Leitsatz
Leitsatz:
1. Die Rüge eines privaten Pflegeversicherungsunternehmens, es habe im Verfahren mittels einfachen Briefs oder gegen Empfangsbekenntnis versandte Schriftstücke des Gerichts nicht erhalten, ohne dass deren Rücklauf beim Gericht zu verzeichnen ist, begründet nicht automatisch einen Verstoß gegen das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs.
2. Private Pflegeversicherungsunternehmen sind den in § 174 Abs. 1 ZPO genannten Personen und Organisationen gleichgestellt, so dass Zustellungen an sie wirksam gegen Empfangsbekenntnis bewirkt werden können.
Instanzenzug: LSG Berlin-Brandenburg, L 27 P 24/08 vom SG Berlin, S 76 P 27/03 vom
Gründe
I
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen nach der Pflegestufe I ab Januar 2003. Die Beklagte - ein privates Versicherungsunternehmen - lehnte einen entsprechenden Antrag des Klägers nach medizinischer Begutachtung ab, weil die maßgeblichen Voraussetzungen zur Anerkennung von Pflegebedürftigkeit nicht erfüllt seien. Das daraufhin angerufene Sozialgericht (SG) hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab Januar 2003 verurteilt (Urteil vom ). Das Landessozialgericht (LSG) hat die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt und hinsichtlich des Zinsausspruches ergänzt (Urteil vom ). Hiergegen richtet sich die von der Beklagten eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde, mit der das Vorliegen eines erheblichen Verfahrensmangels gerügt wird.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde - ihre Zulässigkeit unterstellt - ist unbegründet. Es ist nicht ersichtlich, dass dem LSG der von der Beklagten behauptete Verfahrensmangel unterlaufen ist.
1. Zuvorderst rügt die Beklagte die Verletzung ihres Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs und damit verbunden des Rechts auf ein faires Verfahren, weil sie am ein berufungszurückweisendes Urteil des LSG zugestellt bekommen habe, welches auf Grund einer mündlichen Verhandlung vom ergangen sei, zu der sie aber keine Ladung erhalten habe. Sie habe mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gerechnet, weil sie dazu bereits mit Schriftsatz vom ihr Einverständnis erteilt habe; eine etwaige spätere Terminsladung sei ihr nicht zugegangen.
a) Ein solcher Verfahrensablauf - seine Richtigkeit unterstellt - könnte grundsätzlich geeignet sein, den behaupteten Verfahrensfehler zu ergeben, denn nach § 62 SGG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren. § 62 SGG konkretisiert dabei den verfassungsrechtlich verbrieften Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG) für das sozialgerichtliche Verfahren. Die Vorschrift soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG; vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und in seine Erwägungen mit einbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f; - mwN). Dazu gehört auch, dass ein Beteiligter die Möglichkeit haben muss, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen (vgl Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 62 RdNr 6a mwN).
b) Der vorliegende Fall zeichnet sich ausweislich der erst- und zweitinstanzlichen Streitakten und nach dem Ergebnis des vom Senatsvorsitzenden am durchgeführten Erörterungstermins allerdings durch folgende Auffälligkeiten aus:
- Die mit einfachem Brief versandte Ladung des SG zum Termin am ist der Beklagten zugegangen, nicht jedoch die mit einfachem Brief und gegen Empfangsbekenntnis (EB) am verschickte Ausfertigung des ; ein Briefrücklauf an das SG ist nach Aktenlage nicht festzustellen. Erst die erneute Zustellung des erstinstanzlichen Urteils gemäß § 63 Abs 2 Satz 1 SGG, § 176 ZPO mit Postzustellungsurkunde (PZU) vom ist erfolgreich gewesen.
- Die Terminsladung des LSG zur mündlichen Verhandlung am ist mit einfachem Brief am durch die Geschäftsstelle versandt worden. Diese Ladung hat die Beklagte nach ihrem Vortrag nicht erhalten; ein Briefrücklauf an das LSG ist nach Aktenlage nicht festzustellen.
- Die mit einfachem Brief versandte Niederschrift des hat die Beklagte am erhalten, nicht jedoch die mit einfachem Brief und gegen EB am verschickte Ausfertigung des ; ein Briefrücklauf an das LSG ist nach Aktenlage nicht festzustellen. Erst die erneute Zustellung des zweitinstanzlichen Urteils gemäß § 63 Abs 2 Satz 1 SGG, § 176 ZPO mit PZU vom ist erfolgreich gewesen.
- Alle bei der Beklagten nicht angekommenen Schriftstücke sind parallel auch an den Prozessbevollmächtigten des Klägers versandt worden und dort zeitnah und bestimmungsgemäß eingegangen.
