJ 48/85 - SozSich 1987, 156; vom - 11 RAr 81/92 - HV-Info 1993, 903; vom - 2 RU 45/92 - HV-Info 1993, 905; vom - 8 RKn 8/94 - HVBG-Info 1995, 820 und vom - 9 RV 17/96 - ZfS 1997, 206; vgl auch Bundesverwaltungsgericht <BVerwG>, - BVerwGE 66, 311).

7Auf diesem Verfahrensfehler beruht auch das angefochtene Urteil. Denn nach § 547 ZPO ist bei einem absoluten Revisionsgrund die Entscheidung als "stets auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen", dh die Ursächlichkeit der Gesetzesverletzung wird unwiderleglich vermutet.

8Nach § 160a Abs 5 SGG kann das erkennende Gericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

9Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2010:020310BB5R44009B0

Fundstelle(n):
YAAAD-87306