Ansatz zusätzlicher Einkünfte bei grenzüberschreitendem Geschäftsverkehr
Leitsatz
Ein Gestaltungsmissbrauch im Sinne des § 42 AO kann darin liegen, dass ein Steuerinländer seine Geschäfte über eine ausländische Kapitalgesellschaft abwickelt, ohne dass dies auf wirtschaftlichen oder sonst beachtlichen Gründen beruht, vorausgesetzt, zwischen dem Steuerinländer und der ausländischen Gesellschaft besteht eine gesellschaftsrechtliche Verflechtung.
Eine gesellschaftsrechtliche Verflechtung in diesem Sinne kann auch dann bestehen, wenn an der ausländischen Gesellschaft eine dem Steuerinländer nahestehende Person beteiligt ist bzw. mehrere solche Personen beteiligt sind.
Entfaltet eine ausländische Kapitalgesellschaft eine eigene Geschäftstätigkeit, kann das gesamte Einkommen aus den von einem Steuerinländer für diese Gesellschaft abgewickelten Geschäften nicht allein deshalb dem Steuerinländer zugerechnet werden, weil die formale Gestaltung dieser Geschäfte unübersichtlich ist und nicht plausibel erscheint.
Gesetze: AO § 42, AStG § 1, AStG § 7 Abs. 1, KStG § 8 Abs. 3 Satz 2
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
1 I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der S-GmbH, die im Verfahren vor dem Finanzgericht (FG) Klägerin war. Er führt das von der S-GmbH eingeleitete Rechtsmittelverfahren fort. Streitig ist, ob Einkünfte einer Liechtensteiner Gesellschaft der S-GmbH zugerechnet werden können.
2 Die S-GmbH wurde im Jahr 1996 errichtet. Ihre Gesellschafter waren zu Beginn der Streitjahre (1997 bis 1999) X, Y und Z; im Jahr 1997 traten zwei weitere Gesellschafter hinzu. Bei den notariellen Beurkundungen der Anteilsübertragungen war, da nicht alle Gesellschafter der deutschen Sprache vollumfänglich mächtig waren, entweder als Dolmetscher oder als Vertreter der handelnden Parteien T anwesend. Geschäftsführer der S-GmbH war in den Streitjahren zunächst X und ab Mitte März 1999 G.
3 Die Geschäftsleitung der S-GmbH befand sich in Berlin. In einer ebenfalls im Inland befindlichen Fabrikationsstätte verarbeitete die S-GmbH . zu Halbfertigprodukten (Rohlingen). Mit Vertrag vom vereinbarte sie mit der in Liechtenstein ansässigen Gesellschaft B die Lohnveredelung von . zum Preis von zunächst 0,026 DM pro Rohling; die Vergütung wurde später auf 0,03 DM pro Rohling angehoben. Die Rohlinge lieferte sie überwiegend im Auftrag der B an Abnehmer in Osteuropa. Das Rohmaterial stellte großenteils B zur Verfügung; die S-GmbH übernahm den Versand der Rohlinge und erstellte Zollpapiere und Rechnungen.
4 B hatte nach Auskunft des damaligen Bundesamts für Finanzen in Liechtenstein nur einen Satzungssitz. Ihre alleinige Anteilseignerin war eine in Liechtenstein ansässige Treuhandgesellschaft (A-Trust), die im Auftrag ihrer Kunden Gesellschaften strukturiert, gründet und verwaltet. Der A-Trust gehört zu einer Unternehmensgruppe, die Treuhand-, Gesellschafts-, Vermögensverwaltungs- und Family-Office-Dienste anbietet.
5 Im Rahmen einer Steuerfahndungsprüfung wurden bei der S-GmbH u.a. Geschäftsunterlagen, Stempel, Siegel und Kontoauszüge der B sowie der Firma M vorgefunden. M ist eine liechtensteinische Gesellschaft, die nach ihrer Satzung dieselbe Anschrift hat wie B. Im weiteren Verlauf der Ermittlungen erklärten die Gesellschafter der S-GmbH an Eides Statt, nicht an B beteiligt zu sein; ferner wurde die in russischer Sprache abgefasste eidesstattliche Versicherung eines L vorgelegt, in der dieser sich als „Nutznießer” von B und M bezeichnete und erklärte, die —ihm bekannten— übrigen Nutznießer beider Unternehmen hätten weder Wohnort noch wirtschaftliche Interessen in Deutschland und seien nicht Gesellschafter der S-GmbH.