Der Senat hat versucht, diese Auffälligkeiten aufzuklären, und ua einen Erörterungstermin mit Beweisaufnahme durchgeführt (zu deren Zulässigkeit auch im Revisionsverfahren vgl Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 163 RdNr 6 mwN). Die Beklagte hat dazu erklärt, der als Zeuge geladene Vorsitzende des Vorstandes könne keine Auskünfte zu organisatorischen Abläufen erteilen und werde nicht erscheinen; hierzu sei allenfalls der Leiter des Referats "Private Pflegeversicherung" in der Lage. Dessen Ladung sei jedoch überflüssig, weil auch dieser nur bestätigen könne, dass richtig adressierte Schreiben von der Poststelle angenommen und unverzüglich an den zuständigen Fachbereich weitergeleitet würden; dort würden sie den jeweils bearbeitenden Mitarbeiter erreichen. Weitere Angaben könne sie zu diesem Thema nicht machen; dies hat sie durch eine schriftliche "Bestätigung" ihres Vorstandes vom nochmals bekräftigt.
c) Terminsbestimmungen und Ladungen sind nach § 63 Abs 1 Satz 2 SGG idF durch das 6. SGGÄndG vom (BGBl I S 2144) grundsätzlich nicht mehr zuzustellen, sondern "nur" noch bekannt zu geben. Erfolgt gleichwohl eine förmliche Zustellung der Ladung - etwa gegen EB oder mit PZU -, so wird damit der Nachweis der Bekanntgabe erbracht; der mögliche Vorwurf einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist in aller Regel ausgeräumt. Daraus folgt aber nicht, dass in allen anderen Fällen der "schlichten" Bekanntgabe der Ladung immer von einer Verletzung des § 62 SGG auszugehen ist, wenn von Seiten eines Beteiligten behauptet wird, die Ladung nicht erhalten zu haben. Ob dies zutrifft, hat das Gericht - auch noch im Rechtsmittelverfahren - von Amts wegen zu prüfen. Dabei ist es nicht an die allgemeinen Vorschriften über das Beweisverfahren gebunden, sondern es entscheidet im Wege des sog Freibeweises; die richterliche Überzeugungsbildung muss sich nicht auf ein förmliches Beweisverfahren gründen, gleichwohl sind aber die Garantien des rechtsstaatlichen Verfahrens zu beachten (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, Vor § 51 RdNr 20 und § 64 RdNr 6a - jew mit zahlr Nachw aus der Rspr). Dies gilt für alle prozessualen Komponenten des Verfahrens und damit auch für die Frage, ob eine ordnungsgemäße Ladung der Beteiligten erfolgt ist.
Hiervon ausgehend ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass die am vom LSG gefertigte und abgesandte Terminsladung nicht bestimmungsgemäß in den Herrschaftsbereich der Beklagten gelangt ist. Hiergegen spricht vor allem, dass weder ein entsprechender Briefrücklauf beim LSG zu verzeichnen ist noch Gründe erkennbar sind, weshalb das ordnungsgemäß adressierte Schriftstück des LSG nicht in München angekommen sein sollte. Zudem ist die Häufung angeblicher Zustellungsmängel allein in diesem Verfahren - gerade bei Zusendung von Schriftstücken gegen EB - nicht nachvollziehbar, zumal die Beklagte hierfür keine Begründung angeben kann. Dies gilt umso mehr, als die an den Prozessbevollmächtigten des Klägers parallel verschickten Postsendungen dort zeitnah und bestimmungsgemäß angekommen sind. Sowohl die Beklagte (Sitz in München) als auch der Prozessbevollmächtigte des Klägers (Kanzlei in Berlin) sind nicht am Gerichtsort des LSG in Potsdam ansässig; in beiden Fällen handelt es sich also um überörtliche und nicht am Gerichtssitz bewirkte Zustellungen, so dass auch insoweit keine unterschiedliche Sachverhaltsbewertung begründet ist.
Für eine weitere Beweiserhebung - etwa durch Ladung und Vernehmung des Leiters des Referats "Private Pflegeversicherung" bei der Beklagten - hat der Senat keine Veranlassung gesehen. Wie die Beklagte durch schriftliche "Bestätigung" ihres Vorstandes vom unmissverständlich ausgeführt und in ihrem Schriftsatz vom nochmals bekräftigt hat, ist keine weitere sachliche Aufklärung zu erwarten; deshalb besteht auch für den Senat keine weitergehende Verpflichtung, in Erfüllung seiner Amtsermittlungspflicht (§ 103 Satz 1 SGG) tätig zu werden.
