EuGH Urteil v. - C-314/08

Recht auf Abzug der Sozialversicherungsbeiträge von der Bemessungsgrundlage

Leitsatz

1. Die Art. 43 EG und 49 EG stehen einer nationalen Regelung entgegen, wonach ein gebietsansässiger Steuerpflichtiger nur dann Anspruch darauf hat, dass der Betrag der im Steuerjahr gezahlten Sozialversicherungsbeiträge von der Bemessungsgrundlage abgezogen wird und dass die von ihm geschuldete Einkommensteuer um die in diesem Zeitraum gezahlten Krankenversicherungsbeiträge gemindert wird, wenn diese Beiträge im Mitgliedstaat der Besteuerung entrichtet werden, nicht aber, wenn die Beiträge in einem anderen Mitgliedstaat entrichtet werden, auch wenn sie dort nicht abgezogen wurden.

2. Unter diesen Umständen verpflichtet der Vorrang des Gemeinschaftsrechts das nationale Gericht, das Gemeinschaftsrecht anzuwenden und die entgegenstehenden nationalen Vorschriften unangewandt zu lassen, unabhängig vom Urteil des nationalen Verfassungsgerichts, mit dem der Zeitpunkt, zu dem diese für verfassungswidrig erklärten Vorschriften ihre Geltungskraft verlieren, verschoben worden ist.

Instanzenzug: Wojewódzki SÄ_d Administracyjny w Poznaniu (Polen) - Entscheidung vom 30.05.2008 (Verfahrensverlauf),

Gründe

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 43 EG und 49 EG.

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Filipiak, einem in Polen unbeschränkt steuerpflichtigen polnischen Staatsangehörigen, und dem Dyrektor Izby Skarbowej w Poznaniu (Direktor der Finanzkammer Poznań) wegen der Weigerung der polnischen Steuerverwaltung, ihm Steuervergünstigungen im Zusammenhang mit den im Steuerjahr gezahlten Sozial- und Krankenversicherungsbeiträgen zu gewähren, wenn die Beiträge in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat der Besteuerung entrichtet werden, während dem Steuerpflichtigen solche Vergünstigungen gewährt werden, wenn die Beiträge im Mitgliedstaat der Besteuerung entrichtet werden.

Nationaler rechtlicher Rahmen

Art. 2 der Verfassung der Republik Polen bestimmt:

"Die Republik Polen ist ein demokratischer Rechtsstaat, der die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit verwirklicht."

Art. 8 der Verfassung der Republik Polen lautet:

"(1) Die Verfassung ist das oberste Recht der Republik Polen.

(2) Die Vorschriften der Verfassung werden unmittelbar angewandt, es sei denn, dass die Verfassung etwas anderes bestimmt."

Art. 32 der Verfassung der Republik Polen sieht vor:

"(1) Alle sind vor dem Gesetz gleich. Alle haben das Recht, von der öffentlichen Gewalt gleich behandelt zu werden.

(2) Niemand darf aus welchem Grund auch immer im politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Leben diskriminiert werden."

Art. 91 der Verfassung der Republik Polen bestimmt:

"(1) Ein ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag ist nach seiner Bekanntmachung im Gesetzblatt der Republik Polen ein Teil der inländischen Rechtsordnung und wird unmittelbar angewandt, es sei denn, dass seine Anwendung vom Erlass eines Gesetzes abhängig gemacht worden ist.

(2) Ein mit vorheriger Zustimmung durch Gesetz ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag hat Vorrang vor einem Gesetz, wenn das Gesetz sich mit dem Vertrag nicht vereinbaren lässt.

(3) Wenn dies in einem von der Republik Polen ratifizierten Vertrag, durch den eine internationale Organisation ins Leben gerufen worden ist, vorgesehen ist, wird das von dieser Organisation gesetzte Recht unmittelbar angewandt und hat im Fall der Kollision mit einem Gesetz Vorrang."

Art. 188 der Verfassung der Republik Polen lautet:

"Das Trybunał Konstytucyjny [Verfassungsgericht der Republik Polen] entscheidet über

1. die Vereinbarkeit der Gesetze und der völkerrechtlichen Verträge mit der Verfassung,

2. die Vereinbarkeit der Gesetze mit den ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen, deren Ratifizierung eine vorherige Zustimmung durch Gesetz voraussetzt,

3. die Vereinbarkeit der Rechtsvorschriften, die von zentralen Staatsorganen erlassen werden, mit der Verfassung, den ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen und den Gesetzen,

4. die Vereinbarkeit der Ziele oder Tätigkeit der politischen Parteien mit der Verfassung,

5. die Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 79 Abs. 1."

In Art. 190 Abs. 1 bis 4 der Verfassung der Republik Polen heißt es:

"(1) Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind allgemein bindend und endgültig.

...

(3) Die Entscheidung des Verfassungsgerichts tritt am Tag der Verkündung in Kraft. Das Verfassungsgericht kann jedoch eine andere Frist bestimmen, mit deren Ablauf der Normativakt seine Geltungskraft verliert. Ist ein Gesetz betroffen, darf diese Frist 18 Monate nicht überschreiten. Bei anderen Normativakten darf die Frist nicht länger als zwölf Monate betragen. ...

(4) Stellt das Verfassungsgericht die Unvereinbarkeit eines Normativakts mit der Verfassung, einem völkerrechtlichen Vertrag oder einem Gesetz fest und ist auf der Grundlage dieses Normativakts eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung, endgültige Verwaltungsentscheidung oder Entscheidung in anderen Angelegenheiten ergangen, bildet die Entscheidung des Verfassungsgerichts die Grundlage für die Wiederaufnahme des Verfahrens oder die Aufhebung der Entscheidung nach den Grundsätzen und gemäß der Verfahrensweise, die in den auf das jeweilige Verfahren anwendbaren Vorschriften geregelt sind."

