(Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Verfahrensfehler - Verletzung der Anhörungspflicht - erstmals im Widerspruchsbescheid angeführte innere Tatsache bzgl grober Fahrlässigkeit gem § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10 - Heilung - Nachholung einer fehlenden Anhörung im Klageverfahren - gesondertes Anhörungsschreiben - freigestellte Aussetzung des Verfahrens gem § 114 SGG - Setzung einer angemessenen Frist - Kenntnisnahme des geäußerten Vorbringens - Mitteilung des Überprüfungsergebnisses)
Leitsatz
Die Nachholung der fehlenden Anhörung während des Gerichtsverfahrens setzt voraus, dass die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zur Äußerung einräumt und danach zu erkennen gibt, ob sie nach Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält (Bestätigung von = SozR 3-1300 § 24 Nr 22; B 7a AL 64/05 R).
Gesetze: § 24 Abs 1 SGB 10, § 41 Abs 1 Nr 3 SGB 10, § 41 Abs 2 SGB 10, § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10, § 48 SGB 10, § 114 Abs 2 S 2 SGG
Instanzenzug: SG Schleswig Az: S 2 AS 812/05 Urteilvorgehend Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht Az: L 11 AS 8/08 Urteil
Tatbestand
1Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, die Bewilligung von Alg II für die Zeit vom bis zum aufzuheben und die Erstattung von 2525 Euro zu verlangen.
2Der Kläger beantragte am Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und gab dabei an, er beziehe bis zum Alg. Am teilte der Kläger mit, dass er seit dem Krankengeld beziehe. Gleichwohl gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom für den Zeitraum vom 1.3. bis zum Alg II in Höhe von 505 Euro monatlich.
3Die Beklagte hob den Bewilligungsbescheid mit Bescheid vom unter Hinweis auf § 48 SGB X wegen des Bezugs von Krankengeld auf. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch mit der Begründung ein, er habe den Bezug von Krankengeld mitgeteilt. Den Widerspruch wies die Beklagte mit der Begründung zurück, der Bewilligungsbescheid sei gemäß § 45 SGB X zurückzunehmen. Der Kläger könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen. Er habe die Rechtswidrigkeit des Bescheids infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt, denn er habe der dem Bescheid beigefügten Berechnung entnehmen können, dass keinerlei Einkommen angerechnet worden sei (Widerspruchsbescheid vom ).
4Das SG hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben (Urteil vom ). Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom ). Es hat zur Begründung ausgeführt, zwar sei der Bescheid vom verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, denn der Kläger sei vor dem Erlass des Bescheides nicht angehört worden. Dieser Verfahrensfehler sei im Widerspruchsverfahren nicht geheilt worden, denn der Kläger habe sich zu dem Vorwurf des grob fahrlässigen Verhaltens nicht äußern können. Der Verfahrensmangel sei jedoch im Klageverfahren durch die Stellungnahme des Klägers zu dem Vorwurf der groben Fahrlässigkeit geheilt. Zwar sei eine Heilung im Klageverfahren nach der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG (SozR 3-1300 § 24 Nr 22) ausgeschlossen, wenn die Behörde die Anhörungspflicht vorsätzlich, rechtsmissbräuchlich oder durch Organisationsverschulden verletzt. Diese einschränkende Auslegung werde zutreffend vom 2. Senat des BSG nicht geteilt (SozR 4-1300 § 41 Nr 1). Im Übrigen seien hier keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Beklagte ihre Anhörungspflicht vorsätzlich verletzt haben sollte. Allerdings sei bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz kein förmliches Verwaltungsverfahren durchgeführt worden. Zwar sei der 7a. Senat der Auffassung, es sei für die Heilung nicht ausreichend, dass der Betroffene - wie im Widerspruchsverfahren - auf Grund des Bescheides die Möglichkeit habe, Stellung zu nehmen ( B 7a AL 64/05 R). Es müsse danach gewährleistet sein, dass die beklagte Beteiligte zumindest formlos darüber befinde, ob sie bei ihrer Entscheidung verbleibe. Hingegen sei der Senat der Auffassung, dass eine fehlende Anhörung wirksam nachgeholt und geheilt sei, wenn in der mündlichen Verhandlung der letzten Tatsacheninstanz des sozialgerichtlichen Verfahrens den Beteiligten ausdrücklich Gelegenheit gegeben werde, sich zu äußern und der Hilfebedürftige sich im Übrigen zu den relevanten Umständen im Klageverfahren geäußert habe. Ein nochmaliger Hinweis auf die bereits bekannten Haupttatsachen durch den Leistungsträger in einem formellen Anhörungsverfahren unter Einräumung einer Äußerungsfrist sei eine inhaltsleere Formalität.
5Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung der §§ 24, 41 SGB X. Er ist der Auffassung, dass die Nachholung der Anhörung im gerichtlichen Verfahren ein förmliches Verwaltungsverfahren voraussetze. Dies könne auch nicht als bloße Förmelei abgetan werden. Zudem könne er sich auf Vertrauensschutz berufen. Hilfsweise werde geltend gemacht, dass die Beklagte § 40 Abs 2 SGB II gänzlich unberücksichtigt gelassen habe.
6Der Kläger beantragt,das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom zurückzuweisen.
7Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.
8Sie ist der Auffassung, dem Anhörungsgebot sei durch die Akteneinsicht im Widerspruchsverfahren genügt worden. Jedenfalls sei von einer Heilung im Gerichtsverfahren auszugehen.
Gründe
9Die Revision des Klägers ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Das LSG hat zu Unrecht das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen.
10Gegenstand des Revisionsverfahrens ist allein der Bescheid vom in der maßgebenden Fassung des Widerspruchsbescheides vom .
11Der Rücknahmebescheid ist wegen Verstoßes gegen die Anhörungspflicht nach § 24 SGB X rechtswidrig. Nach § 24 Abs 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Nach Abs 2 der Vorschrift kann davon unter bestimmten - hier jedoch nicht einschlägigen - Ausnahmen abgesehen werden.
12Die Beklagte hat dem Kläger im Ausgangsbescheid nicht alle entscheidungserheblichen Haupttatsachen mitgeteilt, auf die sich die Rücknahme auf der Grundlage ihrer Rechtsansicht stützen wollte. Entscheidungserheblich iS von § 24 Abs 1 SGB X sind alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, dh, auf die sich die Verwaltung auch gestützt hat (BSGE 69, 247 = SozR 3-1300 § 24 Nr 4). Die Beklagte hatte die Aufhebung der Bewilligungsentscheidung im Ausgangsbescheid zunächst auf § 48 SGB X gestützt. Erstmals im - insoweit maßgebenden - Widerspruchsbescheid vom ging die Beklagte davon aus, dass für die Rücknahme der Leistungsbewilligung § 45 SGB X einschlägig sei. Sie sah auch die Voraussetzungen einer Rücknahme für die Vergangenheit als erfüllt an, weil der Kläger die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe (§ 45 Abs 4 Satz 1 SGB X iVm § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X).
13Die Beklagte hat dem Kläger im Verwaltungsverfahren zu der erstmals im Widerspruchsbescheid angeführten inneren Tatsache, er habe die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides vom zumindest infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt, keine Gelegenheit zu einer vorherigen Stellungnahme eingeräumt. Hierdurch hat sie § 24 SGB X verletzt.
14Die fehlende Anhörung ist auch nicht nach § 41 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 3 SGB X nachgeholt worden. Eine Heilung im Revisionsverfahren ist nicht mehr möglich. Der Senat folgt der bisherigen Rechtsprechung des BSG, wonach eine Nachholung der Anhörung im Gerichtsverfahren jedenfalls ein entsprechendes "mehr oder minder" förmliches Verwaltungsverfahren - ggf unter Aussetzung des Gerichtsverfahrens - voraussetzt (BSG SozR 3-1300 § 24 Nr 22 S 74; B 7a AL 64/05 R; vgl auch BSG SozR 4-5868 § 3 Nr 3 RdNr 17). Der Auffassung, die Nachholung der Anhörung gemäß § 41 Abs 1 Nr 3 SGB X müsse sich während des gerichtlichen Verfahrens in einem besonderen Verwaltungsverfahren vollziehen, folgt auch die herrschende Meinung in der Literatur (Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 41 RdNr 16; Waschull in LPK-SGB X, 2. Aufl 2007, § 41 RdNr 15; Gregarek in Jahn, SGB, Stand 2010, § 41 SGB X RdNr 22).
