Vorläufige Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und Nr. 4 AO im Hinblick auf anhängige Musterverfahren
1. Allgemeines
Das Verfahren zur Anbringung von Vorläufigkeitsvermerken ist im (AIS: AO/Vorläufigkeit) geregelt. Von der Möglichkeit eine Steuer nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO vorläufig festzusetzen, ist nur Gebrauch zu machen, soweit hierzu eine Anweisung durch BMF-Schreiben oder gleich lautende Erlasse der obersten Finanzbehörden vorliegt (vgl. AEAO zu § 165, Nr. 6). Zu welchen Punkten die Einkommensteuerfestsetzungen (ggf. auch andere ertragsteuerliche Verwaltungsakte) nach den Vorgaben des BMF vorläufig vorgenommen werden, ergibt sich aus der Anlage zum die fortlaufend durch den BMF aktualisiert wird. Die aktuelle Liste kann jeweils im AIS eingesehen werden (AIS: AO/Vorläufigkeit).
2. Erledigte Vorläufigkeitsvermerke
Vgl. hierzu die Liste der erledigten Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO (AIS: AO/Vorläufigkeit).
3. Rechtsschutzbedürfnis bei Steuerfestsetzungen mit Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und Nr. 4 AO
3.1. Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO
Gem. AEAO zu § 350, Nr. 6 fehlt Einsprüchen, mit denen ausschließlich die angebliche Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm gerügt wird, grundsätzlich das Rechtsschutzbedürfnis, wenn das Finanzamt spätestens im Einspruchsverfahren den angefochtenen Verwaltungsakt hinsichtlich des strittigen Punktes für vorläufig erklärt hat (, BStBl 1994 II S. 119 und , BStBl 1996 II S. 506).
Eine Beschwer ist jedoch dann gegeben, wenn
der Einspruchsführer zu erkennen gibt, dass er vor Abschluss des Musterverfahrens seinen Fall an das BVerfG herantragen will,
ausnahmsweise zu einem Punkt im „Vorläufigkeitskatalog” die Aussetzung der Vollziehung angewiesen worden ist (vgl. Tz. IV des
der Einspruchsführer davon ausgeht, dass eine Steuerfestsetzung durch den Vorläufigkeitsvermerk nicht „offen gehalten” wird.
3.2. Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 und Nr. 4 AO
Bezieht sich der Einspruchsführer ausschließlich auf Musterverfahren, zu deren Streitfragen bereits Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und Nr. 4 AO in der angefochtenen Steuerfestsetzung vorhanden sind, liegt grundsätzlich eine Beschwer vor, da die Vorläufigkeitsvermerke gem. der Anlage zum (AIS: AO/Vorläufigkeit) nur die Frage umfassen, ob die in den Vorläufigkeitsvermerken angeführten Rechtsnormen und deren Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar sind und sich nicht auf alle denkbaren Musterverfahren beim BFH zu einfach-rechtlichen Einwendungen beziehen, die unter den Wortlaut des jeweiligen Vorläufigkeitsvermerk subsumiert werden könnten. Etwas anderes gilt nur dann, wenn zum jeweiligen Vorläufigkeitsvermerk zusätzlich im Steuerbescheid ausdrücklich angegeben wird, dass der Vorläufigkeitsvermerk sich auch auf die Erledigung des Rechtsstreits durch eine eventuelle einfach gesetzliche Begründung erstreckt.
4. Erledigung von Einsprüchen durch nachträgliche Beifügung von Vorläufigkeitsvermerken
Durch die nachträgliche Beifügung eines Vorläufigkeitsvermerks wird einem Einspruch dann vollständig abgeholfen, wenn es das erkennbare ausschließliche Ziel des Einspruchsführers war, seinen Steuerfall hinsichtlich der vom nachträglich beigefügten Vorläufigkeitsvermerk erfassten Rechtsfrage „offen” zu halten. Eine Vollabhilfe liegt demgegenüber z. B. nicht vor, wenn der Einspruchsführer erkennen lässt, in seiner Steuerangelegenheit Klage erheben zu wollen, wenn er Aussetzung der Vollziehung beantragt oder wenn er im Einspruchsschreiben vor Erteilung des Änderungsbescheids noch andere Einwendungen gegen den angefochtenen Verwaltungsakt erhoben hat. Macht der Einspruchsführer nach Erhalt des Abhilfebescheids geltend, dass die beigefügten Vorläufigkeitsvermerke sein Rechtsschutzinteresse nicht ausreichend wahren, ist von einem neuen Einspruch auszugehen, der als unzulässig zu verwerfen (vgl. Tz 3.1) bzw. regelmäßig als unbegründet zurückzuweisen ist (vgl. Tz 3.2).