Art. 3 Abs. 1 des Gesetzes vom 26. Juli 1991 über die Einkommensteuer (Ustawa z dnia 26 lipca 1991 r. o podatku dochodowym od osób fizycznych, Dz. U. 2000, Nr. 14, Pos. 176, im Folgenden: Einkommensteuergesetz), der den Grundsatz der unbeschränkten Steuerpflicht aufstellt, sieht vor:

"Natürliche Personen, die ihren Wohnsitz in der Republik Polen haben, unterliegen unabhängig vom Entstehungsort der Einkünfte mit ihrem gesamten Einkommen der Steuerpflicht ..."

Art. 26 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes bestimmt:

"Vorbehaltlich des Art. 24 Abs. 3, der Art. 29 bis 30c und des Art. 30e ist Grundlage für die Berechnung der Steuer das nach Art. 9, Art. 24 Abs. 1, 2, 4, 4a bis 4e und 6 oder Art. 24b Abs. 1 und 2 oder Art. 25 festgestellte Einkommen nach Abzug der Beträge

...

2. der Beiträge nach dem Gesetz vom 13. Oktober 1998 über das System der Sozialversicherungen [Ustawa z dnia 13 października 1998 r. o systemie ubezpieczeń społecznych, Dz. U. Nr. 137, Pos. 887, mit Änderungen, im Folgenden: Gesetz über das System der Sozialversicherungen], die

a) im Steuerjahr unmittelbar für eine eigene Altersrenten-, Renten-, Kranken- oder Unfallversicherung des Steuerpflichtigen und seiner Mitarbeiter gezahlt wurden,

b) im Steuerjahr ... von Mitteln des Steuerpflichtigen abgezogen wurden ..."

In Art. 27b des Einkommensteuergesetzes heißt es:

"Von der nach Art. 27 oder Art. 30c bemessenen Einkommensteuer wird in erster Linie der Betrag der Beiträge zu der im Gesetz vom 27. August 2004 über die aus öffentlichen Mitteln finanzierten Leistungen der Gesundheitsfürsorge [Ustawa z dnia 27 sierpnia 2004 r. o świadczeniach opieki zdrowotnej finansowanych ze środków publicznych, Dz. U. Nr. 210, Pos. 2135, im Folgenden: Gesetz über die aus öffentlichen Mitteln finanzierten Leistungen der Gesundheitsfürsorge] genannten Krankenversicherung abgezogen,

1. die im Steuerjahr unmittelbar von dem Steuerpflichtigen gemäß den Vorschriften über die aus öffentlichen Mitteln finanzierten Leistungen der Gesundheitsfürsorge gezahlt worden sind,

2. die im Steuerjahr von einem Zahlungspflichtigen gemäß den Vorschriften über die aus öffentlichen Mitteln finanzierten Leistungen der Gesundheitsfürsorge eingezogen worden sind.

...

(2) Der Betrag der Krankenversicherungsbeiträge, der von der Steuer abgezogen wird, darf 7,75 % der Bemessungsgrundlage dieser Beiträge nicht überschreiten.

..."

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung übte der polnische Staatsangehörige Herr Filipiak im entscheidungserheblichen Zeitraum eine wirtschaftliche Tätigkeit in den Niederlanden als Gesellschafter einer Personengesellschaft niederländischen Rechts aus, deren Organisationsstruktur der einer offenen Handelsgesellschaft polnischen Rechts entsprach.

Aus der Vorlageentscheidung geht weiter hervor, dass Herr Filipiak in Polen der unbeschränkten Steuerpflicht unterliegt, was aufgrund von Art. 3 des Einkommensteuergesetzes die Annahme zulässt, dass er seinen Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat hat.

In den Niederlanden zahlte Herr Filipiak die nach niederländischem Recht zu entrichtenden Sozial- und Krankenversicherungsbeiträge.

Mit Schreiben vom 28. Juni 2006 beantragte Herr Filipiak beim Leiter des Finanzamts Nowy Tomyśl, eine schriftliche Auslegung des Steuerrechts hinsichtlich seines Anwendungsbereichs und der Art seiner Anwendung vorzunehmen.

In seinem Auslegungsantrag führte Herr Filipiak aus, dass ihn die Vorschriften des Einkommensteuergesetzes daran hinderten, von der Bemessungsgrundlage den Betrag der in den Niederlanden gezahlten Sozialversicherungsbeiträge abzuziehen und die Steuer um den Betrag der ebenfalls in den Niederlanden gezahlten Krankenversicherungsbeiträge zu mindern. Derartige Vorschriften seien diskriminierend, weshalb sie außer Acht zu lassen seien und direkt das Gemeinschaftsrecht anzuwenden sei.

Auf den Auslegungsantrag hin erklärte der Leiter des Finanzamts Nowy Tomyśl den Standpunkt von Herrn Filipiak mit Bescheiden vom 2. August 2007 für falsch.

Er legte dar, dass nach Art. 26 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes nur die im Gesetz über das System der Sozialversicherungen genannten Sozialversicherungsbeiträge von der Bemessungsgrundlage und nach Art. 27b Abs. 1 dieses Gesetzes nur die im Gesetz über die aus öffentlichen Mitteln finanzierten Leistungen der Gesundheitsfürsorge genannten Krankenversicherungsbeiträge von der Steuer abgezogen werden könnten. Da die nach niederländischem Recht gezahlten Beiträge die Voraussetzungen dieser Vorschriften nicht erfüllten, könnten sie in Polen weder von der Bemessungsgrundlage noch von der Einkommensteuer abgezogen werden.

Der Dyrektor Izby Skarbowej w Poznaniu hielt nach Prüfung der von Herrn Filipiak bei ihm eingelegten Einsprüche die Bescheide des Leiters des Finanzamts Nowy Tomyśl vom 2. August 2007 aufrecht.

