Ermäßigter Steuersatz - Art. 96 und 98 Abs. 2 - Anhang III Nr. 15 - Prozesskostenhilfe - Rechtsanwaltsleistungen - Vollständige oder teilweise Entschädigung durch den Staat
Leitsatz
Ein Mitgliedstaat verstößt dadurch gegen seine Pflichten aus den Art. 96 und 98 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem verstoßen, wenn er - wie hier Frankreich - einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Leistungen anwendet, die von den Rechtsanwälten, den Rechtsanwälten beim Conseil d'État und bei der Cour de cassation und den "avoués" erbracht werden und für die diese vollständig oder teilweise durch den Staat im Rahmen der Prozesskostenhilfe entschädigt werden.
Gesetze: RL 2006/112/EG
Instanzenzug:
Gründe
Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Pflichten aus den Art. 96 und 98 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) verstoßen hat, dass sie einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Leistungen anwendet, die von den Rechtsanwälten, den Rechtsanwälten beim Conseil d'État und bei der Cour de cassation und den "avoués" erbracht werden und für die diese im Rahmen der Prozesskostenhilfe vollständig oder teilweise durch den Staat entschädigt werden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) ist durch die Richtlinie 2006/112 mit Wirkung zum neu gefasst und ersetzt worden.
Art. 96 der Richtlinie 2006/112, der Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 1 Satz 1 der Sechsten Richtlinie ersetzt, bestimmt:
"Die Mitgliedstaaten wenden einen Mehrwertsteuer-Normalsatz an, den jeder Mitgliedstaat als Prozentsatz der Bemessungsgrundlage festsetzt und der für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist."
Art. 97 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112, der Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 1 Satz 2 der Sechsten Richtlinie ersetzt, sieht vor, dass "[v]om bis zum ... der Normalsatz mindestens 15 % betragen [muss]".
Art. 98 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2006/112, der Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie entspricht, lautet:
"(1) Die Mitgliedstaaten können einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden.
(2) Die ermäßigten Steuersätze sind nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien anwendbar.
..."
Anhang III der Richtlinie 2006/112 ("Verzeichnis der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, auf die ermäßigte MwSt-Sätze gemäß Artikel 98 angewandt werden können") nennt in Nr. 15 "Lieferung von Gegenständen und Erbringung von Dienstleistungen durch von den Mitgliedstaaten anerkannte gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit, soweit sie nicht gemäß den Artikeln 132, 135 und 136 von der Steuer befreit sind". Diese Vorschrift entspricht Nr. 14 des Anhangs H der Sechsten Richtlinie.
Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112, der Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie ersetzt, nennt als eine der Steuerbefreiungen für bestimmte dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten "eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden".
Nationales Recht
Art. 279 des Code général des impôts (allgemeines Steuergesetzbuch, im Folgenden: CGI) bestimmt:
"Die Mehrwertsteuer wird zu einem ermäßigten Satz von 5,50 % erhoben auf:
...
f) Dienstleistungen, für die die Rechtsanwälte, die Rechtsanwälte beim Conseil d'État und bei der Cour de cassation und die 'avoués' im Rahmen der Prozesskostenhilfe ganz oder teilweise vom Staat entschädigt werden;
..."
Diese Vorschrift ist seit dem 1. April 1991 anwendbar und wurde aus Art. 32 der Loi de finances pour 1991 (Steuergesetz für das Jahr 1991) (Gesetz Nr. 90-1168 vom ) übernommen, der die Leistungen, die von den Rechtsanwälten, den Rechtsanwälten beim Conseil d'État und bei der Cour de cassation und den "avoués" erbracht werden, der Mehrwertsteuer unterwarf.
Vorverfahren
Mit Aufforderungsschreiben vom 10. April 2006 teilte die Kommission der Französischen Republik mit, dass sie die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Leistungen, die von den Rechtsanwälten, den Rechtsanwälten beim Conseil d'État und bei der Cour de cassation und den "avoués" im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbracht werden, für mit Art. 12 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Anhang H der Sechsten Richtlinie unvereinbar halte.