2. Darüber hinaus rügt die Beklagte das Vorliegen einer Überraschungsentscheidung, weil das LSG unter dem mitgeteilt hat: "Der erkennende Senat (auch der Berichterstatter) teilt die dargelegte Auffassung zu den Schiedsgutachten in der Privaten Krankenversicherung. Ich gebe Gelegenheit zur ergänzenden Stellungnahme". Daraus habe sie entnommen, dass das LSG ihrer Argumentation folgen wolle; das anschließende und für sie negative Berufungsurteil habe sie völlig überrascht. Der Senat vermag indes einen Verfahrensfehler nicht zu erkennen. Zum einen konnte die Beklagte nach dem Hinweis des LSG keinesfalls davon ausgehen, ihrer Berufung werde stattgegeben. Denn der Hinweis bezog sich auf den vorangegangenen Schriftsatz der Beklagten vom , in welchem diese die ihrer Meinung nach einschlägige BSG-Rechtsprechung zu den Schiedsgutachten wiedergegeben hatte. Eine inhaltliche Festlegung des LSG auf einen bestimmten Ausgang des Rechtsstreits war damit nicht verbunden. Zum anderen muss ein Gericht nicht ausdrücklich jedes Vorbringen der Beteiligten bescheiden; eine unfaire Überraschungsentscheidung und damit ein durchgreifender Verfahrensfehler ist nur dann anzunehmen, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Falles ergibt (vgl -, BVerfGE 22, 267; -, BVerfGE 96, 205), etwa wenn ein Gericht das Gegenteil des Vorgebrachten - ohne entsprechende Beweisaufnahme - annimmt, wenn es den Vortrag eines Beteiligten als nicht vorgetragen behandelt oder wenn es auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht (vgl - mwN). Eine derartige besondere Fallgestaltung ist vorliegend nicht ersichtlich.
3. Der Senat sieht Veranlassung, darauf hinzuweisen, dass die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in Streitsachen der privaten Pflegeversicherung nach dem SGB XI gerichtliche Zustellungen an private Versicherungsunternehmen gemäß § 63 Abs 2 SGG iVm § 174 ZPO auch gegen EB bewirken können. Denn nach § 174 Abs 1 ZPO kann ein Schriftstück an einen Rechtsanwalt, Notar, Gerichtsvollzieher, Steuerberater oder an eine sonstige Person, bei der auf Grund ihres Berufes von einer erhöhten Zuverlässigkeit ausgegangen werden kann, sowie an eine Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts gegen EB zugestellt werden. Die privaten Pflegeversicherungsunternehmen sind dabei nicht ausdrücklich genannt; sie sind auch keine Behörden iS von § 1 Abs 2 SGB X. Sie gelten aber - ähnlich wie Behörden - als juristische Personen mit "erhöhter Zuverlässigkeit". Das ergibt sich zum einen aus § 63 Abs 2 Satz 2 SGG, wonach die Regelung des § 174 ZPO auch auf die nach § 73 Abs 2 Satz 2 Nr 3 bis 9 SGG zur Prozessvertretung zugelassenen Personen anzuwenden sind. Das sind ua berufsständische Vereinigungen der Landwirtschaft (Nr 6), Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände (Nr 7) sowie bestimmte rechtsberatende bzw prozessvertretende Organisationen (Nr 9). Privatrechtlich verfasste Pflegeversicherungsunternehmen sind dort nicht gelistet, wohl aber in § 73 Abs 4 Satz 4 SGG; dort wird ihnen wie Behörden und juristischen Personen des öffentlichen Rechts ausdrücklich ein Selbstvertretungsrecht vor dem BSG eingeräumt. Private Pflegeversicherungsunternehmen genießen damit das sog Behördenprivileg (vgl dazu Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 73 RdNr 51) und besitzen ähnlich wie die in § 73 Abs 2 Satz 2 Nr 3 bis 9 SGG genannten Institutionen eine besondere Stellung im sozialgerichtlichen Verfahren. Zum anderen räumt das SGB XI den privaten Pflegeversicherungsunternehmen einen Stellenwert ein, der demjenigen der Pflegekassen in der sozialen Pflegeversicherung vergleichbar ist (§ 1 Abs 2 SGB XI): So besteht Versicherungspflicht nach § 23 Abs 1 SGB XI, es gelten weitgehend einheitliche Versicherungsbedingungen (vgl § 110 SGB XI) und es ist das Gleichwertigkeitsgebot des § 23 Abs 2 SGB XI zu beachten. Die gesetzliche Pflegeversicherung ist mithin als pluralistisches System ausgestaltet, dem die Träger der sozialen und privaten Pflegeversicherung gleichermaßen verpflichtet sind. Deshalb ist es auch gerechtfertigt, Pflegekassen und private Pflegeversicherungsunternehmen bei der Frage, ob ihnen gerichtliche Schriftstücke gegen EB zugestellt werden können, gleich zu behandeln (vgl auch BSG SozR 3-1500 § 164 Nr 13, juris RdNr 8).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
EAAAD-43706