Keine Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheids bei einer erst nachträglich erkannten fehlerhaften Umsetzung einer Richtlinie
Gesetze: AO § 347 Abs. 1, AO § 172, AO § 355 Abs. 1, AO § 172, AEUV Art. 267
Instanzenzug:
Gründe
1 Die Beschwerde ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
2 1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen. Die von der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) aufgeworfenen Rechtsfragen zur Auslegung des Unionsrechts sind bereits geklärt.
3 a) Eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung kommt in Betracht, wenn Auslegungszweifel in Bezug auf das anzuwendende Unionsrecht vorhanden sind und im Revisionsverfahren voraussichtlich eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union einzuholen wäre (vgl. , BFH/NV 2008, 390).
4 b) Die Klägerin benennt in den Schriftsätzen zur Beschwerdebegründung vom und die folgenden —ihrer Ansicht nach auslegungsbedürftigen— Rechtsfragen.
5 aa) Sie hält das Unionsrecht hinsichtlich der Frage für auslegungsbedürftig, ob dem sog. Emmott-Urteil des EuGH (Urteil vom C-208/90, Emmott, Slg. 1991, I-4269) der Rechtsgrundsatz zu entnehmen sei, dass jemand seine durch das Unionsrecht eingeräumten Rechte nur geltend machen könne, wenn er in der Lage sei, sich von diesen in ausreichender Weise Kenntnis zu verschaffen und ob dies erfordere, dass die Einspruchsfrist (§§ 347 Abs. 1 Satz 1, 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung —AO—) bei einer fehlerhaften Umsetzung der Sechsten Richtlinie des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG durch den Gesetzgeber einer Anlaufhemmung unterliegen müsse, bis der Steuerpflichtige durch ein EuGH-Urteil Kenntnis vom Umsetzungsverstoß erlangen könne.
6 bb) Gestützt auf Ausführungen im (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2009, 60) hält sie es außerdem für unionsrechtlich klärungsbedürftig, ob bei einer nachträglich erkannten fehlerhaften Richtlinienumsetzung —wie in der bisherigen Rechtsprechung des BFH angenommen (vgl. Entscheidungen vom V R 67/05, BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; vom V R 45/06, BFH/NV 2008, 1889; vom I B 230/08, BFH/NV 2009, 1779)— unter Anwendung der sog. „Kühne und Heitz-Rechtsprechung” des , Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837) mit dem Unionsrecht vereinbar sei, dass ein bestandskräftiger und der Festsetzungsverjährung unterliegender Steuerbescheid nur geändert werden könne, wenn das deutsche Verfahrensrecht hierfür eine Korrekturvorschrift enthalte und ob ein unionsrechtlicher Änderungsanspruch stets verlange, dass der Steuerpflichtige zuvor erfolglos den Rechtsweg gegen die bestandskräftig gewordene Steuerfestsetzung bis zum Ende beschritten habe.
7 cc) Der EuGH müsse schließlich darüber befinden, ob die Regelung in § 172 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. d AO, der eine Änderung rechtswidriger bestandskräftiger Steuerbescheide nach § 130 AO ausschließe, den Vorgaben des unionsrechtlichen Effektivitätsprinzips zuwiderlaufe.
8 c) Die aufgeworfenen Auslegungsfragen sind jedoch geklärt. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat auf sein Urteil vom V R 57/09 (BFHE 230, 504, Deutsches Steuerrecht 2010, 2400; vgl. auch BFH-Entscheidungen vom X B 41/10, BFH/NV 2010, 1783, und vom XI R 41/08, BFH/NV 2010, 1).
9 2. Eine Zulassung der Revision zur Vermeidung einer drohenden „nachträglichen Divergenz” (vgl. z.B. , BFH/NV 2003, 291; Senatsbeschluss vom V B 34/08, BFH/NV 2009, 2011) kommt nicht in Betracht. Der Senat hat die von der Klägerin angeführten —bei Beschwerdeeinlegung noch anhängigen— Verfahren mittlerweile entschieden. Damit stimmen die tragenden Rechtssätze des angefochtenen Urteils des Finanzgerichts (FG) überein.
10 3. Die Beschwerde ist aufgrund eines Darlegungsmangels (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) unzulässig, soweit die Klägerin geltend macht, dem FG sei ein Verfahrensfehler gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO unterlaufen, weil es den „(klaren) Inhalt der Akten” nicht beachtet habe. Die Klägerin ist der Auffassung, das FG habe seine verfahrensrechtliche Pflicht gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 erster Halbsatz FGO nicht beachtet, wonach es nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden habe. § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verpflichtet das FG zwar, den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen (Senatsbeschluss vom V B 6/10, BFH/NV 2010, 1841). Die Ausführungen in der Beschwerdebegründung genügen jedoch den Darlegungsanforderungen für diesen Verfahrensfehler nicht (vgl. hierzu den Senatsbeschluss in BFH/NV 2010, 1841), da die Klägerin nur Gründe vorbringt, warum das FG wegen eines —angeblich— nicht beschiedenen Einspruchs nicht von der Bestandskraft des Umsatzsteuerbescheids für das Streitjahr 1991 habe ausgehen dürfen. Die Beschwerdebegründung enthält nicht die erforderlichen genauen Angaben, aus welchen Schriftstücken und Seitenzahlen in den Akten sich die wesentlichen Tatumstände (hier: des nicht beschiedenen Einspruchs) ergeben, die das FG nicht berücksichtigt haben soll.
Fundstelle(n):
BFH/NV 2011 S. 742 Nr. 5
XAAAD-74760