Die Französische Republik machte in ihrer Antwort vom geltend, sie wolle damit den sozial Schwachen den Zugang zu den Gerichten erleichtern; außerdem zählten die von Rechtsanwälten und "avoués" erbrachten Leistungen zu den Leistungen, die in Nr. 14 des Anhangs H der Sechsten Richtlinie aufgezählt seien.
Die Kommission hielt diese Antwort nicht für überzeugend und richtete deshalb mit Schreiben vom 15. Dezember 2006 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an den betreffenden Mitgliedstaat, in der sie ihn aufforderte, dieser Stellungnahme binnen zwei Monaten nach ihrer Zustellung nachzukommen.
Mit Schreiben vom wiederholte die Französische Republik ihr Vorbringen, dass die Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes auf die von Rechtsanwälten im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbrachten Leistungen mit der Sechsten Richtlinie vereinbar sei.
Da die Stellungnahme der Französischen Republik die Kommission nicht überzeugte, hat sie die vorliegende Klage erhoben.
Zur Klage
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
Die Kommission weist zunächst darauf hin, dass die Frist, die der Französischen Republik gesetzt worden sei, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme nachzukommen, nach dem 1. Januar 2007 und damit nach der Aufhebung der Sechsten Richtlinie abgelaufen sei, so dass vorliegend die entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 anzuwenden seien.
Die Kommission macht unter Hinweis auf das Urteil vom , Kommission/Spanien (C-83/99, Slg. 2001, I-445, Randnrn. 19 und 20), geltend, dass Art. 98 Abs. 2 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112, soweit die Mitgliedstaaten danach vom Grundsatz, dass der normale Mehrwertsteuersatz anwendbar sei, abweichen dürften, eng und nach seiner gewöhnlichen Bedeutung auszulegen sei. Die von den Rechtsanwälten, den Rechtsanwälten beim Conseil d'État und bei der Cour de cassation und den "avoués" im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbrachten Leistungen im Sinne des Art. 279 Buchst. f CGI fielen unter keine der in Anhang III der Richtlinie 2006/112 aufgeführten Kategorien und könnten insbesondere nicht der "Erbringung von Dienstleistungen durch von den Mitgliedstaaten anerkannte gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit" im Sinne von Nr. 15 des Anhangs III gleichgestellt werden.
Insoweit unterliege die Anwendung von Nr. 15 zwei Voraussetzungen: Erstens müssten die betreffenden Leistungserbringer eine bestimmte Eigenschaft haben und zweitens müsse es sich um Leistungen einer bestimmten Art handeln.
Zur ersten Voraussetzung führt die Kommission aus, dass Rechtsanwälte zwar gelegentlich als Beistand für Prozesskostenhilfeempfänger tätig würden, aber insoweit nicht als "anerkannte gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke" angesehen werden könnten. Zwar nenne die Richtlinie 2006/112 nicht die genauen Voraussetzungen und Modalitäten für eine solche Anerkennung, aber sie scheine doch eine gewisse Beständigkeit der Beziehung zwischen dem Mitgliedstaat und dem Steuerpflichtigen, auf dessen Leistungen der ermäßigte Steuersatz angewandt werde, vorauszusetzen. In Frankreich setze die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf bestimmte Rechtsanwaltsleistungen nicht voraus, dass der Erbringer dieser Dienstleistungen eine feste Eigenschaft habe, sondern lediglich, dass diese Dienstleistungen im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbracht würden. Die von der Französischen Republik zur Verteidigung der Vereinbarkeit ihrer nationalen Rechtsvorschrift mit der Richtlinie vorgeschlagene Auslegung laufe darauf hinaus, die in Nr. 15 des Anhangs III vorgesehene Ausnahme auf jeden beliebigen Steuerpflichtigen, und nicht ausschließlich auf Dienstleistungserbringer anzuwenden, die einen privilegierten Status innehätten, der ihnen vom Staat wegen ihres sozialen Charakters eingeräumt worden sei, und zwar allein unter der Voraussetzung, dass die Kosten der fraglichen Leistungen vollständig oder teilweise vom Staat getragen würden.
