Leitsatz
Leitsatz:
Aus dem allein vom Versicherungsnehmer einer Unfallversicherung nach § 11 IV AUB 88 fristgemäß vorbehaltenem Recht, die Neubemessung der Invalidität zu verlangen, erwächst für den Versicherungsnehmer nicht die Pflicht, eine solche Neubemessung tatsächlich herbeizuführen. Die Weigerung des Versicherungsnehmers, zum Zweck der Neubemessung einen vom Versicherer benannten Arzt aufzusuchen, steht insoweit einem - zulässigen - Verzicht auf die Neubemessung gleich und verletzt nicht die Obliegenheit aus § 9 IV AUB 88.
Gesetze: AVB Unfallversicherung (hier AUB 88, § 11 IV)
Instanzenzug: OLG München, 14 U 691/03 vom LG Augsburg, 2 O 1153/03 vom Veröffentlichungen: Amtliche Sammlung: nein; BGHR: ja; Nachschlagewerk: ja
Tatbestand
Der am aus 3,5 Metern Höhe von einer Leiter gestürzte Kläger fordert weitere Invaliditätsleistungen aus einer bei der Beklagten gehaltenen Unfallversicherung, der die AUB 88 zugrunde liegen. Die Parteien streiten unter anderem um den Grad der Invalidität, den der Kläger durch die bei dem Sturz erlittenen Verletzungen davongetragen hat. Vorgerichtlich hat die Beklagte auf der Grundlage eines von Ärzten der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik M. in ihrem Auftrag am erstatteten Gutachtens, welches zur Feststellung eines Invaliditätsgrades von 30% gelangt war, eine Versicherungsleistung von 24.051,18 EUR erbracht.
Der Kläger meint, er sei bis zu 80% invalide und fordert daher eine zusätzliche Versicherungsleistung in Höhe von 65.445,38 EUR. Er hat mit Schreiben an die Beklagte vom Widerspruch gegen die von der Beklagten in deren Schreiben vom vorgenommene Erstfestsetzung seines Invaliditätsgrades erhoben und zugleich dessen Neufestsetzung nach 15 Monaten gefordert. Mit Schreiben vom erklärte sich die Beklagte lediglich dazu bereit, das Neufestsetzungsverfahren gemäß § 11 IV AUB 88 ein Jahr nach der Erstbegutachtung mittels einer weiteren Begutachtung des Klägers durchzuführen. Dementsprechend wurde der Kläger Ende Mai/Anfang Juni 2002 von der Beklagten und der von ihr erneut beauftragten Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik M. aufgefordert, sich am nochmals zur Untersuchung und Begutachtung einzufinden. Der Kläger erhob daraufhin in einem Schreiben an die Beklagte vom den Vorwurf, die Ärzte der Unfallklinik hätten ihn schon 2001 unzureichend, insbesondere unter Außerachtlassung zahlreicher Befunde und unter Manipulation von Röntgenbildern "inkompetent" untersucht. Er halte deshalb eine erneute Untersuchung in derselben Klinik für sinnlos. Mit Schreiben an die Unfallklinik vom selben Tage sagte der Kläger den anberaumten Untersuchungstermin ab.
Die Beklagte wies den Kläger unter dem schriftlich auf § 9 IV AUB 88 und die darin geregelte Obliegenheit hin, sich von Ärzten untersuchen zu lassen, die der Versicherer beauftrage. Für den Fall erneuter Weigerung wurde der Kläger zugleich auf drohende Leistungsfreiheit des Versicherers hingewiesen (§ 10 AUB 88). Dennoch beharrte der Kläger sowohl telefonisch als auch schriftlich auf seiner Weigerung, sich der Untersuchung durch Ärzte der Unfallklinik M. zu stellen.
Am teilte ihm die Beklagte unter Berufung auf §§ 9 IV und 10 AUB 88 schriftlich mit, sie sei nunmehr leistungsfrei und sehe die Bearbeitung seiner Unfallangelegenheit damit als "endgültig beendet" an.
