BSG Urteil v. - B 13 R 76/09 R

Vorlage an den Großen Senat - Verrechnung - Erklärung durch Verwaltungsakt

Gesetze: § 52 SGB 1, § 51 SGB 1, § 31 S 1 SGB 10, § 8 SGB 10, § 41 Abs 2 SGG, § 41 Abs 3 S 1 SGG

Instanzenzug: SG Hildesheim Az: S 4 R 280/06 Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 10 R 480/07 Urteilnachgehend Az: GS 2/10 Beschluss

Tatbestand

1 Die Beteiligten streiten über die Berechtigung des beklagten Rentenversicherungsträgers, Ansprüche der beigeladenen Bundesagentur für Arbeit mit der Altersrente des Klägers zu verrechnen. Streitig ist insbesondere, ob die Verrechnung durch Verwaltungsakt erfolgen durfte.

2 Der Kläger bezieht von der Beklagten seit Oktober 2003 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit. Der monatliche Zahlbetrag dieser Rente betrug im Oktober/November 2005 873,83 Euro. Mit Schreiben vom ermächtigte die Beigeladene die Beklagte zur Verrechnung einer Forderung in Höhe von 53.012,27 Euro aus Überzahlung von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen sowie Mahnkosten mit Leistungsansprüchen des Klägers gegen die Beklagte. Nach Anhörung des Klägers erklärte diese durch Bescheid vom , der Anspruch der Beigeladenen werde mit seinem Anspruch auf Rente derart verrechnet, dass ab dem nächstmöglichen Zeitpunkt monatlich 436 Euro von der Rentenzahlung einbehalten und an die Beigeladene bis zur Tilgung der Forderung gezahlt würden. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos, weil der Kläger eine von der Beklagten angeforderte Grundsicherungsbedarfsberechnung zum Nachweis, dass er bei einer Verrechnung sozialhilfebedürftig werde, nicht vorgelegt habe (Widerspruchsbescheid vom ) .

3 Mit Urteil vom hat das Sozialgericht (SG) den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids aufgehoben, weil eine Verrechnung nicht durch Verwaltungsakt habe vorgenommen werden dürfen. Die in dem Verwaltungsakt enthaltene öffentlich-rechtliche Willenserklärung in Form der Verrechnungserklärung stehe nicht zur Überprüfung, weil der Kläger (der durch einen Rechtsanwalt vertreten war) eine hierfür erforderliche Leistungsklage auf Auszahlung der bereits einbehaltenen Beträge hätte erheben müssen. Dies habe er trotz eines Hinweises des Gerichts aber nicht getan. Deshalb beschränke sich die Prüfung des Gerichts darauf, ob die Beklagte berechtigt gewesen sei, die Verrechnungserklärung in Form eines Verwaltungsakts abzugeben. Hierfür fehle es jedoch an einer gesetzlichen Ermächtigung (Hinweis auf Bundessozialgericht <BSG> vom - B 4 RA 60/02 R - SozR 4-1200 § 52 Nr 1). Obwohl es sich bei der Verrechnungserklärung mittels "Bescheids" nicht um einen Verwaltungsakt handele, müsse dieser "Schein-Verwaltungsakt" aufgehoben werden, weil der Betroffene dadurch beschwert sei.

4 Der Kläger hat im Oktober 2006 geheiratet und während des Verfahrens über die Berufung der Beklagten seinen Wohnsitz nach Thailand verlegt. Mit Urteil vom hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung im Wesentlichen aus den Gründen des erstinstanzlichen Urteils zurückgewiesen.

5 Sowohl die Beklagte als auch die Beigeladene haben die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Beide haben sich zur Begründung im Wesentlichen darauf bezogen, dass sie dem Urteil des 4. Senats des (aaO) nicht folgten und eine Verrechnung durch Verwaltungsakt für zulässig hielten. Die Beklagte hat erklärt, sie sei nach wie vor an einer Verrechnung gegenüber dem Kläger interessiert.

