Arbeitslosengeld II - Sonderbedarf - mehrtägige Klassenfahrt - Antragserfordernis - keine Notwendigkeit der gesonderten Antragstellung
Leitsatz
Ein Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst auch Leistungen für Klassenfahrten.
Gesetze: § 23 Abs 3 S 1 Nr 3 SGB 2 vom , § 23 Abs 3 S 2 SGB 2 vom , § 20 Abs 1 SGB 2, § 37 Abs 1 SGB 2, § 37 Abs 2 SGB 2
Instanzenzug: Az: S 9 AS 9505/06 Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 2 AS 6052/07 Urteil
Tatbestand
1Die Klägerin begehrt die Erstattung von Kosten für einen mehrtägigen Aufenthalt in einem Schullandheim sowie für den eintägigen Besuch eines Musicals.
2Die 1988 geborene Klägerin lebt zusammen mit ihrer Mutter, deren Ehemann und einer Halbschwester. Sie bezog seit dem Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II); für die Zeit vom bis aufgrund bestandskräftigen Bescheides vom . Seit dem besuchte sie eine Hauptschule in D Am beantragte der Stiefvater die Erstattung der Kosten für einen Schullandheimaufenthalt in C vom 23.9. bis in Höhe von 271 Euro sowie der Kosten für den Besuch des Musicals "Mamma Mia" am in Höhe von 32,40 Euro. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom die Übernahme der Kosten ab, weil der Antrag vor Antritt der Fahrten gestellt werden müsse. Außerdem seien die Kosten bereits beglichen, sodass der Bedarf aus eigenen Mitteln habe gedeckt werden können. Mit Widerspruchsbescheid vom wies die Beklagte den Widerspruch hiergegen zurück.
3Das Sozialgericht Stuttgart hat die hiergegen erhobene Klage mit Urteil vom abgewiesen. Die Kosten für den Schullandheimaufenthalt seien zwar grundsätzlich nach § 23 Abs 3 SGB II erstattungsfähig. Eine Bedarfsdeckung für die Vergangenheit sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Bundessozialhilfegesetz jedoch nicht zulässig. Dieser Grundsatz gelte auch für das SGB II. Ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für die eintägige Klassenfahrt bestehe schon nach dem Wortlaut des § 23 Abs 3 SGB II nicht. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat mit Urteil vom die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Ein Anspruch auf Übernahme der Kosten der mehrtägigen Klassenfahrt scheitere daran, dass diese Leistung nicht rechtzeitig beantragt worden sei. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende würden nach § 37 Abs 1 SGB II nach Antragstellung erbracht. Leistungen für die Zeit vor Antragstellung könnten nach § 37 Abs 2 Satz 1 SGB II nicht erbracht werden. Auch die Voraussetzungen für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch lägen nicht vor. Die Beklagte habe im maßgeblichen Bewilligungszeitraum keine Anhaltspunkte für einen Sonderbedarf der Klägerin gehabt. Allein die Kenntnis vom Schulbesuch habe noch keine konkrete Beratungspflicht ausgelöst. Für eine Erstattung der Kosten für die eintägige Klassenfahrt fehle es bereits an einer Anspruchsgrundlage. § 23 Abs 3 Nr 3 SGB II erfasse ausdrücklich nur mehrtägige Klassenfahrten.
4Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Klägerin. Zur Begründung trägt sie vor, der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasse alle Leistungen nach dem zweiten Abschnitt des SGB II. Leistungen nach § 23 SGB II müssten daher nicht gesondert beantragt werden. Da aus dem Erstantrag für die Beklagte auch erkennbar gewesen sei, dass die Klägerin noch die Schule besucht habe, und deshalb entsprechend ihrem Jahrgang eine mehrtägige Klassenfahrt in Betracht kommen könnte, habe eine entsprechende Beratungspflicht der Beklagten bestanden. Der Bedarf sei auch nicht durch eigene Mittel gedeckt worden. Vielmehr seien Schulden durch eine Kontoüberziehung entstanden. Zwar seien nach dem Wortlaut des § 23 SGB II Kosten für eine eintägige Klassenfahrt nicht erstattungsfähig, es sei jedoch zu beachten, dass frühere Sozialleistungen auch eintägige Klassenfahrten umfasst hätten. Bei der Klassenfahrt zu dem Musical habe es sich um Bildungsausgaben gehandelt, die in der Regelleistung nicht berücksichtigt seien.
5Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Stuttgart vom und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom aufzuheben und die Beklagte unter Änderung ihres Bescheides vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom zu verurteilen, ihr die Kosten für den Schullandheimaufenthalt in C vom 23.9. bis in Höhe von 271 Euro sowie für den eintägigen Besuch des Musicals "Mamma Mia" am in Höhe von 32,40 Euro zu erstatten.
6Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
7Sie hält die angegriffenen Urteile für zutreffend.
Gründe
8Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet, § 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), soweit sie die Erstattung von Kosten für den Besuch des Musicals "Mamma Mia" am begehrt. Im Übrigen ist die Revision im Sinne der Zurückverweisung an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet, § 170 Abs 2 Satz 2 SGG.
91. Streitig sind allein die Ansprüche der Klägerin auf Leistungen für Klassenfahrten nach § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II. Dabei handelt es sich um eigenständige abtrennbare Streitgegenstände, die isoliert und unabhängig von den übrigen Grundsicherungsleistungen geltend gemacht werden können (vgl - BSGE 102, 68 = SozR 4-4200 § 23 Nr 1, jeweils RdNr 13). Der Anspruch steht allein der Klägerin zu. Zwar bildet sie mit ihrer Schwester, ihrer Mutter und deren Ehemann eine Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs 3 Nr 4 SGB II, Leistungen für Klassenfahrten stehen aber individuell nur ihr allein zu.
102. Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG erfüllt die Klägerin die Voraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 iVm § 23 SGB II (idF des Kommunalen Optionsgesetzes vom , BGBl I 2014). Gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (Nr 1), erwerbsfähig (Nr 2) und hilfebedürftig sind (Nr 3) sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr 4). Ausschlussgründe nach § 7 Abs 5 Satz 1 SGB II liegen nicht vor.
113. Das LSG hat zu Recht einen Anspruch nach § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II hinsichtlich des eintägigen Besuchs eines Musicals verneint, weil es am Tatbestandsmerkmal der Mehrtägigkeit fehlt. Anspruch auf Leistungen für Klassenfahrten besteht nach § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II nur, sofern sie mehrtägig sind. Das ist nur dann der Fall, wenn sie einen Zeitraum von mehr als einem Tag umfassen (vgl Lang/Blüggel in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 23 RdNr 110). Kosten eintägiger Klassenfahrten sind hingegen durch die Regelleistung gedeckt (vgl Münder in LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 23 RdNr 36).
12Die Klägerin kann die Leistung auch nicht als "Härteleistung" auf der Grundlage von Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 Grundgesetz beanspruchen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom einen solchen zusätzlichen Anspruch nur bei einem unabweisbarem, laufendem, nicht nur einmaligen und besonderen Bedarf zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums bejaht (1 BvL 1/09, 3/09, 4/09). Eine solche Konstellation liegt hier nicht vor.
134. Ob ein Anspruch der Klägerin auf Erstattung der Kosten für die mehrtägige Fahrt nach C nach § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3, § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) besteht, kann der Senat nicht abschließend entscheiden.
14a) Entgegen der Auffassung des LSG scheitert ein Anspruch nicht bereits an einer fehlenden Antragstellung nach § 37 SGB II. Zwar hat die Klägerin ihren Bedarf nach § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II zu einem Zeitpunkt zur Kenntnis der Beklagten gebracht, als die Klassenfahrten bereits durchgeführt worden waren. Der Antrag auf Leistungen für Klassenfahrten war aber bereits von dem Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst.
15Gemäß § 37 Abs 1 SGB II werden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf Antrag erbracht. § 37 Abs 2 Satz 1 SGB II schließt eine Leistungserbringung für Zeiten vor der Antragstellung aus. Die Vorschrift gilt uneingeschränkt für alle Leistungen der Grundsicherung (vgl Link in Eicher/Spellbrink, aaO, § 37 RdNr 2). Sie statuiert ein konstitutives Antragserfordernis, sodass Leistungen erst ab Antragstellung zustehen (vgl BT-Drucks 15/1516 S 62; - SozR 4-4200 § 11 Nr 17 RdNr 23 und vom - B 14 AS 13/08 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Der Antrag nach dem SGB II ist eine einseitige empfangsbedürftige öffentlich-rechtliche Willenserklärung, auf die - soweit sich nicht aus sozialrechtlichen Bestimmungen Anderweitiges ergibt - die Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches Anwendung finden ( - RdNr 14, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Der Antragsteller bringt zum Ausdruck, dass Leistungen vom Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende begehrt werden. Welche Leistungen ein Antrag umfasst, ist durch Auslegung zu ermitteln. Dabei ist der Antrag so auszulegen, dass das Begehren des Antragstellers möglichst weitgehend zum Tragen kommt (Grundsatz der Meistbegünstigung, vgl Urteil des Senats vom - B 14 AS 75/08 R mwN, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; vgl zum Klageantrag B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 11). Als beantragt sind dementsprechend alle Leistungen anzusehen, die nach Lage des Falles ernsthaft in Betracht kommen (vgl Link in Eicher/Spellbrink aaO; Striebinger in Gagel, SGB II, Stand Dezember 2009, § 37 RdNr 34). Das sind bei einem Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts regelmäßig alle im 1. und 2. Unterabschnitt des 2. Abschnitts des 3. Kapitels SGB II genannten Leistungen (vgl auch die Hinweise der Bundesagentur für Arbeit zum Umfang des Antrags <37.4>). Mit dem Antrag wird ein Hilfebedarf geltend gemacht, der alle Leistungen umfasst, die der Sicherung des Lebensunterhalts in Form des Arbeitslosengeld II dienen. Bei den in § 23 Abs 3 SGB II vorgesehenen Leistungen handelt es sich zwar um einmalige Sonderbedarfe (vgl - BSGE 101, 268 = SozR 4-4200 § 23 Nr 2 RdNr 11; Urteile vom - B 4 AS 77/08 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen und vom - B 14 AS 44/08 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Das Erfordernis einer besonderen Bedarfslage ändert aber nichts an der Zuordnung dieser Leistungen zu den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Auch ihre prozessuale Behandlung als eigenständiger Streitgegenstand führt nicht dazu, dass die Leistung gesondert beantragt werden müsste. Ein solches Erfordernis lässt sich § 37 SGB II nicht entnehmen. Die Vorschrift enthält keine Antragsbestimmungen für einzelne Leistungen, sondern fordert lediglich unspezifisch einen Antrag.
16b) Da über den Bewilligungszeitraum, in dem der Schullandheimaufenthalt stattfand, bereits bestandskräftig entschieden worden war, war über den Anspruch nach § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 48 SGB X zu entscheiden. Das LSG wird zunächst im Einzelnen zu ermitteln haben, welche Bedarfe iS des § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II tatsächlich bestanden haben. Ein Bedarf ist nicht bereits deshalb zu verneinen, weil die Klägerin auch ohne die begehrte Leistung tatsächlich teilgenommen hat.
17Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2010:230310UB14AS609R0
Fundstelle(n):
WAAAD-47783