Hiergegen wendet sich die Klage, mit der der Kläger unter Berufung auf den nach seiner Behauptung höheren Invaliditätsgrad weitere 65.445,38 EUR fordert.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat dem Kläger nach erneuter Begutachtung seines Gesundheitszustandes auf der Grundlage eines dabei festgestellten Invaliditätsgrades von 40% weitere 8.017,05 EUR nebst Zinsen zugesprochen und seine Berufung im Übrigen zurückgewiesen. Insoweit verfolgt der Kläger mit der Revision sein ursprüngliches Begehren weiter.
Mit ihrer Anschlussrevision wendet sich die Beklagte gegen das Berufungsurteil, soweit sie darin zur Zahlung verurteilt worden ist.
Gründe
Das Rechtsmittel des Klägers führt zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit der Antrag auf Zahlung von weiteren 65.445,38 EUR nebst Zinsen in Höhe von 57.428,33 EUR nebst darauf entfallende Zinsen zurückgewiesen worden ist, und in diesem Umfang zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Die Anschlussrevision der Beklagten hat keinen Erfolg.
I. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte sei nicht deshalb von der Leistungspflicht frei geworden, weil sich der Kläger geweigert habe, sich nochmals von Ärzten der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik M. begutachten zu lassen. Die Obliegenheit aus § 9 IV AUB 88 sei nicht verletzt. Sie betreffe lediglich den Fall, dass der Versicherer eine ärztliche Untersuchung für erforderlich halte und der Versicherungsnehmer eine solche im Interesse des Versicherers vorgesehene Untersuchung verweigere. Hier sei Anlass der erneuten Untersuchung aber das Widerspruchsschreiben des Klägers vom gewesen, mit welchem er sich vorwiegend gegen die Erstfestsetzung seiner Invalidität gewandt habe. Zwar habe er in dem genannten Schreiben auch verlangt, von der Möglichkeit einer ärztlichen Neubemessung seiner Invalidität binnen 15 Monaten Gebrauch zu machen, seine Einwendungen hätten sich aber in erster Linie gegen die Erstbemessung der Invalidität gerichtet. Die Beklagte habe sich mit der weiteren Begutachtung des Klägers einverstanden erklärt. Damit sei die erneute Begutachtung nicht im Interesse der Beklagten, sondern allein im Interesse des Klägers vorgesehen worden. Das könne nicht dazu führen, dass aus dem Wunsch des Klägers eine Obliegenheit gegenüber der Beklagten werde. Dass er die von ihm selbst geforderte Begutachtung letztlich nicht ermöglicht habe, habe keine Interessen der Beklagten verletzt.
Die Höhe der Versicherungsleistung hat das Berufungsgericht unter Berücksichtigung eines dem Kläger von der Beklagten zugesagten Treuebonus auf der Grundlage des seiner Auffassung nach überzeugenden Gutachtens des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. M. bestimmt, der den Invaliditätsgrad des Klägers bezogen auf den auf 40% bemessen hat. Infolge der Ausführungen dieses Sachverständigen sei die Einholung weiterer Gutachten nicht mehr geboten gewesen.
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil das Berufungsgericht bei der Feststellung des Invaliditätsgrades des Klägers dessen Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat, indem es von ihm vorgelegte ärztliche Stellungnahmen zu seinem Gesundheitszustand übergangen hat.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Tatrichter Äußerungen medizinischer Sachverständiger kritisch auf ihre Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit prüfen und insbesondere auf die Aufklärung von Widersprüchen hinwirken, die sich innerhalb der Begutachtung eines Sachverständigen wie auch zwischen den Äußerungen mehrerer Sachverständiger ergeben (Senatsurteil vom - IV ZR 27/08 - VersR 2009, 817 Tz. 9; - NJW 1997, 1638 unter II 1 b, jeweils m.w.N.). Dies gilt insbesondere bei der Beurteilung besonders schwieriger wissenschaftlicher Fragen (Senatsurteil vom a.a.O.; vgl. dazu schon - NJW 1962, 676 unter 1). Legt eine Partei ein medizinisches Gutachten vor, das im Gegensatz zu den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständigen steht, so ist vom Tatrichter zudem besondere Sorgfalt gefordert. Er darf in diesem Fall - wie auch im Fall sich widersprechender Gutachten zweier gerichtlich bestellter Sachverständiger - den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt ( a.a.O.; vom - IV ZR 250/06 - VersR 2008, 1676 unter Tz. 11 und vom - IV ZR 200/03 - VersR 2005, 676 unter II 2 b, jeweils m.w.N.).
2. Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht.
a) Unstreitig hat sich der Kläger bei dem Sturz von der Leiter eine Deckplattenimpressionsfraktur des achten Brustwirbels und der vorderen Oberkante des dritten Lendenwirbels, ferner Kompressionsfrakturen des zwölften Brust- und des zweiten Lendenwirbels zugezogen. Daraus resultiert eine posttraumatische Fehlstatik der Wirbelsäule mit schmerzhafter Bewegungseinschränkung und Funktionsbehinderung jedenfalls der Lendenwirbelsäule. Die so verursachten dauerhaften Gesundheitsschäden hat der gerichtlich bestellte Sachverständige vorwiegend auf orthopädischem Gebiet gesehen und mit einem Invaliditätsgrad von 40% bewertet.
b) Demgegenüber hat der Kläger weitergehende Beschwerden behauptet: Es habe sich infolge des Sturzes ein Rippenbuckel gebildet, außerdem seien beidseitige Schultergürtelstörungen mit Bewegungseinschränkungen beider Schultergelenke und ein Schulterhochstand rechts eingetreten. Infolge der Brustkorbverletzungen komme es bei ihm nicht nur zu Lungenfunktionsstörungen und Beeinträchtigungen der Atmung, sondern es habe auch eine mit den Verletzungen einhergehende Lockerung der Brustkorbaufhängung mit nachfolgender Brustkorbverschiebung zu Herzfunktionsstörungen geführt. Die Lendenwirbelverletzungen hätten zudem eine neurogene Blasenentleerungsstörung zur Folge. Schließlich habe der Sturz auch Morbus Bechterew und Rheumatismus ausgelöst.
c) Diesen Vortrag, der sich unter anderem auch auf vom Kläger vorgelegte ärztliche Äußerungen stützt, hat das Berufungsgericht nicht ausreichend beachtet.
aa) Seine Überzeugung, beim Kläger habe sich kein Rippenbuckel gebildet, stützt es auf den in der Berufungsverhandlung genommenen Augenschein und die begleitende Erklärung des gerichtlich bestellten Sachverständigen, die beobachtete leichte Verformung beruhe nicht auf einer knöchernen Deformierung, sondern auf einer lokalen Muskelverhärtung. Das übersieht, dass der Sachverständige selbst in seinem schriftlichen Gutachten eine posttraumatische Fehlstatik der Wirbelsäule in horizontaler und sagittaler Richtung mit einer diskreten Rippenbuckelbildung links festgestellt hat. Das Berufungsurteil löst den darin liegenden Widerspruch zu den mündlichen Angaben des Sachverständigen nicht auf. Es nimmt weiter nicht dazu Stellung, dass auch die Orthopäden Dr. T. (Fachärztlicher Bericht vom ) und Dr. L. (Arztbrief vom ) ausweislich der vom Kläger vorgelegten Stellungnahmen die Ausbildung eines leichten Rippenbuckels bescheinigt haben. Es ist auch nicht erkennbar, inwieweit das Berufungsgericht aus eigener Sachkunde in der Lage war, zu entscheiden, ob die von ihm bei gebückter Körperhaltung des Klägers beobachtete diskrete Verformung des Rückens auf einer knöchernen oder einer lediglich muskulären Ursache beruht.