6 Die Beklagte und die Beigeladene beantragen jeweils,

die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom und des Sozialgerichts Hildesheim vom aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7 Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt,

die Revisionen zurückzuweisen.

8 Auf Anfragebeschluss des vorlegenden Senats vom - B 13 R 31/08 R - hat der 4. Senat mit Beschluss vom - B 4 SF 1/09 S - erklärt, er halte an seiner Auffassung fest, dass die Verrechnung nach § 52 des Sozialgesetzbuchs Erstes Buch (SGB I) nicht durch Verwaltungsakt erfolge.

Gründe

9Der 13. Senat beabsichtigt, auf die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen das Berufungsurteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (hierzu im Folgenden unter 1.) . Er sieht sich hieran durch das Urteil des 4. Senats vom (B 4 RA 60/02 R - SozR 4-1200 § 52 Nr 1) gehindert; würde er der Rechtsauffassung, auf der dieses Urteil beruht, im vorliegenden Fall folgen, wären die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen zurückzuweisen (hierzu im Folgenden unter 2.; dort auch zu weiterer Rechtsprechung des 4. Senats) . Dies macht die aus dem Entscheidungssatz ersichtliche Vorlage gemäß § 41 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erforderlich (hierzu im Folgenden unter 3.) .

101. Die vom vorlegenden Senat beabsichtigte Zurückverweisung ist erforderlich, weil auf der Grundlage der vom LSG festgestellten Tatsachen nicht entschieden werden kann, ob der angefochtene Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids rechtmäßig ist.

11a) Die Revision ist aufgrund der - den Senat bindenden (vgl § 160 Abs 3 SGG) - Zulassung im Urteil des LSG statthaft und auch sonst zulässig. Der Senat hat keine Bedenken hinsichtlich des Rechtsschutzbedürfnisses der Beklagten und der Beigeladenen. Bei einem Rechtsmittelführer besteht ein solches in aller Regel, wenn er - wie hier die Beklagte und die Beigeladene - durch die Entscheidung der Vorinstanz formell beschwert ist ( BSGE 86, 126, 129 = SozR 3-2500 § 85 Nr 37 S 289 mwN) . Einer der Ausnahmefälle (vgl SozR 4-2700 § 136 Nr 3 RdNr 13) liegt hier nicht vor. Die Beklagte hat nach wie vor ein berechtigtes Interesse daran, zu erfahren, in welcher Form sie die Verrechnung gegenüber dem Kläger zu erklären hatte oder in Zukunft hat; sie ist jedenfalls nicht durch Verwirkung an der Durchführung der streitigen oder an einer neuen Verrechnung gegenüber dem Kläger gehindert. Die Forderung der Beigeladenen gegenüber dem Kläger besteht weiterhin.

12b) Eine Zurückverweisung an das Berufungsgericht ist nicht schon deshalb zwingend erforderlich, weil das Verfahren vor dem LSG an einem absoluten, die Wirksamkeit des Verfahrens als Ganzes berührenden und somit auch ohne Rüge der Beteiligten von Amts wegen zu beachtenden Mangel leidet. Zwar hat der Vorsitzende des LSG-Senats als Berichterstatter des Verfahrens mit Einverständnis der Beteiligten an Stelle des Senats entschieden und hierbei die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Dies ist nach der Rechtsmeinung des 9. Senats des BSG "regelmäßig" verfahrensfehlerhaft und führt - wenn nicht ausnahmsweise Gründe erkennbar sind, warum die Sache doch durch den Berichterstatter allein entschieden werden konnte - als absoluter Revisionsgrund von Amts wegen gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, RdNr 11 ff, 22 f; sich hiervon abgrenzend 6. Senat, BSGE 103, 106 = SozR 4-2500 § 94 Nr 2, RdNr 31; zudem weist der 3. Senat darauf hin, dass auch bei Fehlen von Gründen, die ausnahmsweise eine Entscheidung samt Revisionszulassung wegen rechtsgrundsätzlicher Bedeutung durch den Berichterstatter rechtfertigen, nicht stets eine Zurückverweisung zu erfolgen habe: Urteil vom - B 3 KR 2/08 R - SozR 4-2500 § 33 Nr 24 RdNr 12 ff).