Herr Filipiak erhob beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Poznaniu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Poznań) Klagen gegen diese Bescheide, die seiner Auffassung nach gegen die Art. 26 Abs. 1 Nr. 2 und 27b Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes, Art. 39 Abs. 2 EG, Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (ABl. L 117, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71), und gegen verschiedene Bestimmungen der Verfassung der Republik Polen verstoßen.

Nach Auffassung des Wojewódzki Sąd Administracyjny w Poznaniu liegen die Voraussetzungen für eine Verletzung der in Art. 39 EG verankerten Arbeitnehmerfreizügigkeit im vorliegenden Fall nicht vor. Da der Kläger des Ausgangsverfahrens als Unternehmer an einer in den Niederlanden ansässigen offenen Handelsgesellschaft beteiligt sei, arbeite er auf eigene Rechnung und unterliege dabei weder den Weisungen noch der Kontrolle einer anderen Person. Er könne daher nicht als "Arbeitnehmer" im Sinne von Art. 39 EG gelten.

Das vorlegende Gericht hält es für unerlässlich, zu prüfen, ob die fraglichen Vorschriften mit einer von Herrn Filipiak nicht angeführten Bestimmung, Art. 43 EG, vereinbar seien, wenn sie ausschlössen, dass ein Steuerpflichtiger, der in Polen mit dem gesamten Einkommen der unbeschränkten Steuerpflicht unterliege und eine wirtschaftliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübe, von der Bemessungsgrundlage seiner Steuer den Betrag der in den Niederlanden gezahlten obligatorischen Sozialversicherungsbeiträge abziehe und seine Einkommensteuer um den Betrag der ebenfalls in den Niederlanden gezahlten obligatorischen Krankenversicherungsbeiträge mindere, auch wenn diese Beiträge im letztgenannten Mitgliedstaat nicht abgezogen worden seien.

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Trybunał Konstytucyjny bereits über die Frage entschieden habe, ob die Art. 26 Abs. 1 Nr. 2 und 27b des Einkommensteuergesetzes mit der Verfassung der Republik Polen vereinbar seien.

Mit Urteil vom 7. November 2007 (K 18/06, Dz. U. 2007, Nr. 211, Pos. 1549) habe das Trybunał Konstytucyjny nämlich die fraglichen Steuervorschriften für mit dem in Art. 32 der Verfassung der Republik Polen verankerten Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz in Verbindung mit dem in Art. 2 der Verfassung genannten Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit unvereinbar erklärt, soweit sie den in Art. 27 Abs. 9 des Einkommensteuergesetzes genannten Steuerpflichtigen auch dann verwehrten, Sozial- und Krankenversicherungsbeiträge von ihren Einkünften aus einer Tätigkeit außerhalb der Republik Polen und der darauf zu zahlenden Steuer abzuziehen, wenn die entsprechenden Beiträge in dem Mitgliedstaat, in dem die Tätigkeit ausgeübt worden sei, nicht abgezogen worden seien.

In demselben Urteil habe das Trybunał Konstytucyjny gemäß Art. 190 Abs. 3 der Verfassung der Republik Polen den Zeitpunkt, zu dem die von ihm für verfassungswidrig erklärten Vorschriften ihre Geltungskraft verlören, auf ein anderes Datum als das der Verkündung des Urteils verschoben, und zwar auf den 30. November 2008.

Vor diesem Hintergrund hat der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Poznaniu das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Sind die sich aus Art. 43 Abs. 1 und 2 EG ergebenden Regelungen dahin auszulegen, dass sie den innerstaatlichen polnischen Vorschriften in Art. 26 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes, die das Recht, von der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer den Betrag von Beiträgen zur obligatorischen Sozialversicherung abzuziehen, auf die Beiträge beschränken, die nach Vorschriften des nationalen Rechts gezahlt wurden, und in Art. 27b Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes, die das Recht, von der Einkommensteuer den Betrag von Beiträgen zur obligatorischen Krankenversicherung abzuziehen, auf die Beiträge beschränken, die nach Vorschriften des nationalen Rechts gezahlt wurden, in einer Situation entgegenstehen, in der ein polnischer Staatsangehöriger, der in Polen der unbeschränkten Steuerpflicht unterliegt, von in Polen besteuerten Einkünften auch Beiträge an die obligatorische Sozial- und Krankenversicherung in einem anderen Mitgliedstaat abgeführt hat, die für eine dort ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit anfallen, und diese Beiträge in dem entsprechenden anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht von den Einkünften abgerechnet oder von der Steuer abgezogen wurden?

2. Sind der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und die sich aus den Art. 10 EG und 43 Abs. 1 und 2 EG ergebenden Regelungen dahin auszulegen, dass sie den in Art. 91 Abs. 2 und 3 und Art. 190 Abs. 1 und 3 der Verfassung der Republik Polen niedergelegten nationalen Vorschriften vorgehen, soweit auf ihrer Grundlage entschieden wurde, dass ein Urteil des Trybunał Konstytucyjny erst zu einem späteren Zeitpunkt seine Wirkungen entfaltet?

Zur Zulässigkeit

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

Die polnische Regierung bezweifelt, dass der Gerichtshof die Möglichkeit hat, über die vom nationalen Gericht vorgelegten Fragen zu entscheiden.

Die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts und die Fragen des vorlegenden Gerichts wiesen keinen hinreichenden Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits auf. Die Voraussetzung, dass sich die Entscheidung des Gerichtshofs als unerlässlich erweise, damit das vorlegende Gericht in der bei ihm anhängigen Rechtssache entscheiden könne, sei nicht erfüllt. Die Prüfung der vom vorlegenden Gericht dargestellten tatsächlichen und rechtlichen Umstände führe nämlich zu dem Schluss, dass der Rechtsstreit ausschließlich anhand der Vorschriften des nationalen Rechts beurteilt werden könne und sogar werden müsse.