15Die Nachholung der fehlenden Anhörung setzt außerhalb des Verwaltungsverfahrens voraus, dass die Handlungen, die an sich nach § 24 Abs 1 SGB X bereits vor Erlass des belastenden Verwaltungsaktes hätten vorgenommen werden müssen, von der Verwaltung bis zum Abschluss der gerichtlichen Tatsacheninstanz vollzogen werden. Ein während des Gerichtsverfahrens zu diesem Zweck durchzuführendes förmliches Verwaltungsverfahren liegt vor, wenn die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zur Äußerung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen gegeben hat und sie danach zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält. Dies setzt regelmäßig voraus, dass - ggf nach freigestellter Aussetzung des Verfahrens gemäß § 114 Abs 2 Satz 2 SGG - die Behörde den Kläger in einem gesonderten "Anhörungsschreiben" alle Haupttatsachen mitteilt, auf die sie die belastende Entscheidung stützen will und sie ihm eine angemessene Frist zur Äußerung setzt. Ferner ist erforderlich, dass die Behörde das Vorbringen des Betroffenen zur Kenntnis nimmt und sich abschließend zum Ergebnis der Überprüfung äußert.
16Der Senat stimmt der Einschätzung des Berufungsgerichts, es handele sich insoweit nur um eine inhaltsleere Formalität, nicht zu. Denn die in § 24 SGB X normierte Anhörungspflicht verlöre jeglichen Gehalt, wenn der Verstoß im gerichtlichen Verfahren ohne jegliches formalisiertes Verfahren geheilt werden könnte. Vielmehr können nur die genannten verfahrensrechtlichen Anforderungen gewährleisten, dass die mit dem Anhörungsverfahren verfolgten Zwecke jedenfalls teilweise zur Geltung kommen. Mit der Regelung über die Anhörung beabsichtigt der Gesetzgeber, allgemein das Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Sozialverwaltung zu stärken und die Stellung des Bürgers insbesondere durch den Schutz vor Überraschungsentscheidungen zu stärken (BT-Drucks 7/868 S 28 und 45). Insbesondere soll der Betroffene Gelegenheit erhalten, durch sein Vorbringen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt die bevorstehende Verwaltungsentscheidung zu beeinflussen (BSGE 75, 159 = SozR 3-1300 § 24 Nr 10; BSGE 69, 247, 252 = SozR 3-1300 § 24 Nr 4; BSG SozR 3-1300 § 24 Nr 21).
17Die genannten Zwecke können zwar ohnehin in vollem Umfang nur erfüllt werden, wenn die Anhörung vor Erlass des belastenden Verwaltungsaktes durchgeführt wird. Darüber hinaus kann eine Heilung des Verfahrensmangels nach den mit der Anhörung verfolgten Funktionen noch während des Widerspruchsverfahrens erfolgen, wenn dem Betroffenen während des Vorverfahrens - zB durch Einlegung des Widerspruchs - hinreichende Gelegenheit gegeben worden ist, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (BSGE 89, 111, 114 = SozR 3-1300 § 1 Nr 1; BSG SozR 4-1300 § 24 Nr 1). Befindet sich die Verwaltungsentscheidung hingegen nicht mehr im Verantwortungsbereich der Beklagten, so kann eine jedenfalls teilweise Verwirklichung der mit den Anhörungshandlungen verfolgten Zwecke nur noch erreicht werden, wenn durch die genannten verfahrensrechtlichen Vorkehrungen sichergestellt wird, dass die Nachholung der Verfahrenshandlung sich in einer dem Anhörungsverfahren möglichst vergleichbaren Situation vollzieht. Dies ist hier nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG nicht gegeben.
18Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2010:091110UB4AS3709R0
Fundstelle(n):
NJW 2011 S. 1996 Nr. 27
QAAAD-59462