13Im hier zu entscheidenden Fall liegen besondere Gründe vor, die eine Alleinentscheidung durch den Berichterstatter bzw den Vorsitzenden samt Revisionszulassung als ermessensfehlerfreie Handhabung von § 155 Abs 3 und 4 SGG erscheinen lassen, sodass kein zur Zurückverweisung berechtigender Verfahrensmangel festgestellt werden kann (zu solchen Gründen vgl auch aaO RdNr 11, sowie - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Zum einen ist in der Anfrage an die Beteiligten, ob einer Entscheidung durch den Vorsitzenden als Einzelrichter zugestimmt werde, bereits ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass in dem die Rechtsfrage einer Verrechnung durch Verwaltungsakt betreffenden Urteil "aller Voraussicht nach die Revision zuzulassen sein wird". Zum anderen hat der allein für den Senat entscheidende Vorsitzende nicht "am Senat in voller Besetzung vorbei" eine eigenständige Rechtsprechung begründet, sondern ist vielmehr der bisherigen Rechtsprechung des LSG Niedersachsen-Bremen und des 4. Senats des BSG ausdrücklich gefolgt. Die Revision hat er lediglich mit der Erwägung zugelassen, angesichts der zwischen dem 4. und dem 13. Senat des BSG zu Tage getretenen Unterschiede in der Bewertung der Verrechnungserklärung (Hinweis auf das Urteil des 13. Senats vom - B 13 RJ 43/05 R - Juris RdNr 18) rasch eine höchstrichterliche Klärung der Streitfrage zu ermöglichen. Dies ist auch im Lichte der verfassungsrechtlichen Garantie des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz <GG>) ermessensfehlerfrei, denn es entzieht den Beteiligten nicht den für die letztverbindliche Entscheidung der Streitfrage zuständigen Richtern des BSG, sondern öffnet den Weg zu ihnen in Übereinstimmung mit dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung (vgl hierzu BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, RdNr 21).

14c) Einer Zurückverweisung des Rechtsstreits bedarf es auch nicht in jedem Fall im Hinblick darauf, dass das LSG bei zutreffender Auslegung des Rechtsschutzbegehrens des Klägers (§ 123 SGG) auch dessen Vorbringen in der Sache hätte prüfen müssen, dies aber unterlassen hat. In diese Richtung weist allerdings der Antwortbeschluss des 4. Senats vom (B 4 SF 1/09 S, RdNr 3) , wenn dort ausdrücklich offen gelassen wird, ob der Rechtsstreit nicht auch dann zurückzuverweisen wäre, wenn der vorlegende Senat der Rechtsmeinung des 4. Senats folgte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Denn der Kläger hat das nach Einschätzung des 4. Senats möglicherweise unvollständige Urteil des SG selbst nicht angefochten; somit war für die auf Berufung der Beklagten ergangene Entscheidung des LSG eine mögliche Verletzung des § 123 SGG zu Lasten des Klägers ohne Belang.

15d) Der angefochtene Bescheid war nicht allein deswegen - als sog "formeller Verwaltungsakt" - aufzuheben, weil die durch ihn - nach dem Empfängerhorizont objektiv in der Gestalt eines Verwaltungsakts (vgl Wolff/Brink in Bader/Ronellenfitsch, Kommentar zum VwVfG, 2010, § 35 RdNr 31) - ausgesprochene Verrechnungserklärung nicht in dieser Handlungsform hätte ergehen dürfen. Denn mit dem Verwaltungsakt hat die Beklagte die zutreffende Handlungsform gewählt (wie hier in neuerer Zeit zB vom Rath, DÖV 2010, 180) .

16Nach § 31 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Zehntes Buch (SGB X) ist "Verwaltungsakt … jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist".