bb) Auch sonstige, auf einer unfallbedingten Deformation des Brustkorbes beruhende Beschwerden, wie Atem- oder Herzstörungen, hat das Berufungsgericht im Anschluss an die Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen ausgeschlossen. Dieser hat es zwar für möglich erachtet, dass der Kläger beim Sturz eine Herzprellung erlitten habe, eine solche heile indes folgenlos aus. Das Berufungsgericht hat dabei nicht erörtert, dass das vom Kläger vorgelegte Gutachten des Kardiologen Dr. N. zu dem Ergebnis gelangt war, der Kläger leide an einer globalen Herzinsuffizienz, die als Unfallfolge interpretiert werden könne. Warum das Berufungsgericht demgegenüber der gutachtlichen Einschätzung des von ihm beauftragten Neurochirurgen den Vorzug gibt, lässt das Berufungsurteil nicht erkennen.
Auch dazu, dass die Internistin W. dem Kläger in ihrer ärztlichen Stellungnahme vom eine geringgradige restriktive Ventilationsstörung mit einer Einschränkung der Totalkapazität auf 80% und der Vitalkapazität auf 73% des Normwertes attestiert und einen Zusammenhang mit dem Sturz von der Leiter insoweit für möglich erachtet hat, verhält sich das Berufungsurteil nicht. Ebenso wenig befassen sich das Berufungsgericht und der von ihm bestellte Sachverständige mit der ärztlichen Stellungnahme des Lungenfacharztes Dr. Sch. vom , in welcher neben der Feststellung einer leicht eingeschränkten Lungenfunktion der Verdacht einer Asthmaerkrankung und eines Schlafapnoesyndroms ausgesprochen werden. Es ist insoweit nicht ersichtlich, ob und mit welchen Erwägungen das Berufungsgericht angenommen hat, ein Zusammenhang dieser Beschwerden mit dem Sturz des Klägers sei nicht erwiesen.
cc) Mit Blick auf die vom Kläger geltend gemachte Blasenentleerungsstörung hat der gerichtlich bestellte Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, eine Unfallbedingtheit sei praktisch im Rahmen einer spinalen Kontusion kaum vorstellbar, solange nicht gleichzeitig eine relevante Einengung des Spinalkanals im Frakturbereich und neurologisch bedingte Ausfälle der unteren Extremitäten vorlägen. In seiner mündlichen Anhörung hat er ergänzt, neurogene Blasenentleerungsstörungen träten nur in Fällen auf, in denen eine höhergradige Verlegung des Spinalkanals und des Rückenmarkkanals, etwa durch Bruchstücke des Wirbelkörpers, vorliege. In einem solchen Fall seien begleitende neurologische Auswirkungen, etwa ein Cauda-Syndrom (sog. Reithosenanästhesie), zu erwarten. Das Berufungsgericht folgert daraus, der Sachverständige habe eine unfallbedingte neurogene Blasenentleerungsstörung überzeugend ausgeschlossen. Das Berufungsurteil verhält sich aber nicht dazu, dass der Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten eine neurologische Ausfallerscheinung, nämlich eine "sensibel inkonstant streifige" Verminderung der Empfindlichkeit für Berührungsreize (Hypästhesie) im Bereich der ventralen Oberschenkel sowie beider lateralen Unterschenkel festgestellt hatte. Ebenso wenig nimmt das Berufungsgericht dazu Stellung, dass anlässlich der Kernspintomographie in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik M. am eine leichte Einengung des Spinalkanals im Bereich der Lendenwirbelkörper zwei und drei diagnostiziert worden war, wie sich aus einem vom Kläger vorgelegten Bericht der Unfallklinik ergibt. Der Urologe Dr. S. hat in mehreren vom Kläger vorgelegten Stellungnahmen angenommen, es liege beim Kläger eine ausgeprägte neurogene Blasenentleerungsstörung vor. Im urodynamischen Gutachten vom hat er ausgeführt, Ursache sei mit hoher Wahrscheinlichkeit die Kompressionsfraktur der beiden Lendenwirbelkörper. Das Berufungsurteil befasst sich damit nicht. Weshalb das Berufungsgericht stattdessen die Ausführungen des gerichtlich bestellten Gutachters für überzeugender hält und aufgrund welcher besonderen Sachkunde das Berufungsgericht dies beurteilen konnte, kann dem Berufungsurteil nicht entnommen werden.