Was die zweite Voraussetzung betrifft, ist die Kommission der Ansicht, dass die von den Rechtsanwälten im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbrachten Leistungen nicht als "für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit" erbracht qualifiziert werden können. Diese Dienstleistungen bestünden in der Leistung von rechtlichem Beistand und entsprächen mithin genau denjenigen, die für Mandanten erbracht würden, denen keine staatliche finanzielle Hilfe zugutekomme. Dass die dem Rechtsanwalt im Rahmen der Prozesskostenhilfe gezahlte Vergütung gemeinhin als unzureichend angesehen werde, ändere nichts an der Natur der von ihm erbrachten Dienstleistungen. Die Französische Republik gehe unzutreffend davon aus, dass der Rechtsanwalt, der einem Prozesskostenhilfeempfänger Beistand leiste, nicht mehr eine Aufgabe der Beratung und der Vertretung, sondern eine solche der sozialen Hilfe erfülle.
Die von der Französischen Republik vorgeschlagene Auslegung laufe darauf hinaus, dass die Voraussetzung betreffend die Natur der Leistungen durch eine andere, auf die fehlenden Mittel der Empfänger gestützte Voraussetzung ersetzt werde. Folge man dieser Auslegung, könne auf alle zur Unterstützung sozial Schwacher erbrachten Leistungen der ermäßigte Steuersatz angewandt werden. Der Unionsgesetzgeber habe sich jedoch bewusst dafür entschieden, die Fälle einzuschränken, in denen ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewandt werde, indem er eine abschließende Liste der Lieferungen von Gegenständen und der Erbringung von Dienstleistungen erstellt habe, die hierfür in Betracht kämen. Außerdem sei die Mehrwertsteuer eine allgemeine Verbrauchsteuer, für die nicht abhängig von der Höhe der Einkünfte des Empfängers der Gegenstände oder Dienstleistungen verschiedene Steuersätze angewandt werden könnten.
Überdies hält die Kommission das Vorbringen der Französischen Republik, dass die Anwendung des normalen Mehrwertsteuersatzes auf die von Rechtsanwälten erbrachten Dienstleistungen den Zugang sozial Schwacher zu den Gerichten beeinträchtige, für unbegründet. Jedenfalls rechtfertige die Verfolgung dieses Ziels nicht die Nichtbeachtung der Richtlinie 2006/112, die die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes beschränke.
Die Französische Republik betont, dass Art. 279 Buchst. f CGI mit den Art. 96 und 98 der Richtlinie 2006/112 vereinbar sei, da die Leistungen, für die die Rechtsanwälte im Rahmen der Prozesskostenhilfe vollständig oder teilweise vom Staat entschädigt würden, die beiden Voraussetzungen der Nr. 15 des Anhangs III der Richtlinie erfüllten.
Zur ersten Voraussetzung macht die Französische Republik geltend, dass die Rechtsanwälte, wenn sie im Rahmen der Prozesskostenhilfe Leistungen erbrächten, von Frankreich anerkannte gemeinnützige Einrichtungen seien. Insoweit sei die Auslegung, wie sie der Gerichtshof dem entsprechenden Ausdruck "als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen" im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie, jetzt Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112, im Urteil vom , Kingscrest Associates und Montecello (C-498/03, Slg. 2005, I-4427), gegeben habe, übertragbar. Nach dieser funktionellen Auslegung sei der Begriff "Einrichtung" grundsätzlich weit genug, um natürliche Personen und private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht zu umfassen. Da ferner die Sechste Richtlinie ebenso wenig wie die Richtlinie 2006/112 die Voraussetzungen und Modalitäten für die Anerkennung des sozialen Charakters der fraglichen Einrichtungen präzisiere, habe der Gerichtshof entschieden, dass es grundsätzlich Sache des innerstaatlichen Rechts jedes Mitgliedstaats sei, die Regeln aufzustellen, nach denen diesen Einrichtungen eine solche Anerkennung gewährt werden könne.
Nach Ansicht der Französischen Republik erfüllt Art. 279 Buchst. f CGI die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs von den nationalen Behörden bei der Bestimmung der Einrichtungen mit sozialem Charakter zu berücksichtigenden Kriterien; dies seien das Bestehen spezifischer Vorschriften, das mit den Tätigkeiten des betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse, die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kämen, sowie die Tatsache, dass die Kosten der fraglichen Leistungen unter Umständen zum großen Teil von Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen würden. So seien die von den Rechtsanwälten im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbrachten Dienstleistungen Gegenstand spezieller steuerrechtlicher Vorschriften, diese Leistungen seien dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten, alle Rechtsanwälte, die diese Leistungen erbrächten, kämen in den Genuss derselben Anerkennung und derselben Regelung, und die Kosten für diese Leistungen würden teilweise oder vollständig vom Staat übernommen.