5. Folgen einer unzutreffenden Auskunft des Finanzamts zum Umfang des Vorläufigkeitsvermerks
Hat das Finanzamt gegenüber dem Steuerpflichtigen durch Äußerungen den unzutreffenden Eindruck erweckt, aufgrund eines Vorläufigkeitsvermerks könne der Einkommensteuerbescheid (zu seinen Gunsten) geändert werden und
hat der Steuerpflichtige daher von der Einlegung eines Einspruchs abgesehen,
einen bereits eingelegten Einspruch zurückgenommen oder
hat das Finanzamt einen eingelegten Einspruch mangels Rechtsschutzinteresses als unzulässig verworfen,
ist wie folgt zu verfahren:
Soweit der Steuerpflichtige von der Einlegung eines Einspruchs abgehalten worden und die Jahresfrist im Sinne des § 110 Abs. 3 AO noch nicht abgelaufen ist, ist dem Steuerpflichtigen zur Eröffnung der Einspruchsmöglichkeit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) zu gewähren.
Bei einer durch eine „irreführende Äußerung” bewirkten Einspruchsrücknahme ist die Unwirksamkeit der Einspruchsrücknahme festzustellen und das Rechtsbehelfsverfahren fortzusetzen, falls dem nicht der Ablauf der Jahresfrist gem. § 362 Abs. 2 Satz 2 AO entgegensteht.
Soweit die vorgenannten verfahrensrechtlichen Möglichkeiten nicht bestehen, ist der vorläufige Einkommensteuerbescheid im Billigkeitswege (abweichende Steuerfestsetzung gem. § 163 AO) an die geänderte Rechtsprechung anzupassen.
6. Umfang der Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO a. F.
Für die Auslegung von Vorläufigkeitsvermerken, die noch auf der Basis der alten Rechtslage den Steuerbescheiden beigefügt worden, also vor Anwendung des gilt Folgendes:
Auf der Basis des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO kann eine Steuer vorläufig festgesetzt werden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens vor dem EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht (BFH) ist.
Somit ergibt sich die Reichweite dieser Vorläufigkeitsvermerke bereits aus der gesetzlichen Vorgabe des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO: der Vorläufigkeitsvermerk kann nur Musterverfahren erfassen, bei denen es um die Frage der Konformität eines Steuergesetzes mit dem Grundgesetz oder den europäischen Verträgen geht, nicht aber um sog. einfachgesetzliche Fragen. Für die Entscheidung, ob es sich bei dem BFH-Verfahren um ein Verfahren mit ausschließlich einfachgesetzlicher Problematik handelt, ist auf die vom BFH formulierte Rechtsfrage abzustellen (vgl. Homepage des BFH bzw. gelbe Beilage zum BStBl II).
Der , BStBl 2006 II S. 858) darüber hinaus die Auffassung vertreten, dass Verfassungsbeschwerden, in denen die Verletzung der Grundrechte durch die vorangegangene Entscheidung des BFH gerügt wird, ebenfalls vom Vorläufigkeitsvermerk erfasst werden.
Bei den Steuerbescheiden die seit dem mit Rechentermin erstellt wurden, wurde nicht mehr ausdrücklich auf anhängigen Musterverfahren Bezug genommen wird („Die Festsetzung der Einkommensteuer ist im Hinblick auf vor dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundesfinanzhof bzw. dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhängige Verfahren vorläufig hinsichtlich..), sondern lediglich auf die gesetzliche Berechtigung für den Vorläufigkeitsvermerk („Die Festsetzung der Einkommensteuer ist gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich….”) hingewiesen wird. Das , BStBl 2006 II S. 858, wonach nur einschlägige Musterverfahren nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vom Vorläufigkeitsvermerk umfasst werden können, die im Zeitpunkt der Bescheidbekanntgabe anhängig waren, kann seitdem nicht mehr zur Auslegung der Reichweite des Vorläufigkeitsvermerk herangezogen werden. Vielmehr sind bei diesen Bescheiden alle einschlägigen Musterverfahren von dem Vorläufigkeitsvermerk umfasst, unabhängig davon, ob sie vor oder nach Bekanntgabe des Steuerbescheids anhängig wurden.
Bayerisches Landesamt für Steuern v. - S 0338.1.1-5/19 St42
Auf diese Anweisung wird Bezug genommen in folgenden Verwaltungsanweisungen:
Fundstelle(n):
WAAAD-48032