Mit seiner ersten Vorlagefrage wolle das nationale Gericht erfahren, ob es bei seiner Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits die fraglichen Vorschriften des Einkommensteuergesetzes berücksichtigen müsse, soweit diese das Recht des Steuerpflichtigen beeinträchtigten, in Polen die im Ausland gezahlten Sozial- und Krankenversicherungsbeiträge abzuziehen.

In seinem Urteil vom 7. November 2007 habe das Trybunał Konstytucyjny diese Frage aber schon beantwortet, weil es bereits entschieden habe, dass es dem Steuerpflichtigen im Ausgangsfall möglich sein müsse, den Betrag der Sozial- und Krankenversicherungsbeiträge abzuziehen.

Das Urteil vom 7. November 2007, mit dem das Trybunał Konstytucyjny die fraglichen Rechtsvorschriften für mit der Verfassung der Republik Polen unvereinbar erklärt habe, führe dazu, dass die Gerichte die Vorschriften nicht mehr anwenden könnten, entferne diese also vollständig aus der Rechtsordnung.

Dass das Trybunał Konstytucyjny in seinem Urteil vom 7. November 2007 den Zeitpunkt, zu dem die verfassungswidrigen Vorschriften ihre Geltungskraft verlören, verschoben habe, bedeute nicht, dass die als verfassungswidrig eingestuften Vorschriften bis zu dem vom Trybunał Konstytucyjny genannten Datum angewandt werden müssten. Es verhalte sich nicht so, dass die fraglichen Vorschriften bis zu diesem Zeitpunkt mit der Verfassung im Einklang stünden und danach als verfassungswidrig anzusehen seien.

Das vorlegende Gericht müsse folglich die Art. 26 Abs. 1 Nr. 2 und 27b Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes unter Berücksichtigung ihrer Auslegung anhand der Verfassung der Republik Polen anwenden. Im Ausgangsverfahren müsse das vorlegende Gericht, gestützt auf die vom Trybunał Konstytucyjny vorgenommene Auslegung sowie die Grundsätze der Rechtsgleichheit und der sozialen Gerechtigkeit, die Anwendung der fraglichen Vorschriften ablehnen, soweit diese jeglichen Abzug von Sozial- und Krankenversicherungsbeiträgen auch dann ausschlössen, wenn diese Beiträge in dem Mitgliedstaat der Europäischen Union, in dem die wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt worden sei und die Beiträge gezahlt worden seien, nicht abgezogen worden seien.

Für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits sei daher nicht erforderlich, dass die Frage beantwortet werde, ob Art. 43 EG Vorschriften wie den im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehe.

Was die zweite Vorlagefrage angehe, sei die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits nicht erforderlich, weil offensichtlich sei, wie diese Auslegung auszufallen habe.

Das vorlegende Gericht scheine von dem Grundsatz auszugehen, dass es ihm wegen der Verschiebung des Zeitpunkts, zu dem die im Ausgangsverfahren streitigen Vorschriften ihre Geltungskraft verlören, in Verbindung mit der Endgültigkeit der Entscheidungen des Trybunał Konstytucyjny nicht erlaubt sei, die Vereinbarkeit der fraglichen Vorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht zu überprüfen und deren Anwendung abzulehnen, falls es zu dem Schluss gelangen sollte, dass sie nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar seien.

Dieser Standpunkt sei angesichts der Eigenständigkeit der verschiedenen gerichtlichen Kontrollen, um die es sich bei der Überprüfung der fraglichen Vorschriften anhand der Verfassung der Republik Polen und der Überprüfung der Vereinbarkeit dieser Vorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht handele, nicht korrekt.

Die Entscheidung des Trybunał Konstytucyjny, mit der der Zeitpunkt, zu dem die als verfassungswidrig eingestuften Vorschriften ihre Geltungskraft verlören, verschoben werde, stehe einer gerichtlichen Überprüfung dieser Vorschriften im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht nicht entgegen und befreie das vorlegende Gericht im Fall einer Normenkollision nicht von der Verpflichtung, die Anwendung der betreffenden Vorschriften zu unterlassen, falls sie als mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar angesehen werden sollten. Art. 91 der Verfassung der Republik Polen verpflichte nämlich das nationale Gericht, eine im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht stehende Vorschrift des nationalen Rechts unangewandt zu lassen.

Unabhängig von der Möglichkeit, die fraglichen Vorschriften als verfassungswidrig unangewandt zu lassen, dürfe daher das vorlegende Gericht, falls es zu dem Schluss komme, dass diese Vorschriften mit Art. 43 EG unvereinbar seien, auf der Grundlage des nationalen Rechts und möglicherweise der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts es aus eigener Entscheidung ablehnen, sie bei seiner Entscheidung des Rechtsstreits anzuwenden.

Würdigung durch den Gerichtshof

Nach ständiger Rechtsprechung hat in einem Verfahren nach Art. 234 EG nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Gemeinschaftsrechts betreffen (vgl. u. a. Urteile vom 13. März 2001, PreussenElektra, C-379/98, Slg. 2001, I-2099, Randnr. 38, und vom 23. April 2009, Rüffler, C-544/07, Slg. 2009, I-0000, Randnr. 36).

Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass es ihm ausnahmsweise obliegt, zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er vom nationalen Gericht angerufen wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 1981, Foglia, 244/80, Slg. 1981, 3045, Randnr. 21, PreussenElektra, Randnr. 39, und Rüffler, Randnr. 37).

Die Entscheidung über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts kann nur dann abgelehnt werden, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile PreussenElektra, Randnr. 39, und Rüffler, Randnr. 38).