Außerdem werde die Dauerhaftigkeit der Bindung zwischen dem Staat und den Rechtsanwälten, wenn sie überhaupt ein maßgebliches Merkmal sei, dadurch sichergestellt, dass die fraglichen Leistungen Gegenstand von Art. 279 Buchst. f CGI seien. Ferner seien zwar nicht alle Rechtsanwälte regelmäßig im Rahmen der Prozesskostenhilfe tätig, doch könne jeder von ihnen jederzeit vom vorsitzenden Richter oder vom Präsidenten der Rechtsanwaltskammer bestellt werden und müsse dieser Bestellung Folge leisten.
Was die zweite Voraussetzung angeht, ist die Französische Republik der Ansicht, dass die Rechtsanwälte, die Leistungen im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbrächten, für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit tätig würden, da die Prozesskostenhilfe dazu beitrage, sicherzustellen, dass sozial Schwache Zugang zu den Gerichten hätten; der Grundrechtscharakter dieses Anspruchs sei u. a. in Art. 47 Abs. 3 der am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 364, S. 1) in ihrer am in Straßburg angepassten Fassung (ABl. C 303, S. 1) anerkannt.
Die Französische Republik schlägt in diesem Kontext ein Bündel von vier Indizien vor, in deren Licht sich bestimmen lasse, ob eine Einrichtung Dienstleistungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit erbringe, nämlich die Verfolgung eines sozialen Zwecks zugunsten sozial Schwacher, die Verwirklichung der nationalen Solidarität durch eine Umverteilungsfinanzierung, das Fehlen der Absicht, mit den erbrachten Dienstleistungen Gewinn zu erzielen, und besondere Zwänge, denen der Dienstleistungserbringer unterliegt.
Insbesondere im Hinblick auf die beiden letzten Indizien betont die Französische Republik, dass bei diesen wohltätigen Zwecken die Gewinnerzielungsabsicht fehle, da die Pauschalvergütung nicht die den Rechtsanwälten durch ihre Leistungen entstandenen Kosten decke. Zudem unterliege der Rechtsanwalt im Rahmen der Prozesskostenhilfe besonderen Zwängen, da er den ihm insoweit übertragenen Bestellungen Folge leisten und damit akzeptieren müsse, dass er für sozial Schwache Leistungen erbringen müsse, für die der Staat weniger als den Selbstkostenpreis übernehme.
Die Französische Republik führt weiter aus, um eine Leistung als "für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit" erbracht zu qualifizieren, könnten sowohl ihr Zweck und ihre Empfänger als auch ihre Natur und ihr Inhalt berücksichtigt werden. Häufig erfolge die Einordnung einer Leistung anhand einer Kombination dieser unterschiedlichen Kriterien. Somit seien Leistungen, deren Inhalt und Natur identisch seien, entsprechend den Mitteln ihrer Empfänger als für wohltätige Zwecke erbracht anzusehen oder nicht.
Folglich sei zwischen der herkömmlichen Aufgabe des freiberuflich tätig werdenden Rechtsanwalts und dem Rechtsanwalt, der einem Prozesskostenhilfeempfänger Beistand leiste, zu unterscheiden. Zwar seien die erbrachten Dienstleistungen in beiden Fällen identisch; der soziale Zweck und die geringen Einkünfte des Empfängers verliehen den im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbrachten Dienstleistungen des Rechtsanwalts aber den Charakter einer Dienstleistung für wohltätige Zwecke.
Würdigung durch den Gerichtshof
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission einen Verstoß gegen diejenigen Verpflichtungen feststellen lassen kann, die sich aus der ursprünglichen Fassung eines später geänderten oder aufgehobenen Gemeinschaftsrechtsakts ergeben und durch neue Bestimmungen aufrechterhalten wurden (Urteile vom , Kommission/Belgien, C-275/04, Slg. 2006, I-9883, Randnr. 35, und vom , Kommission/Italien, C-174/07, Randnr. 31).