17Die Regelung eines Einzelfalls mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen liegt bei dem hier streitbefangenen Verrechnungsbescheid vom darin, dass die in ihm enthaltene Verrechnungserklärung eine unmittelbare Wirkung auf den Auszahlungsanspruch des Berechtigten hat, diesen nämlich - soweit die Verrechnungserklärung reicht und sofern sie wirksam ist - zum Erlöschen bringt (vgl BSG SozR 4-1200 § 52 Nr 1 RdNr 8) . Das Tatbestandsmerkmal "auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts" in § 31 SGB X ist erfüllt, weil § 52 SGB I eine spezifische Regelung des öffentlichen Rechts zur Ausgestaltung der öffentlich-rechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen Leistungsempfängern und Sozialleistungsträgern darstellt. Die Erklärung einer Verrechnung nach § 52 SGB I enthält schließlich eine hoheitliche Maßnahme, also eine einseitige behördliche Handlung, die ihrem Adressaten - dem Sozialleistungsempfänger - in dieser Form ihrer Art nach nicht zusteht (vgl zu diesem Merkmal U. Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl 2008, § 35 RdNr 104 mwN; Wolff/Brink, aaO, § 35 RdNr 72 ff; nach Krasney in Kasseler Komm, § 31 SGB X RdNr 6, Stand: Dezember 2003, kommt diesem Gesichtspunkt gegenüber den anderen Voraussetzungen kein eigenes Gewicht zu) .

18Im Übrigen ist - anders als im Zivilrecht - nach dem SGB I auch die Aufrechnung (§ 51 SGB I) nicht nur davon abhängig, dass sich der Aufrechnungsberechtigte (die Behörde) hierfür frei entscheidet und dies erklärt. Vielmehr ist - das Gleiche gilt wegen der Verweisung in § 52 SGB I für die Verrechnung - die Erklärung an das pflichtgemäße Ermessen (§ 51 Abs 1 Halbsatz 1, Abs 2 Halbsatz 1 SGB I) und an die Pfändbarkeit der Geldleistungen (Abs 1 Halbsatz 2 aaO) gebunden bzw (nach § 51 Abs 2 SGB I) an die Höhenbegrenzung (bis zur Hälfte) sowie die fehlende Hilfebedürftigkeit des Berechtigten nach der Aufrechnung.

19Auch der Gesetzgeber sieht in einer Verrechnungserklärung einen Verwaltungsakt. Dies folgt aus der Regelung des § 24 Abs 2 Nr 7 SGB X, die durch das Zweite Gesetz zur Änderung des SGB vom (BGBl I 1229) mit Wirkung ab eingefügt wurde. Nach Abs 1 der Vorschrift ist (nur) vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu Äußerung zu geben; dies gilt jedoch nach Abs 2 Nr 7 der Vorschrift nicht, wenn gegen Ansprüche oder mit Ansprüchen von weniger als (in der ursprünglichen Fassung: 100 DM, jetzt:) 70 Euro (aufgerechnet oder) verrechnet werden soll. Hieraus kann nur geschlossen werden, dass - unabhängig von der Höhe - die Verrechnung nach § 52 SGB I ebenso wie die Aufrechnung nach § 51 SGB I durch Verwaltungsakt zu erklären ist (vgl ferner die Entwurfsbegründung zu § 24 Abs 2 Nr 7 SGB X, BT-Drucks 12/5187 S 35 - Zu Art 6, Zu Nr 1, wonach "materielle Einwände gegen die Aufrechnung bzw. Verrechnung … im Widerspruchsverfahren geltend gemacht werden" können) .

20Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber in nicht zu beanstandender Weise von seiner Befugnis Gebrauch gemacht, die Aufrechnung und die Verrechnung jedenfalls für den Bereich des Sozialrechts der Handlungsform "Verwaltungsakt" zu unterstellen. Hieran sind die Gerichte gemäß Art 20 Abs 3 GG selbst dann gebunden, wenn sie eine solche Zuordnung aufgrund rechtssystematischer Erwägungen für unzutreffend oder aus praktischen Überlegungen heraus für unerwünscht halten sollten (vgl Wolff/Brink, aaO RdNr 28 f; U. Stelkens, aaO RdNr 13 - beide unter Hinweis auf BVerwGE 70, 77, 82; das Bundesverwaltungsgericht <BVerwG> hatte sich in dieser Entscheidung veranlasst gesehen, nach einer Rechtsänderung seine frühere Rechtsprechung zur Einordnung einer Schutzbereichanordnung als Rechtsverordnung aufzugeben) . Bei Beachtung des Vorrangs des Gesetzes kann der Regelungsgehalt von § 24 Abs 2 Nr 7 SGB X auch nicht mit dem Hinweis darauf ausgeblendet werden, dass diese Regelung nur "beiläufig" und "vordergründig" erfolgt sei und deshalb keine Geltung beanspruchen könne (so aber U. Stelkens, aaO RdNr 139, unter Bezugnahme auf Weber, SGb 1999, 225, 229, der sich in nicht näher belegte Spekulationen über die Regelungsabsichten des Gesetzgebers verliert und sich sogar zu der Wendung versteigt, die "eindeutig" in § 24 Abs 2 Nr 7 SGB X erfolgte Beimessung von Verwaltungsaktqualität an die Aufrechung/Verrechnung im Sozialrecht sei "legales Unrecht"; s hierzu treffend Günther, SGb 1999, 609 sowie Wehrhahn, SGb 2007, 468).

21Einer über die Bestimmung des § 52 SGB I hinausgehenden ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung für den Erlass eines Verwaltungsakts mit dem Inhalt der Verrechnung bedarf es nicht (zu der jeder Eingriffsermächtigung immanenten "Verwaltungsakt-Befugnis" vgl Wolff/Brink, aaO RdNr 63) . Ganz generell regelt § 8 SGB X, dass das Verwaltungsverfahren des SGB "auf den Erlass eines Verwaltungsaktes oder auf den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages gerichtet ist". Da die Verrechnung im SGB geregelt ist, kann und darf ein Verwaltungsverfahren zur Verrechnung mit dem Erlass eines Verwaltungsakts enden.

22Die Verrechnung ist schließlich von der Beklagten auch in der Form eines Verwaltungsakts erklärt worden (unter dieser Voraussetzung sieht die ausführliche Darstellung der Problematik bei Kresser, Die Bedeutung der Form für Begriff und Rechtsfolgen des Verwaltungsakts, 2009 <zugl Diss Dresden 2007>, selbst eine im allgemeinen Verwaltungsrecht erklärte Aufrechnung als materiellen Verwaltungsakt mit einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage an: aaO S 226 ff; dort - passim - auch weitere eingehende Darlegungen).

24Da insoweit auch in dem das SG-Urteil bestätigenden Berufungsurteil keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen vorliegen, ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird sich auch damit auseinanderzusetzen haben, ob sich die Beurteilungsgrundlage durch die Heirat des Klägers und seinen nachfolgenden Umzug nach Thailand geändert hat.

252. Eine Entscheidung in diesem Sinne ist dem vorlegenden Senat jedoch nicht ohne Abweichung von dem Urteil des 4. Senats vom (B 4 RA 60/02 R - SozR 4-1200 § 52 Nr 1; s unten zu weiterer Rechtsprechung des 4. Senats) möglich, auch wenn sich der vorlegende Senat in Übereinstimmung mit weiteren Senaten des BSG befindet.

36Zu (1): Hierin kann der Senat keinen Grund sehen, die Verwaltungsaktqualität der Verrechnung zu verneinen. Gemeint scheint die "auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen" gerichtete Regelung eines Einzelfalls iS des § 31 Satz 1 SGB X zu sein, die jedoch nicht davon abhängen kann, ob die Verrechnung am Rentenanspruch selbst etwas ändert (s ferner oben bei 1d). Es genügt, dass der Adressat des Rentenbescheids aufgrund einer wirksam verfügten Verrechnung in dem in ihr festgelegten zeitlichen und betragsmäßigen Umfang das Recht verliert, vom Rentenversicherungsträger monatliche Rentenzahlungen zu verlangen und gegebenenfalls gerichtlich im Wege der Leistungsklage durchzusetzen.