Aus der Vorlageentscheidung und der ersten Vorlagefrage wird deutlich, dass es im Ausgangsrechtsstreit und in dieser Frage unabhängig von der Frage der Verfassungsmäßigkeit der im Ausgangsverfahren streitigen Vorschriften darum geht, ob eine Regelung, die das Recht auf Minderung der Steuer um die gezahlten Krankenversicherungsbeiträge und das Recht auf Abzug der entrichteten Sozialversicherungsbeiträge von der Bemessungsgrundlage verwehrt, wenn diese Beiträge in einem anderen Mitgliedstaat entrichtet wurden, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist.

Die zweite Frage knüpft an die erste an und geht dahin, welche Folgen die Feststellung, dass die außerdem für nicht verfassungskonform erklärten Vorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind, für das nationale Gericht hätte. Im Wesentlichen soll geklärt werden, ob, wenn Art. 43 EG Vorschriften wie den im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, der Vorrang des Gemeinschaftsrechts das nationale Gericht verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht anzuwenden und die fraglichen nationalen Vorschriften unangewandt zu lassen, und zwar noch bevor das Urteil vom 7. November 2007, mit dem das Trybunał Konstytucyjny die Unvereinbarkeit dieser Vorschriften mit einigen Bestimmungen der Verfassung der Republik Polen festgestellt hat, Wirkung entfaltet.

Nach alledem ist nicht offensichtlich, dass die erbetene Auslegung in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünde, das Problem hypothetischer Natur wäre oder der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügte, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.

Somit sind die Vorlagefragen zulässig.

In der Sache

Zur ersten Frage

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 43 EG einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach ein Steuerpflichtiger nur dann Anspruch darauf hat, dass der Betrag der im Steuerjahr gezahlten Sozialversicherungsbeiträge von der Bemessungsgrundlage abgezogen wird und dass die von ihm geschuldete Einkommensteuer um die in diesem Zeitraum gezahlten Krankenversicherungsbeiträge gemindert wird, wenn diese Beiträge im Mitgliedstaat der Besteuerung entrichtet werden, nicht aber, wenn die Beiträge in einem anderen Mitgliedstaat entrichtet werden.

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

Der Standpunkt der polnischen Regierung zur ersten Frage lässt sich im Wesentlichen ihren Ausführungen zur Zulässigkeit entnehmen, die in den Randnrn. 29 bis 33 des vorliegenden Urteils dargestellt sind.

Nach Auffassung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften lässt die Beschreibung der Situation von Herrn Filipiak durch das vorlegende Gericht die Annahme zu, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens mit der Tätigkeit der betreffenden Gesellschaft verbundene Aufgaben selbst habe erfüllen und eine Kontrolle habe ausüben können. Seine Situation falle daher auf den ersten Blick unter Art. 43 EG. Auch Art. 49 EG könne jedoch für die Entscheidung des beim nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreits relevant sein, weil nicht auszuschließen sei, dass Herr Filipiak, der in Polen wohne, auch im niederländischen Hoheitsgebiet Dienstleistungen erbringe.

Die im Ausgangsverfahren streitigen Vorschriften, die das Recht gebietsansässiger Steuerpflichtiger auf Steuervergünstigungen im Zusammenhang mit obligatorischen Versicherungsbeiträgen ausschlössen, wenn diese Beiträge in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Polen gezahlt worden seien, nähmen eine nicht objektiv gerechtfertigte Beschränkung sowohl von Art. 43 EG als auch von Art. 49 EG vor.

Antwort des Gerichtshofs

Mit der Formulierung der ersten Frage grenzt das vorlegende Gericht sein Ersuchen um Auslegung von Art. 43 EG auf den Fall ein, dass die in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Polen gezahlten obligatorischen Sozial- und Krankenversicherungsbeiträge in diesem anderen Mitgliedstaat nicht abgezogen wurden. Die erste Frage ist daher auf der Grundlage der Prämisse zu beantworten, dass die von einem Steuerpflichtigen wie Herrn Filipiak in den Niederlanden entrichteten Pflichtbeiträge in diesem anderen Mitgliedstaat nicht abgezogen werden konnten.

- Zu den anwendbaren Bestimmungen des EG-Vertrags

Nach ständiger Rechtsprechung ist der Begriff der Niederlassung im Sinne von Art. 43 EG ein sehr weiter Begriff, der die Möglichkeit für einen Gemeinschaftsangehörigen impliziert, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaats teilzunehmen (Urteile vom 30. November 1995, Gebhard, C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Randnr. 25, und vom 7. September 2006, N, C-470/04, Slg. 2006, I-7409, Randnr. 26). Somit kann ein Gemeinschaftsangehöriger, der in einem Mitgliedstaat wohnt und eine Beteiligung an einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft hält, die ihm einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft verleiht und ermöglicht, deren Tätigkeiten zu bestimmen, unter die Niederlassungsfreiheit fallen (vgl. in diesem Sinne Urteile N, Randnr. 27, vom 29. März 2007, Rewe Zentralfinanz, C-347/04, Slg. 2007, I-2647, Randnrn. 22 und 70, sowie vom 2. Oktober 2008, Heinrich Bauer Verlag, C-360/06, Slg. 2008, I-7333, Randnr. 27).

Wie die Kommission vorträgt, lässt die Situation eines Steuerpflichtigen wie Herrn Filipiak, der Gesellschafter einer Personengesellschaft niederländischen Rechts ist, deren Organisationsstruktur der einer offenen Handelsgesellschaft polnischen Rechts entspricht, die Annahme zu, dass der betreffende Steuerpflichtige mit der wirtschaftlichen Tätigkeit der betreffenden Gesellschaft verbundene Aufgaben selbst erfüllen konnte und dass er eine Kontrolle über diese Tätigkeit ausübt.

