Rücknahme der Arbeitslosenhilfebewilligung für die Vergangenheit - Erstattung von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung ab - Gesetzeslücke - gesetzesimmanente Rechtsfortbildung
Gesetze: § 335 Abs 1 S 1 SGB 3 vom , § 335 Abs 1 S 1 SGB 3 vom , § 335 Abs 5 SGB 3, § 190 SGB 3, § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB 10
Instanzenzug: SG Mannheim Az: S 11 AL 3408/07 Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 12 AL 1661/08 Urteil
Tatbestand
1Im Streit ist (noch) der Ersatz geleisteter Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge in Höhe von 4771,50 Euro, die die Beklagte in der Zeit vom bis wegen der Zahlung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für verschiedene Zeiträume erbracht hat.
2Der Kläger bezog in der Zeit vom bis mit Unterbrechungen Alhi. Die Bewilligung von Alhi für die Zeiträume vom bis , vom bis , vom bis , vom bis und vom bis hob die Beklagte mangels Bedürftigkeit des Klägers auf, verlangte die Erstattung überzahlter Alhi in Höhe von 20 936,22 Euro sowie den Ersatz der in dieser Zeit gezahlten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge in Höhe von 4241,71 Euro und 529,79 Euro, also insgesamt 4771,50 Euro (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ).
3Während die Klage insgesamt Erfolg hatte (Urteil des Sozialgerichts <SG> Mannheim vom ), hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG abgeändert und den angefochtenen Bescheid nur insoweit aufgehoben, als er die Erstattung von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen betrifft, und die Klage im Übrigen abgewiesen; die weitergehende Berufung der Beklagten hat das LSG zurückgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, soweit die Beklagte den Ersatz der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung verlange, sei der angegriffene Bescheid rechtswidrig, weil in dem insoweit maßgebenden § 335 Abs 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) mit der Abschaffung der Alhi ab auch das Wort "Arbeitslosenhilfe" gestrichen worden sei und damit eine Pflicht zur Erstattung der Beiträge bei rückwirkender Aufhebung der Leistungsbewilligung nach dem nicht mehr bestehe.
4Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 335 Abs 1 Satz 1 SGB III in der ab geltenden Fassung. Trotz der Streichung des Wortes "Arbeitslosenhilfe" in dieser Vorschrift bestünde weiterhin eine Rechtsgrundlage für die Rückforderung von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen bei rückwirkender Aufhebung der Alhi-Bewilligung.
5Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG abzuändern und das Urteil des SG insgesamt aufzuheben sowie die Klage insgesamt abzuweisen.
6Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
7Er hält das Urteil des LSG hinsichtlich der noch streitigen Ersatzforderung für zutreffend.
Gründe
8Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Zu Unrecht hat das LSG die Auffassung vertreten, der Ersatz von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen nach § 335 Abs 1 Satz 1 SGB III sei in der ab dem geltenden Fassung ausgeschlossen. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen (§ 163 SGG) kann der Senat jedoch nicht endgültig in der Sache entscheiden.
9Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom , (nur noch) soweit die Beklagte damit den Ersatz von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen in Höhe von 4241,71 Euro und 529,79 Euro verlangt. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG). Nicht mehr im Streit ist die Aufhebung der Alhi-Bewilligung und Erstattung der gewährten Alhi. Insoweit ist das Urteil des LSG rechts- und der zugrundeliegende Bescheid der Beklagten bestandskräftig.
10Die Begründetheit der Revision misst sich an § 335 Abs 1 Satz 1, Abs 5 SGB III in der ab dem geltenden Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom (BGBl I 2954). Danach hat der Bezieher von Arbeitslosengeld (Alg) oder Unterhaltsgeld die von der Bundesagentur für Arbeit (BA) für ihn gezahlten Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung zu ersetzen, soweit die Entscheidung über die Leistung rückwirkend aufgehoben und die Leistung zurückgefordert worden ist. Nicht maßgebend ist hingegen die bis geltende Fassung des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom (BGBl I 2848), die anders als § 335 SGB III nF ausdrücklich auch den (unrechtmäßigen) Bezieher von Alhi nannte, weil nach den Grundsätzen des intertemporalen Rechts für die Entstehung des originären Ersatzanspruchs für gezahlte Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge der Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung über die das Kranken- und Pflegeversicherungsverhältnis begründende Leistung rückwirkend aufgehoben und die Leistung zurückgefordert wird, maßgebend ist (BSG SozR 4-4300 § 335 Nr 1, RdNr 14; - RdNr 13).