37Zu (2): Insoweit kann ebenso auf die Ausführungen zu 1d) verwiesen werden.

38c) Auch sonst sind keine Argumente erkennbar, die den vorlegenden Senat davon überzeugen könnten, von der (mit Ausnahme des 4. Senats) gefestigten Rechtsprechung des BSG zur Verwaltungsaktqualität einer Verrechnungsentscheidung abzugehen (zu den Ausführungen des Antwortbeschlusses des 4. Senats vom im Zusammenhang s unter 3.) .

39Insbesondere besteht keine Rechtsprechung des BVerwG und des BFH zur Rechtsnatur der Verrechnung; deshalb kann die Rechtsauffassung des vorlegenden Senats nicht von einer solchen abweichen. Die Verrechnung stellt ein spezifisch sozialrechtliches Institut dar; sie ist weder im (allgemeinen) Verwaltungs- noch im Steuer- (-verfahrens-) recht bekannt (die "Verrechnung" nach § 10 Abs 3 Satz 1 Abwasserabgabengesetz meint eine vom Gläubiger vorzunehmende Absetzung von der Abgabeschuld) .

40Auch zum Rechtscharakter der Aufrechnung ist im Übrigen eine sozialrechtliche Lösung ohne Abweichung von anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes möglich. Denn es bestehen unterschiedliche Rechtsgrundlagen. Die eigenständige Regelung in § 51 SGB I findet anderswo keine Entsprechung: Im allgemeinen Verwaltungsrecht werden auch ohne einschlägige Regelung die Vorschriften der §§ 387 ff BGB über die Aufrechnung für entsprechend anwendbar gehalten; § 226 der Abgabenordnung 1977 verweist insoweit ausdrücklich auf das bürgerliche Recht. Auch ist keine Rechtsprechung des BVerwG zur Rechtsnatur einer Aufrechnung nach § 51 SGB X ersichtlich (das BVerwGE 60, 240 - geht hierauf nicht ein; der Beschluss vom - 5 B 154/95, Buchholz 435.11 § 55 SGB I Nr 2 - hat die Nichtzulassungsbeschwerde mangels Entscheidungserheblichkeit der einschlägigen Rechtsfrage zurückgewiesen) .

41Zudem lässt sich aus der Möglichkeit der Abtretung oder Pfändung eines Anspruchs auf Sozialleistungen nichts anderes herleiten. Zwar ist der Abtretungsgläubiger (Zessionar) oder Pfändungspfandgläubiger nicht am Sozialversicherungsverhältnis beteiligt; durch Abtretung oder Pfändung werden jedoch weder die Natur des Anspruchs geändert ( SozR 1300 § 50 Nr 17 S 37) noch in die Rechte des zahlenden oder eines anderen Leistungsträgers (auf Aufrechnung bzw Verrechnung) eingegriffen. Auf- oder Verrechnung gegen Ansprüche auf Sozialleistungen bleiben damit weiter möglich; die entsprechenden Bescheide sind dann jedoch (auch) dem Abtretungs- oder Pfändungspfandgläubiger bekannt zu geben ( BSGE 64, 17, 22 f = SozR 1200 § 54 Nr 13) .

