BSG Beschluss v. - B 2 U 145/10 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss - rechtliches Gehör - Erfordernis erneuter Anhörungsmitteilung - Frist zur Abgabe einer weiteren Stellungnahme

Leitsatz

Weist das LSG nach einer Stellungnahme des Klägers zu einer beabsichtigten Entscheidung über die Berufung durch Beschluss darauf hin, dass es "bei den bisherigen Hinweisen verbleibt", muss es eine ausreichende Frist für eine erneute Stellungnahme einräumen.

Gesetze: § 62 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: Az: S 2 U 118/04vorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 9 U 5997/06 Beschluss

Gründe

1I. Der Kläger begehrt die Zahlung von Verletztenrente für die Zeit vom bis zum . Das SG Ulm hat die Klage abgewiesen (Urteil vom ). Im Berufungsverfahren hat das LSG Baden-Württemberg dem Kläger mit Schreiben vom mitgeteilt, dass eine Entscheidung nach § 153 Abs 4 SGG vorgesehen sei und hierzu bis zum Stellung genommen werden könne. Mit Schriftsatz vom , per Fax am selben Tag beim LSG eingegangen, hat der Kläger der beabsichtigten Entscheidung widersprochen und eine weitere Beweiserhebung beantragt. Daraufhin hat das LSG mit einem den Prozessbevollmächtigten des Klägers am zugegangenen Schreiben vom mitgeteilt, dass es auch unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens "bei den bisherigen Hinweisen verbleibt". Mit am zugestelltem Beschluss vom hat es die Berufung zurückgewiesen.

2Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger ua die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das LSG habe durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entschieden, ohne zuvor erneut die Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen.

3II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

4Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG iVm § 153 Abs 4 Satz 2 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.

5Das Berufungsgericht hat den Anspruch auf rechtliches Gehör wegen Verstoßes gegen § 153 Abs 4 Satz 2 SGG verletzt, wonach die Beteiligten vor Erlass einer Entscheidung nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG zu hören sind. Der Verstoß gegen diese Verfahrensvorschrift besteht darin, dass dem Kläger keine angemessene Frist zur Stellungnahme auf das gerichtliche Schreiben vom eingeräumt war.

6Nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet, eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält und die mit dem Rechtsmittel angefochtene Entscheidung des SG kein Gerichtsbescheid (§ 105 Abs 2 Satz 1 SGG) ist. Die Beteiligten sind gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG vorher zu hören. Diese Anhörungspflicht ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots rechtlichen Gehörs, dem nur Genüge getan ist, wenn den Beteiligten Gelegenheit sowohl zur Äußerung von etwaigen Bedenken gegen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (und ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter) als auch zur Stellungnahme in der Sache selbst eingeräumt wird ( - Juris RdNr 12 mwN).

7§ 153 Abs 4 Satz 2 SGG schreibt nicht vor, dass das Gericht eine Frist zur Stellungnahme zu bestimmen hat und welche Frist zumindest einzuräumen wäre. Weist es erstmals auf die Absicht hin, die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen, muss eine Anhörungsfrist allerdings so bemessen sein, dass dem Betroffenen ausreichend Zeit zur Einholung rechtlichen und ggf medizinischen Rats sowie zur Abfassung seiner Äußerung bleibt ( - SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 15). Macht ein Beteiligter von der Gelegenheit zur Äußerung Gebrauch, ist das Berufungsgericht nicht in jedem Fall zu einer weiteren Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG verpflichtet. Es braucht insbesondere nicht auf ein Vorbringen zu reagieren, das nicht entscheidungserheblich oder unsubstantiiert ist, neben der Sache liegt oder mit dem ein früherer Vortrag lediglich wiederholt wird. Eine neue Anhörungsmitteilung mit der Möglichkeit zur Äußerung in einer angemessenen Frist muss aber dann ergehen, wenn nach einer (ersten) Anhörungsmitteilung weiter vorgetragen und ein förmlicher Beweisantrag gestellt wird, das Berufungsgericht gleichwohl unter Würdigung des neuen Vorbringens an seiner Absicht festhalten will, über die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden und dem Beweisantrag nicht nachzugehen ( aaO RdNr 13 mwN). Anhörungsmitteilungen iS des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG müssen für die Beteiligten unmissverständlich sein. Aus ihnen muss unzweifelhaft hervorgehen, dass nicht nur auf die Absicht, im Wege des Beschlusses ohne mündliche Verhandlung über die Berufung zu entscheiden, hingewiesen wird, sondern auch Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden soll. Erscheint aus der objektiven Sicht eines sorgfältig handelnden Beteiligten die Möglichkeit zur weiteren Stellungnahme nicht ausgeschlossen, muss hierfür eine ausreichende Zeit zur Verfügung stehen.

8Es kann dahingestellt bleiben, ob auf den Schriftsatz des Klägers vom eine weitere Anhörungsmitteilung zu ergehen hatte. Es kann auch offen bleiben, ob das LSG mit seinem Schreiben vom selben Tag eine erneute Gelegenheit zur Äußerung einräumen wollte. Aufgrund der Mitteilung, dass es "bei den bisherigen Hinweisen verbleibt", konnte der Kläger jedenfalls davon ausgehen, dass das LSG nicht nur an der beabsichtigten Verfahrensweise, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, festhalten, sondern zudem entsprechend dem früheren Hinweis die Möglichkeit zur (erneuten) Stellungnahme gewähren wollte. Hierfür stand dem Kläger keine angemessene Äußerungsfrist zur Verfügung. Welche Frist vorliegend als angemessen zu gelten hätte, bedarf hier keiner Entscheidung. Von einer angemessenen Äußerungsfrist kann jedenfalls dann nicht gesprochen werden, wenn unter Berücksichtigung der Postlaufzeiten der angegriffene Beschluss - wie hier - bereits acht Tage nach dem Ausstellungstag des Anhörungsschreibens dem Beteiligten zugeht.

9Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass der Kläger bei ordnungsgemäßer Anhörung noch Gründe vorgetragen hätte, die dem LSG zumindest Veranlassung gegeben hätten, seinem Vortrag weiter nachzugehen, und dass es - ggf auch nach Anberaumung einer mündlichen Verhandlung - aufgrund neuer Erkenntnisse zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

10Angesichts dieses Verfahrensmangels können die vom Kläger außerdem erhobenen Rügen dahingestellt bleiben.

11Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor, kann das Bundessozialgericht auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

12Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2010:210910BB2U14510B0

Fundstelle(n):
RAAAD-55555