6 Auf Grund dieser Feststellungen rechnete der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) bei der Besteuerung der S-GmbH für die Streitjahre dem Einkommen gemäß § 1 des Außensteuergesetzes (AStG) Einkünfte der B hinzu, und zwar in Höhe von 2.751.104 DM (1997), 6.404.560 DM (1998) und 4.265.005 DM (1999). Er ging hierbei davon aus, dass B eine Domizilgesellschaft und zugleich eine der S-GmbH nahe stehende Person (§ 1 Abs. 2 AStG) gewesen sei, und ermittelte die Einkünfte der B im Wege der Schätzung. Die daraufhin erhobene Klage hat das FG abgewiesen; zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Einkünfte der B gemäß § 42 der Abgabenordnung (AO) bei der Klägerin zu besteuern seien.
7 Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung materiellen Rechts und Verfahrensmängel. Er beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die angefochtenen Bescheide dahin zu ändern, dass das Einkommen der S-GmbH ohne Berücksichtigung von Hinzurechnungen gemäß § 42 AO ermittelt wird.
8 Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
9 II. Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Dessen Feststellungen lassen eine abschließende Beurteilung der Rechtslage nicht zu.
10 1. Nach § 42 Satz 1 AO in der im Streitfall maßgeblichen Fassung (AO a.F.) kann durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts das Steuergesetz nicht umgangen werden. Liegt ein Missbrauch vor, so entsteht der Steueranspruch so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht (§ 42 Satz 2 AO a.F.). Auf diese Bestimmungen hat das FG seine Entscheidung gestützt: Im Streitfall seien Gewinne der S-GmbH in missbräuchlicher Weise auf die B verlagert worden, was dazu führe, dass die von B erzielten Gewinne der S-GmbH zuzurechnen seien. Diese Beurteilung wird von den im FG-Urteil wiedergegebenen tatsächlichen Feststellungen nicht getragen.
11 a) Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats kann ein Gestaltungsmissbrauch i.S. des § 42 AO darin liegen, dass ein Steuerinländer seine Geschäfte über eine ausländische Kapitalgesellschaft abwickelt, ohne dass dies auf wirtschaftlichen oder sonst beachtlichen Gründen beruht (Senatsurteil vom I R 38/00, BFHE 198, 514, BStBl II 2002, 819, 821 f.; Schmieszek in Beermann/Gosch, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 42 AO Rz 159, m.w.N.). Eine dahin gehende Beurteilung setzt aber voraus, dass zwischen dem Steuerinländer und der ausländischen Gesellschaft eine gesellschaftsrechtliche Verflechtung besteht (Senatsurteil vom I R 126/77, BFHE 128, 61, BStBl II 1979, 586). Daran hält der Senat mit der Maßgabe fest, dass eine „gesellschaftsrechtliche Verflechtung” in diesem Sinne auch dann bestehen kann, wenn an der ausländischen Gesellschaft eine dem Steuerinländer nahe stehende Person beteiligt ist bzw. mehrere solche Personen beteiligt sind. Inhaltlich beruht das Erfordernis der gesellschaftsrechtlichen Verflechtung auf dem Gedanken, dass von einer ausschließlich formalen Einschaltung der ausländischen Gesellschaft nur dann gesprochen werden kann, wenn das vermittels der Gesellschaft erzielte Einkommen letztlich dem Steuerinländer oder ihm nahe stehenden Personen zugute kommt.
12 b) Im Streitfall hat das FG eine gesellschaftsrechtliche Verflechtung im vorstehend genannten Sinne nicht festgestellt. Es ist vielmehr zum einen davon ausgegangen, dass an der S-GmbH zunächst X, Y und Z sowie später zwei weitere Gesellschafter beteiligt waren. Zum anderen hat es den Vortrag des Klägers als wahr unterstellt, dass weder die S-GmbH noch deren Gesellschafter an B beteiligt gewesen seien. Anhaltspunkte dafür, dass entweder der als „Nutznießer” der B bezeichnete L oder andere an B beteiligte Personen der S-GmbH oder deren Gesellschaftern nahe gestanden hätten, sind dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Angesichts dessen rechtfertigen die vom FG getroffenen Feststellungen nicht den Schluss, dass B in missbräuchlicher Weise in die von der S-GmbH unterhaltenen Geschäftsbeziehungen eingeschaltet worden ist.