Hier ist unstreitig, dass die sich aus den Art. 96 und 98 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 ergebenden Verpflichtungen denen entsprechen, die bereits vor dem Inkrafttreten dieser Richtlinie gemäß Art. 12 Abs. 3 Buchst. a der Sechsten Richtlinie galten. Somit kann die Kommission im Kontext des vorliegenden Verfahrens die gerügte Vertragsverletzung beanstanden, obwohl sie sich im Aufforderungsschreiben und der mit Gründen versehenen Stellungnahme auf die entsprechenden Bestimmungen der seinerzeit geltenden Sechsten Richtlinie gestützt hat.
In Bezug auf die Begründetheit der vorliegenden Klage streiten die Parteien über die Frage, ob es sich bei den von den Rechtsanwälten, den Rechtsanwälten beim Conseil d'État und bei der Cour de cassation und den "avoués" im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbrachten Leistungen im Sinne des Art. 279 Buchst. f CGI um Leistungen handelt, die durch von den Mitgliedstaaten anerkannte gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit im Sinne von Nr. 15 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 erbracht wurden, so dass die Französische Republik nach Art. 98 Abs. 2 der Richtlinie auf diese Leistungen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden durfte.
Da die Richtlinie 2006/112 keine Definition des in Nr. 15 des Anhangs III genannten Ausdrucks "von den Mitgliedstaaten anerkannte gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit" enthält, ist dieser im Licht des Zusammenhangs innerhalb der Richtlinie 2006/112 auszulegen (vgl. entsprechend Urteile Kommission/Spanien, Randnr. 17, und vom , Erotic Center, C-3/09, Slg. 2010, I-0000, Randnr. 14).
In dieser Hinsicht dürfen die Mitgliedstaaten nach Art. 98 der Richtlinie 2006/112 abweichend von dem Grundsatz, dass der normale Steuersatz gilt, einen oder zwei ermäßigte Sätze anwenden. Außerdem können die ermäßigten Mehrwertsteuersätze nach dieser Vorschrift nur auf die in Anhang III der Richtlinie genannten Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen angewandt werden. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Bestimmungen, die Ausnahmen von einem allgemeinen Grundsatz darstellen, eng auszulegen (vgl. u. a. Urteile Kommission/Spanien, Randnrn. 18 und 19 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und Erotic Center, Randnr. 15).
Der Gerichtshof hat unter Berücksichtigung der vom Gesetzgeber verfolgten Ziele bereits für den Ausdruck "als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen" im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie, jetzt Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112, festgestellt, dass er grundsätzlich weit genug ist, um natürliche Personen und private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht zu umfassen (vgl. Urteile vom 7. September 1999, Gregg, C-216/97, Slg. 1999, I-4947, Randnr. 17, vom , Hoffmann, C-144/00, Slg. 2003, I-2921, Randnr. 24, sowie Kingscrest Associates und Montecello, Randnrn. 35 und 47).
Zwar legt der Begriff "Einrichtung" die Existenz einer abgegrenzten Einheit nahe, die eine bestimmte Funktion erfüllt, doch wird dieses Merkmal auch von natürlichen Personen erfüllt (vgl. Urteile Gregg, Randnr. 18, und Hoffmann, Randnr. 24). Außerdem ist das Streben nach Gewinnerzielung zwar ein erhebliches Kriterium, das bei der Prüfung der Frage zu berücksichtigen ist, ob eine Einrichtung sozialen Charakter im Sinne dieser Bestimmung hat, aber es schließt einen solchen Charakter keineswegs unter allen Umständen aus (vgl. Urteil Kingscrest Associates und Montecello, Randnr. 46).
Es gibt keinen Grund, der bei der in Nr. 15 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 genannten Kategorie ein Abweichen von dieser Beurteilung rechtfertigt. Vielmehr gilt, wie der Generalanwalt u. a. in Nr. 84 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, diese für eine Mehrwertsteuerbefreiungen betreffende Vorschrift durchgeführte Analyse erst recht für Anhang III, der Mehrwertsteuerermäßigungen betrifft.