42Schließlich ist es auch nicht unter dem Gesichtspunkt der erforderlichen Sicherung der Funktionsfähigkeit - insbesondere der Finanzierungsgrundlagen- der Sozialversicherungsträger geboten, die Verrechnung (ebenso die Aufrechnung) im Sozialrecht als öffentlich-rechtliche Willenserklärung ohne Verwaltungsaktcharakter zu qualifizieren, weil nur auf diese Weise die beabsichtigte Wirkung einer vom Versicherungsträger erklärten Verrechnung - die Befriedigung des von dem (anderen) Versicherungsträger gegen den Leistungsempfänger geltend gemachten Anspruchs (Erfüllungswirkung - vgl BSGE 75, 283, 284 f = SozR 3-2400 § 28 Nr 2 S 9 f; s auch BVerwGE 66, 218, 222 sowie BVerwGE 132, 250 RdNr 8, 10) - sofort im Zeitpunkt ihrer Erklärung eintrete und nicht aufgrund eines möglicherweise zeitaufwändigen Verwaltungsverfahrens oder infolge von Rechtsbehelfen des Leistungsempfängers verzögert oder vereitelt werden könne. Der Durchführung eines im Einzelfall gegebenenfalls ermittlungsintensiven Verwaltungsverfahrens bedarf es im Anwendungsbereich der §§ 51, 52 SGB I vor Erklärung einer Verrechnung (Aufrechnung) unabhängig von ihrer Qualifizierung als Verwaltungsakt oder Willenserklärung in jedem Fall. Denn hier erfordert - anders als im allgemeinen Verwaltungsrecht - die Verrechnung (Aufrechnung) nicht nur die Existenz einer gleichartigen und fälligen Gegenforderung, sondern ist durch weitere Voraussetzungen eingeschränkt, die an die wirtschaftliche Situation des Leistungsempfängers anknüpfen und nicht zuletzt der Vermeidung des Eintritts von dessen Sozialhilfebedürftigkeit infolge der Verrechnung (Aufrechnung) dienen. Soweit die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen gegen einen Verrechnungsbescheid (Aufrechnungsbescheid) für problematisch erachtet und es - über die bestehende Möglichkeit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 86a Abs 2 Nr 5 SGG hinaus - für erforderlich gehalten wird, im Zusammenhang mit Verrechnungen (Aufrechnungen) die bestehende verfahrensrechtliche Stellung der Sozialleistungsempfänger zugunsten der Versicherungsträger zu beschneiden, obläge es dem Gesetzgeber, durch eine entsprechende Ergänzung von § 86a Abs 2 SGG Abhilfe zu schaffen. Die Außerachtlassung der vom Gesetzgeber selbst in § 24 Abs 2 Nr 7 SGB X vorgenommenen Zuordnung legitimiert dieses Anliegen jedoch nicht.

43d) Da der vorlegende Senat der Auffassung ist, dass bereits die Verrechnung selbst durch Verwaltungsakt zu erklären ist, bedarf es beim gegenwärtigen Streitstand keiner Prüfung, ob der angefochtene Bescheid weitere Regelungen (zB über die Höhe des Auszahlungsbetrags) enthält, die als Verwaltungsakt zu qualifizieren sein könnten (s ua hierzu Wehrhahn, SGb 2007, 468; Gabbert, RVaktuell 2008, 192, 195 f) .

443. Der 4. Senat hat den Anfragebeschluss des vorlegenden Senats vom - B 13 R 31/08 R - mit Beschluss vom - B 4 SF 1/09 S - abschlägig beantwortet.

45a) Die Anfrage war gemäß § 41 Abs 3 Satz 1 SGG an den 4. Senat und nicht etwa an einen Nachfolgesenat zu richten (hierzu , BeckRS 2009-53032 RdNr 4 f) . Ein Fall des Satzes 2 der Vorschrift liegt nicht vor. Denn der 4. Senat kann nach wie vor mit der aus dem Entscheidungssatz ersichtlichen Rechtsfrage zur Auslegung des § 52 SGB I befasst werden (zB trotz § 52 letzter Teilsatz iVm § 51 Abs 2 letzter Teilsatz SGB I bei Empfängern des Zuschlags nach § 24 des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch) .

46b) Der vorlegende Senat vermag sich der Argumentation im Antwortbeschluss des 4. Senats aus folgenden Erwägungen nicht anzuschließen:

51ee) Zu RdNr 13 des Antwortbeschlusses (Abweichung von Rechtsprechung des BVerwG oder BFH) sei auf die einschlägigen, großteils bereits im Anfragebeschluss enthaltenen Hinweise (s oben bei 2 c) Bezug genommen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2010:250210BB13R7609R0

Fundstelle(n):
UAAAD-44097