In der Vorlageentscheidung wird jedoch nicht angegeben, ob die Situation von Herrn Filipiak in den Geltungsbereich von Art. 43 EG im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs fällt, ob er also eine Beteiligung an der in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft hält, die es ihm ermöglicht, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen. Das nationale Gericht hat auf jeden Fall zu prüfen, ob dies der Fall ist und ob die Situation von Herrn Filipiak in den Geltungsbereich von Art. 43 EG fällt.

Wie die Kommission ausgeführt hat, wird in der Vorlageentscheidung auch nicht angegeben, ob ein Steuerpflichtiger wie Herr Filipiak zusätzlich zur Ausübung einer Kontrolle über die wirtschaftliche Tätigkeit der niederländischen Gesellschaft, deren Gesellschafter er ist, auch Dienstleistungen im niederländischen Hoheitsgebiet erbringt.

Eine solche Situation kann somit unter Art. 43 EG fallen, aber auch unter die Vertragsbestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr, da sich nicht ausschließen lässt, dass Herr Filipiak, ein in Polen wohnender Steuerpflichtiger, nicht nur eine Kontrolle über die wirtschaftliche Tätigkeit der niederländischen Gesellschaft, deren Gesellschafter er ist, ausübt, sondern auch Dienstleistungen im niederländischen Hoheitsgebiet erbringt.

Die Situation eines Steuerpflichtigen wie Herrn Filipiak kann mithin anhand des Grundsatzes der Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EG und anhand des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs nach Art. 49 EG geprüft werden.

- Zum Vorliegen einer Beschränkung der Verkehrsfreiheiten

Nach ständiger Rechtsprechung sollen sämtliche Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit den Gemeinschaftsangehörigen die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Europäischen Gemeinschaft erleichtern und stehen Maßnahmen entgegen, die die Gemeinschaftsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen (vgl. u. a. Urteile vom 17. Januar 2008, Kommission/Deutschland, C-152/05, Slg. 2008, I-39, Randnr. 21, und vom 16. Oktober 2008, Renneberg, C-527/06, Slg. 2008, I-7735, Randnr. 43).

Ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung ist mit der Niederlassungsfreiheit, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zuerkannt ist und die für sie die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten unter den gleichen Bedingungen wie den im Recht des Mitgliedstaats für dessen eigene Angehörige festgelegten umfasst, gemäß Art. 48 EG für die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, das Recht verbunden, ihre Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat durch eine Tochtergesellschaft, Zweigniederlassung oder Agentur auszuüben (vgl. Urteile vom 17. Januar 2008, Lammers & Van Cleeff, C-105/07, Slg. 2008, I-173, Randnr. 18, sowie vom 23. April 2009, Kommission/Griechenland, C-406/07, Randnr. 36).

Der Gerichtshof hat außerdem wiederholt entschieden, dass zwar die Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit nach ihrem Wortlaut insbesondere die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sichern sollen, dass sie aber auch das Verbot für den Herkunftsstaat enthalten, die Niederlassung eines seiner Staatsangehörigen oder einer nach seinem Recht gegründeten Gesellschaft, die im Übrigen die Voraussetzungen des Art. 48 EG erfüllt, in einem anderen Mitgliedstaat zu behindern (vgl. Urteile vom 13. April 2000, Baars, C-251/98, Slg. 2000, I-2787, Randnr. 28, vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant, C-9/02, Slg. 2004, I-2409, Randnr. 42, und Heinrich Bauer Verlag, Randnr. 26).

Darüber hinaus steht Art. 49 EG der Anwendung einer nationalen Regelung entgegen, die die Erbringung von Dienstleistungen zwischen Mitgliedstaaten gegenüber der Erbringung von Dienstleistungen innerhalb nur eines Mitgliedstaats erschwert (Urteile vom 11. September 2007, Kommission/Deutschland, C-318/05, Slg. 2007, I-6957, Randnr. 81, vom 18. Dezember 2007, Jundt, C-281/06, Slg. 2007, I-12231, Randnr. 52, sowie vom 11. Juni 2009, X und Passenheim-van Schoot, C-155/08 und C-157/08, Slg. 2009, I-0000, Randnr. 32).

Nach den Art. 43 EG und 49 EG verbotene Beschränkungen liegen insbesondere dann vor, wenn die Steuervorschriften eines Mitgliedstaats, die auf grenzüberschreitende wirtschaftliche Tätigkeiten anwendbar sind, weniger günstig sind als diejenigen, die auf eine innerhalb der Grenzen dieses Mitgliedstaats ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit anwendbar sind.

In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens erlaubt Art. 26 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes den in Polen der Steuer unterliegenden Steuerpflichtigen, von der Bemessungsgrundlage ihrer Einkommensteuer den Betrag der gemäß dem Gesetz über das System der Sozialversicherung gezahlten obligatorischen Sozialversicherungsbeiträge abzuziehen. Art. 27b des Einkommensteuergesetzes erlaubt den in Polen der Steuer unterliegenden Steuerpflichtigen, den Betrag ihrer Einkommensteuer um den Betrag der gemäß dem Gesetz über die aus öffentlichen Mitteln finanzierten Leistungen der Gesundheitsfürsorge gezahlten obligatorischen Krankenversicherungsbeiträge zu mindern.

Es ist darauf hinzuweisen, dass Herr Filipiak, ein polnischer Steuerpflichtiger, der seine wirtschaftliche Tätigkeit als Gesellschafter in einer Personengesellschaft ausübt, die in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Polen ansässig ist, in den Niederlanden und nicht in Polen sozial- und krankenversicherungspflichtig ist. Nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 unterliegt nämlich eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats eine selbständige Tätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt. Nach Art. 13 Abs. 1 kann eine Person hinsichtlich der Sozialversicherung nur den Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen.