Im Rahmen der Prozesskostenhilfe sind die Rechtsanwälte, die Rechtsanwälte beim Conseil d'État und bei der Cour de cassation und die "avoués" nicht von vornherein allein deshalb von der in Nr. 15 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 genannten Kategorie ausgeschlossen, weil sie private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht sind.
Um unter diese Kategorie zu fallen, müssen diese Rechtsanwälte und "avoués" jedoch von den Mitgliedstaaten auch tatsächlich als gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit anerkannt sein.
Nach der Rechtsprechung verfügen die Mitgliedstaaten über ein Ermessen bei der Frage, ob sie bestimmten Einrichtungen sozialen Charakter zuerkennen. Dieses Ermessen ist jedoch im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht und insbesondere den Vorschriften der Richtlinie 2006/112 auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. September 2002, Kügler, C-141/00, Slg. 2002, I-6833, Randnrn. 54 bis 57, Kingscrest Associates und Montecello, Randnrn. 51 und 52, sowie vom , Stichting Kinderopvang Enschede, C-415/04, Slg. 2006, I-1385, Randnr. 23).
Diese Grenzen werden u. a. dann überschritten, wenn ein Mitgliedstaat Einrichtungen als gemeinnützig anerkennt, um auf bestimmte von ihnen erbrachte Leistungen unter Verstoß gegen den ausdrücklichen Wortlaut von Nr. 15 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden.
Insoweit ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut der Nr. 15 nicht auf alle gemeinnützigen Leistungen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden dürfen, sondern nur auf diejenigen, die von Einrichtungen erbracht werden, die sowohl gemeinnützig als auch für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit tätig sind.
Stünde es einem Mitgliedstaat frei, private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht allein deshalb als Einheiten im Sinne von Nr. 15 zu qualifizieren, weil sie auch Leistungen mit sozialem Charakter erbringen, widerspräche dies dem Willen des Unionsgesetzgebers, die Möglichkeit der Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes davon abhängig zu machen, dass die Leistungen von Einrichtungen erbracht werden, die diese beiden Voraussetzungen erfüllen.
Folglich kann ein Mitgliedstaat, soll dem Wortlaut der Nr. 15 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 Genüge getan werden, auf Dienstleistungen, die von privaten Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht erbracht werden, nicht allein aufgrund der Beurteilung dieser Dienstleistungen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden, ohne u. a. die Ziele, die diese Einheiten in ihrer Gesamtheit betrachtet verfolgen, und die Beständigkeit ihres sozialen Engagements zu berücksichtigen.
Hier ist festzustellen, dass die Berufsgruppe der Rechtsanwälte und "avoués" als solche, wie sie in Art. 279 Buchst. f CGI genannt wird, im Hinblick auf ihr Gesamtziel und die fehlende Dauerhaftigkeit eines etwaigen sozialen Engagements nicht als gemeinnützig angesehen werden kann.
Selbst wenn die von den Rechtsanwälten und "avoués" im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbrachten Leistungen gemeinnützig wären und als "für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit" erbracht angesehen werden könnten, wäre dieser Umstand nicht ausreichend für die Schlussfolgerung, dass die Rechtsanwälte und "avoués" im vorliegenden Fall als "gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit" im Sinne der Nr. 15 des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 qualifiziert werden können.
Die Klage der Kommission ist somit begründet.
Folglich ist festzustellen, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Pflichten aus den Art. 96 und 98 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 verstoßen hat, dass sie einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Leistungen anwendet, die von den Rechtsanwälten, den Rechtsanwälten beim Conseil d'État und bei der Cour de cassation und den "avoués" erbracht werden und für die diese im Rahmen der Prozesskostenhilfe vollständig oder teilweise durch den Staat entschädigt werden.
Kosten
Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Französischen Republik beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Pflichten aus den Art. 96 und 98 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem verstoßen, dass sie einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Leistungen anwendet, die von den Rechtsanwälten, den Rechtsanwälten beim Conseil d'État und bei der Cour de cassation und den "avoués" erbracht werden und für die diese vollständig oder teilweise durch den Staat im Rahmen der Prozesskostenhilfe entschädigt werden.
2. Die Französische Republik trägt die Kosten.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
HAAAD-46349