11Entgegen der Auffassung des LSG scheidet die Erstattung der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge nicht deshalb aus, weil der Bezieher (unrechtmäßiger) Alhi in § 335 Abs 1 Satz 1, Abs 5 SGB III nF nicht mehr genannt ist. Wie der 11. Senat bereits entschieden hat ( aaO, und vom - B 11 AL 17/09 R), ist die ab dem geltende Fassung des § 335 Abs 1 Satz 1 SGB III wegen eines Versehens oder Übersehens eines Tatbestands lückenhaft. Diese Lücke ist im Wege der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung durch eine entsprechende Anwendung des § 335 Abs 1 Satz 1 SGB III nF zu schließen. Der Senat schließt sich der Rechtsprechung des 11. Senats insoweit ausdrücklich an.
12Ob die weiteren Voraussetzungen des entsprechend anzuwendenden § 335 Abs 1 Satz 1 SGB III nF vorliegen, kann nicht abschließend beurteilt werden. Der Erstattungsanspruch nach § 335 Abs 1 Satz 1, Abs 5 SGB III setzt voraus, dass die BA für den Leistungsbezieher, hier den Kläger als Bezieher von Alhi, Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung bzw zur sozialen Pflegeversicherung bezahlt hat, die Entscheidung über die Leistung, die den Grund für die Beitragszahlung gebildet hat, rückwirkend aufgehoben und die Leistung (durch Verwaltungsakt) zurückgefordert worden ist. Der Ersatzanspruch setzt nach der Rechtsprechung des BSG darüber hinaus voraus, dass der Leistungsempfänger pflichtwidrig gehandelt hat (BSG SozR 3-4300 § 335 Nr 2 S 11 ff; SozR 4-4300 § 335 Nr 1 RdNr 14) und für den Zeitraum, für den die Leistung zurückgefordert worden ist, kein weiteres Kranken- oder Pflegeversicherungsverhältnis iS des § 335 Abs 1 Satz 2, Abs 5 SGB III bestanden hat und (deshalb) kein Anspruch der BA gegen die auf Grund des Leistungsbezuges zuständigen Kranken- oder Pflegekasse nach § 335 Abs 1 Satz 2, Abs 5 SGB III besteht. Erforderlich ist schließlich, dass die BA die Beiträge dem Grunde und der Höhe nach auch zu Recht gezahlt hat (BSG SozR 3-4300 § 335 Nr 1 S 8; Leitherer in Eicher/Schlegel, SGB III, § 335 RdNr 47, Stand November 2009; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB III, K § 335 RdNr 98, Stand V/09; Düe in Niesel, SGB III, 4. Aufl 2007, § 335 RdNr 11).
13Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, kann der Senat nicht abschließend beurteilen. Der Kläger war in dem Zeitraum, in dem er Alhi bezogen hat, gesetzlich kranken- und pflegeversichert (§ 5 Abs 1 Nr 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - <SGB V>, § 20 Abs 1 Satz 2 Nr 2 Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung - <SGB XI>). Für diese Zeiträume hat die Beklagte nach den Feststellungen des LSG auch Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge in Höhe von 4241,71 Euro und 529,79 Euro erbracht und mit dem hier streitgegenständlichen Bescheid die dem Kläger gewährte Alhi nach Aufhebung der zu Grunde liegenden Bewilligung zurückgefordert. Der Kläger hat sich hinsichtlich des Leistungsbezugs nach den bindenden Feststellungen des LSG auch pflichtwidrig verhalten, weil er zumindest grob fahrlässig unvollständige bzw unrichtige Angaben über sein Vermögen gemacht hat. Ob der Kläger in den Zeiträumen, für die die Alhi aufgehoben und der Ersatz von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen verlangt wird, lediglich durch den Bezug von Alhi kranken- und pflegeversichert war, so dass auch kein Erstattungsanspruch der Beklagten nach § 335 Abs 1 Satz 2, Abs 5 SGB III gegen die Kranken- und Pflegeversicherung in Betracht kommt, der einen Ersatzanspruch gegen den Kläger ausschließt, kann der Senat mangels Feststellungen des LSG hingegen nicht beurteilen. Zwar bestehen für ein weiteres Kranken- und Pflegeversicherungsverhältnis keine Anhaltspunkte, es fehlen aber auch Feststellungen dazu, ob die Beiträge in zutreffender Höhe geleistet wurden. Für die zutreffende Beitragshöhe kommt es insbesondere auf die zu Grunde zu legenden beitragspflichtigen Einnahmen (vgl § 232a Abs 1 SGB V, § 57 Abs 1 SGB XI) sowie auf den jeweiligen Beitragssatz an. Das LSG hat aber keine Feststellungen zu dem maßgebenden Arbeitsentgelt (§ 232a Abs 1 iVm § 226 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V) getroffen, das der Beitragsbemessung zu Grunde zu legen war, so dass dem Senat eine abschließende Prüfung verwehrt ist.
14Das LSG wird diese Feststellung nachzuholen und ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2010:180510UB7AL1609R0
Fundstelle(n):
MAAAD-45708