13 2. Die vom FA begehrte Einkommenszurechnung kann auch nicht aus der in der Revisionserwiderung angestellten Überlegung abgeleitet werden, dass nach den Feststellungen des FG der Vertrieb der Rohlinge im Wesentlichen von der S-GmbH —und nicht von der B— abgewickelt worden sei. Sie könnte zwar gerechtfertigt sein, wenn anzunehmen wäre, dass zumindest der vom FA hinzugeschätzte Gewinn tatsächlich von der S-GmbH erzielt worden oder an diese oder ihre Gesellschafter weitergeleitet worden ist. In diesem Fall wäre das angefochtene Urteil im Ergebnis richtig (§ 126 Abs. 4 FGO), weil dann die S-GmbH ein entsprechend höheres Einkommen erzielt hätte, das unabhängig von der Anwendung des § 42 AO für Zwecke ihrer Besteuerung anzusetzen wäre. Einen solchen Sachverhalt hat das FG aber ebenfalls nicht festgestellt. Es hat zwar ausgeführt, dass die S-GmbH im Verhältnis zu B nicht nur als Lohnveredler aufgetreten und dass nach dem Gesamtbild der Verhältnisse für die Einschaltung der B „kein wirtschaftlicher Grund ersichtlich” sei. Allein daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass die formal bei der B angefallenen Gewinne tatsächlich —vollständig oder teilweise— auf die S-GmbH entfallen sind. Ebenso bieten die Feststellungen des FG keinen ausreichenden Anknüpfungspunkt für eine Anwendung von § 1 oder von § 7 Abs. 1 AStG oder für die Annahme, dass es im Verhältnis zwischen der S-GmbH und B zu verdeckten Gewinnausschüttungen i.S. des § 8 Abs. 3 Satz 2 des Körperschaftsteuergesetzes gekommen sei.
14 3. Im Kern beruht die Entscheidung des FG erkennbar auf der Überzeugung, dass die vom Kläger behauptete Gestaltung der Geschäftsbeziehungen zwischen der S-GmbH und B einer vernünftigen wirtschaftlichen Betrachtung widerspreche und dass die Dinge sich deshalb anders zugetragen haben müssen als in der Buchführung der S-GmbH dargestellt. Allein darauf kann jedoch das Entscheidungsergebnis nicht gestützt werden. Eine Erfassung der streitigen Einkünfte bei der S-GmbH setzt vielmehr voraus, dass das FG in verfahrensfehlerfreier Weise zur Feststellung eines Sachverhalts gelangt, aus dem heraus sich eine entsprechende Einkunftszurechnung rechtlich ableiten lässt. Daran fehlt es im Streitfall.
15 So hat das FG insbesondere nicht festgestellt, dass entweder die B —entgegen dem Vortrag des Klägers— von den Gesellschaftern der S-GmbH oder umgekehrt die S-GmbH von den Gesellschaftern der B oder beide Gesellschaften von dritten Personen beherrscht worden sind; im erstgenannten Fall könnte in rechtlicher Hinsicht für die Anwendung des § 42 AO oder der erwähnten außensteuerrechtlichen Vorschriften, im zweiten für die Annahme verdeckter Gewinnausschüttungen und im dritten für alle diese Überlegungen Raum sein. Ebenso enthält das angefochtene Urteil keine Aussage des Inhalts, dass alternativ mehrere zur Einkommenserhöhung führende Sachverhalte denkbar seien und dass die S-GmbH jedenfalls einen dieser Sachverhalte verwirklicht habe; das wäre Voraussetzung dafür, dass der Besteuerung der S-GmbH derjenige Sachverhalt zu Grunde gelegt wird, aus dem sich die geringste Einkommenserhöhung ergibt. Schließlich kann die Zuordnung der in Rede stehenden Einkünfte zur S-GmbH nicht auf die Erwägung gestützt werden, dass B nicht wirtschaftlich aktiv gewesen sei; das gilt schon deshalb, weil B nach den Feststellungen des FG durchaus eine eigene Geschäftstätigkeit entfaltet hat. Vor diesem Hintergrund ist es nicht zulässig, unter Verzicht auf die vom Kläger angebotenen Beweismittel der S-GmbH allein deshalb das gesamte Einkommen aus den in Rede stehenden Geschäften zuzurechnen, weil die formale Gestaltung jener Geschäfte unübersichtlich ist und nicht plausibel erscheint. Die Revision bemängelt daher zu Recht, dass die angegriffene Entscheidung nicht auf ausreichenden tatsächlichen Feststellungen beruht.
16 4. Diese Feststellungen können im Revisionsverfahren nicht getroffen werden, weshalb der Rechtsstreit an das FG zurückverwiesen werden muss. Im zweiten Rechtsgang wird das FG erneut versuchen müssen, sich ein Bild von den tatsächlichen Verhältnissen des Streitfalls zu machen. Dabei wird ggf. zu beachten sein, dass im Hinblick auf die Aufklärung von Verhältnissen im Ausland den Kläger eine gesteigerte Mitwirkungspflicht trifft (§ 90 Abs. 2 AO i.V.m. § 76 Abs. 1 Satz 3 FGO) und dass deren Verletzung zu einer Minderung des Beweismaßes führen kann (, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462). Sofern das FG auch unter Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts den maßgeblichen Sachverhalt nicht in ausreichendem Maße ermitteln kann, wird es den Rechtsstreit nach Beweislastgrundsätzen entscheiden müssen.
17 5. Auf die vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen muss im Streitfall nicht eingegangen werden.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
AO-StB 2010 S. 104 Nr. 4
BFH/NV 2010 S. 688 Nr. 4
HFR 2010 S. 689 Nr. 7
StBW 2010 S. 160 Nr. 4
SAAAD-38254