BFH Beschluss v. - III B 178/10

Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch vorzeitige Sachentscheidung

Gesetze: FGO § 90 Abs. 2, FGO § 96 Abs. 2, FGO § 119 Nr. 3, GG Art. 103 Abs. 1

Instanzenzug:

Gründe

1 I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) bezog für ihre Tochter Kindergeld. Da sie einen angeforderten Nachweis über das Bestehen eines Ausbildungsverhältnisses nicht vorlegte, hob die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) die Festsetzung mit Bescheid vom ab Dezember 2003 auf und forderte einen Betrag von 5.544 € zurück. Der Einspruch hatte keinen Erfolg. Die Familienkasse verwarf den Rechtsbehelf der Klägerin als unzulässig, weil diese die Einspruchsfrist versäumt habe. Im anschließenden Klageverfahren übersandte das Finanzgericht (FG) unter dem Datum des den Prozessbevollmächtigten der Klägerin einen Schriftsatz der Familienkasse vom . In dem Übermittlungsschreiben des FG wird darum gebeten, eine Gegenäußerung bis zum einzureichen.

2 Bereits am erließ das FG ein klageabweisendes Urteil, obwohl die angeforderte Stellungnahme der Klägerin nicht eingegangen war. Zuvor hatten die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Das FG war der Ansicht, die Klägerin habe die Frist zur Einlegung eines Einspruchs gegen den Aufhebungsbescheid versäumt.

3 Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin einen Verfahrensmangel geltend (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Zu dem Zeitpunkt, als sich ihr Prozessvertreter mit der angeforderten Stellungnahme befasst habe, sei das Urteil des FG längst gefällt gewesen.

4 II. Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Streitsache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6, § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 Nr. 3 FGO). Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO).

5 1. Die Klägerin hat den Verfahrensfehler ordnungsgemäß gerügt (§§ 115 Abs. 2 Nr. 3, 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Ausdrückliche Ausführungen dazu, was sie bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte und dass die Entscheidung bei Berücksichtigung dieses Vorbringens anders hätte ausfallen können, waren nicht erforderlich, da die angeforderte Stellungnahme nicht auf bestimmte Streitpunkte beschränkt war. In einem solchen Fall gilt die Kausalitätsvermutung des § 119 Nr. 3 FGO einschränkungslos (vgl. Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs —BFH— vom GrS 3/98, BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802; BFH-Beschlüsse vom V B 242/02, BFH/NV 2003, 940, und vom VIII B 116/03, BFH/NV 2005, 1108).

6 2. Die Gerichte müssen selbst gesetzte Äußerungsfristen beachten und mit der Entscheidung bis zum Ablauf der Äußerungsfrist warten, auch wenn sie die Sache für entscheidungsreif halten (vgl. Entscheidung des , juris, sowie , BFH/NV 2005, 376). Das Gericht verletzt demnach den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör, wenn es im schriftlichen Verfahren entscheidet, bevor eine von ihm gesetzte Frist zur Stellungnahme verstrichen ist (, BFH/NV 2002, 945; BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2003, 940, und in BFH/NV 2005, 1108). Ein solcher Sachverhalt liegt hier vor. Das FG hat der Klägerin eine Frist zur Äußerung bis zum eingeräumt, es hat jedoch noch vor Fristablauf ein Urteil erlassen.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2011 S. 1389 Nr. 8
MAAAD-86111