Das vorlegende Gericht hat im Übrigen angegeben, dass die von Herrn Filipiak gemäß den niederländischen Rechtsvorschriften gezahlten Sozial- und Krankenversicherungsbeiträge nach Art und Zweck den Beiträgen entsprächen, die polnische Steuerpflichtige nach den polnischen Rechtsvorschriften über das System der Sozialversicherung und über die aus öffentlichen Mitteln finanzierten Leistungen der Gesundheitsfürsorge entrichteten.

Eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige schafft eine Ungleichbehandlung gebietsansässiger Steuerpflichtiger, je nachdem, ob die Krankenversicherungsbeiträge, die für die Minderung des Betrags der in Polen geschuldeten Einkommensteuer berücksichtigt werden können, oder die Sozialversicherungsbeiträge, die für den Abzug von der Bemessungsgrundlage in Polen in Betracht kommen, im Rahmen der nationalen obligatorischen Kranken- oder Sozialversicherung gezahlt worden sind oder nicht.

Daraus folgt, dass ein Steuerpflichtiger, der in Polen wohnt, seine wirtschaftliche Tätigkeit aber in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, wo er kranken- und sozialversicherungspflichtig ist, den Betrag der von ihm gezahlten Beiträge nicht von der Bemessungsgrundlage seiner Steuer abziehen oder die in Polen geschuldete Steuer um diese Beiträge mindern kann. Er wird somit schlechter behandelt als derjenige Steuerpflichtige, der in Polen wohnt, seine wirtschaftliche Tätigkeit aber nur innerhalb der Grenzen dieses Staates ausübt und die obligatorischen Sozial- und Krankenversicherungsbeiträge an den zuständigen polnischen öffentlichen Träger entrichtet.

Was die Besteuerung ihrer Einkünfte in Polen angeht, befinden sich die gebietsansässigen Steuerpflichtigen aber nicht in objektiv unterschiedlichen Situationen, die diese Ungleichbehandlung nach dem Ort, an dem die Beiträge gezahlt werden, erklären könnten.

Die Situation eines Steuerpflichtigen wie Herrn Filipiak, der in Polen wohnt und eine wirtschaftliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, in dem er der obligatorischen Kranken- und Sozialversicherung angeschlossen ist, und diejenige eines Steuerpflichtigen, der ebenfalls in Polen wohnt, aber auch seine Berufstätigkeit in diesem Staat ausübt, in dem er der nationalen Kranken- und Sozialversicherung angeschlossen ist, sind nämlich in Bezug auf die Besteuerungsgrundsätze vergleichbar, da beide in Polen unbeschränkt steuerpflichtig sind.

Somit müsste die Besteuerung ihrer Einkünfte in diesem Mitgliedstaat nach denselben Grundsätzen und daher auf der Grundlage derselben Steuervergünstigungen erfolgen.

Unter diesen Umständen kann die Weigerung, dem gebietsansässigen Steuerpflichtigen das Recht auf Abzug des Betrags der in einem anderen Mitgliedstaat gezahlten obligatorischen Sozialversicherungsbeiträge von der Bemessungsgrundlage in Polen oder auf Minderung der in Polen geschuldeten Steuer um die in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Polen gezahlten obligatorischen Krankenversicherungsbeiträge zu gewähren, den betreffenden Steuerpflichtigen davon abhalten, die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit nach den Art. 43 EG und 49 EG zu nutzen, und stellt eine Beschränkung dieser Freiheiten dar (vgl. in diesem Sinne zu Art. 18 EG Urteil Rüffler, Randnrn. 72 und 73).

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs können nationale Vorschriften, die geeignet sind, von der Ausübung der durch die Art. 43 EG und 49 EG garantierten Grundfreiheiten abzuschrecken oder abzuhalten, gleichwohl durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein.

Weder hat aber die polnische Regierung eine mögliche Rechtfertigung angeführt, noch wurde eine solche vom vorlegenden Gericht in Betracht gezogen.

4 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 43 EG und 49 EG einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach ein gebietsansässiger Steuerpflichtiger nur dann Anspruch darauf hat, dass der Betrag der im Steuerjahr gezahlten Sozialversicherungsbeiträge von der Bemessungsgrundlage abgezogen wird und dass die von ihm geschuldete Einkommensteuer um die in diesem Zeitraum gezahlten Krankenversicherungsbeiträge gemindert wird, wenn diese Beiträge im Mitgliedstaat der Besteuerung entrichtet werden, nicht aber, wenn die Beiträge in einem anderen Mitgliedstaat entrichtet werden, auch wenn sie dort nicht abgezogen wurden.

Zur zweiten Frage

5 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht für den Fall der Beantwortung der ersten Frage dahin, dass Art. 43 EG und/oder Art. 49 EG nationalen Vorschriften wie den im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, wissen, ob unter diesen Umständen der Vorrang des Gemeinschaftsrechts das nationale Gericht verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht anzuwenden und die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit streitigen nationalen Vorschriften unangewandt zu lassen, unabhängig vom Urteil des nationalen Verfassungsgerichts, mit dem der Zeitpunkt, zu dem diese für verfassungswidrig erklärten Vorschriften ihre Geltungskraft verlieren, verschoben worden ist.

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

6 Der Standpunkt der polnischen Regierung zur zweiten Frage lässt sich im Wesentlichen ihren Ausführungen zur Zulässigkeit entnehmen, die in den Randnrn. 36 bis 39 des vorliegenden Urteils dargestellt sind.

7 Die Kommission macht geltend, mit der zweiten Frage solle geklärt werden, ob der Vorrang des Gemeinschaftsrechts sowie die Art. 10 EG und 43 EG der Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts entgegenstünden, nach denen das Trybunał Konstytucyjny mit einem Urteil den Zeitpunkt verschieben dürfe, zu dem ein von ihm darin als verfassungswidrig angesehener nationaler Normativakt seine Geltung verliere.

8 Nach Ansicht der Kommission besteht kein Zusammenhang zwischen der zweiten Frage und der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits. Im Fall von Herrn Filipiak hindere der Umstand, dass das Trybunał Konstytucyjny den Zeitpunkt, zu dem die streitigen Vorschriften ihre Geltung verlören, verschoben habe, das vorlegende Gericht nicht daran, diese Vorschriften gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts unangewandt zu lassen.

9 Die Kommission schließt daraus, dass die vom Trybunał Konstytucyjny in seinem Urteil vom 7. November 2007 genutzte Möglichkeit nach Art. 190 Abs. 3 der Verfassung der Republik Polen, den Zeitpunkt, zu dem die streitigen Vorschriften ihre Geltung verlören, zu verschieben, weder gegen den Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts noch gegen die Art. 10 EG und 43 EG verstoße, weil sie der Verpflichtung der nationalen Behörden und Gerichte, gegen Art. 43 EG verstoßende Vorschriften des nationalen Gesetzes unangewandt zu lassen, nicht zuwiderlaufe.

0 Der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts sowie die Art. 10 EG und 43 EG seien folglich dahin auszulegen, dass sie der Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts, nach denen das Trybunał Konstytucyjny in einem Urteil den Zeitpunkt verschieben dürfe, zu dem von ihm darin als verfassungswidrig angesehene Vorschriften des nationalen Gesetzes ihre Geltung verlören, nicht entgegenstünden.

Antwort des Gerichtshofs

1 Nach ständiger Rechtsprechung ist das innerstaatliche Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede - auch spätere - entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. u. a. Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, Slg. 1978, 629, Randnr. 24, vom 4. Juni 1992, Debus, C-13/91 und C-113/91, Slg. 1992, I-3617, Randnr. 32, vom 18. Juli 2007, Lucchini, C-119/05, Slg. 2007, I-6199, Randnr. 61, und vom 27. Oktober 2009, ČEZ, C-115/08, Slg. 2009, I-0000, Randnr. 138).

2 Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts wird der Konflikt zwischen einer Vorschrift des nationalen Gesetzes und einer unmittelbar anwendbaren Vertragsbestimmung für ein nationales Gericht dadurch gelöst, dass es das Gemeinschaftsrecht anwendet und die entgegenstehende nationale Vorschrift erforderlichenfalls unangewandt lässt, und nicht dadurch, dass es die Nichtigkeit der nationalen Vorschrift feststellt, wobei die betreffende Zuständigkeit der Behörden und Gerichte Sache des jeweiligen Mitgliedstaats ist.

3 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die Unvereinbarkeit einer später ergangenen Vorschrift des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht diese Vorschrift nicht inexistent werden lässt. In dieser Situation ist das nationale Gericht verpflichtet, diese Vorschrift unangewandt zu lassen, wobei diese Verpflichtung nicht die Befugnis der zuständigen nationalen Gerichte beschränkt, unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden Wegen diejenigen zu wählen, die zum Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht gewährten individuellen Rechte geeignet erscheinen (Urteil vom 22. Oktober 1998, IN.CO.GE.'90 u. a., C-10/97 bis C-22/97, Slg. 2000, I-6307, Randnr. 21).

4 In einer Situation wie der des Klägers des Ausgangsverfahrens hindert folglich der Umstand, dass das Trybunał Konstytucyjny den Zeitpunkt, zu dem die streitigen Vorschriften ihre Geltungskraft verlieren, verschoben hat, das vorlegende Gericht nicht daran, diese Vorschriften in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts unangewandt zu lassen, wenn es sie als gemeinschaftsrechtswidrig ansieht.

5 Da die erste Frage, wie aus Randnr. 74 des vorliegenden Urteils hervorgeht, dahin beantwortet worden ist, dass die Art. 43 EG und 49 EG Vorschriften des nationalen Rechts wie den im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, ist auf die zweite Frage zu antworten, dass unter diesen Umständen der Vorrang des Gemeinschaftsrechts das nationale Gericht verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht anzuwenden und die entgegenstehenden nationalen Vorschriften unangewandt zu lassen, unabhängig vom Urteil des nationalen Verfassungsgerichts, mit dem der Zeitpunkt, zu dem diese für verfassungswidrig erklärten Vorschriften ihre Geltungskraft verlieren, verschoben worden ist.

Kosten

6 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1. Die Art. 43 EG und 49 EG stehen einer nationalen Regelung entgegen, wonach ein gebietsansässiger Steuerpflichtiger nur dann Anspruch darauf hat, dass der Betrag der im Steuerjahr gezahlten Sozialversicherungsbeiträge von der Bemessungsgrundlage abgezogen wird und dass die von ihm geschuldete Einkommensteuer um die in diesem Zeitraum gezahlten Krankenversicherungsbeiträge gemindert wird, wenn diese Beiträge im Mitgliedstaat der Besteuerung entrichtet werden, nicht aber, wenn die Beiträge in einem anderen Mitgliedstaat entrichtet werden, auch wenn sie dort nicht abgezogen wurden.

2. Unter diesen Umständen verpflichtet der Vorrang des Gemeinschaftsrechts das nationale Gericht, das Gemeinschaftsrecht anzuwenden und die entgegenstehenden nationalen Vorschriften unangewandt zu lassen, unabhängig vom Urteil des nationalen Verfassungsgerichts, mit dem der Zeitpunkt, zu dem diese für verfassungswidrig erklärten Vorschriften ihre Geltungskraft verlieren, verschoben worden ist.

Fundstelle(n):
HAAAD-36788