III. Die Anschlussrevision der Beklagten bleibt ohne Erfolg. Die Beklagte ist nicht wegen einer Obliegenheitsverletzung des Klägers nach §§ 9 IV, 10 AUB 88, § 6 Abs. 3 VVG a.F. leistungsfrei geworden, nachdem dieser sich geweigert hat, sich auf Verlangen der Beklagten im Jahre 2002 erneut von Ärzten der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik M. untersuchen zu lassen.
Dafür sind folgende Erwägungen maßgeblich:
1. Nach der Systematik des § 11 AUB 88 ist, was die Bemessung der unfallbedingten Invalidität anlangt, zu unterscheiden: Zunächst hat sich der Versicherer gemäß § 11 I AUB 88 nach Erhalt der in der Klausel näher bezeichneten Unterlagen binnen bestimmter Frist - beim Invaliditätsanspruch binnen drei Monaten - zu erklären, ob und in welcher Höhe er den Anspruch anerkennt. Bei dieser Erstbemessung bleibt es - unbeschadet der Möglichkeit des Versicherungsnehmers, in einem Rechtsstreit eine ihm günstigere Erstbemessung zu erstreiten - grundsätzlich, soweit keine der Vertragsparteien von ihrem Recht Gebrauch macht, den Grad der Invalidität - längstens bis zu drei Jahren nach dem Unfall - ärztlich neu bemessen zu lassen (§ 11 IV AUB 88). In diese zweite Stufe der Invaliditätsbemessung gelangen die Vertragsparteien indessen nur dann, wenn entweder der Versicherungsnehmer, der Versicherer oder beide das Recht auf Neubemessung - fristgebunden - ausüben, d.h. gegenüber dem jeweils anderen eine entsprechende Erklärung abgeben. Unterbleibt eine solche Erklärung oder erfolgt sie nicht fristgemäß, hat die jeweilige Vertragspartei das Recht auf Neubemessung verloren.
Beide Stufen der Invaliditätsbemessung sind zwar dadurch verknüpft, dass die Erstbemessung unter dem Vorbehalt einer Änderung steht, soweit sich eine oder beide Vertragsparteien die Neubemessung der Invalidität vorbehalten haben und es tatsächlich zu einer Neubemessung gemäß § 11 IV AUB 88 kommt. Unbeschadet dessen sind die Stufen der Invaliditätsbemessung jeweils rechtlich eigenständig zu betrachten.
2. Im vorliegenden Falle hat der Kläger mit seinem Schreiben vom zum einen eine Abänderung der Erstbemessung bezogen auf den für diese maßgeblichen Zeitpunkt begehrt, denn er hat geltend gemacht, bereits zu dieser Zeit an weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen gelitten zu haben, die bei der Bemessung durch die Beklagte unberücksichtigt geblieben seien. Er hat schließlich, darauf gestützt, nach Ablauf der Frist des § 11 IV AUB 88 Klage erhoben und auch mit dieser eine ihm günstigere Erstbemessung begehrt.
Daneben hat der Kläger mit seinem Schreiben vom sein Recht auf Neubemessung des Invaliditätsgrades (§ 11 IV AUB 88) ausgeübt, während die Beklagte davon abgesehen hat. Daraus ergibt sich zunächst: Der Streit der Parteien im vorliegenden Rechtsstreit betrifft allein die Erstbemessung der Invalidität gemäß § 11 I AUB 88. Das Recht des Klägers, im Klagewege eine seiner Ansicht nach zutreffende höhere Erstbemessung der Invalidität durchzusetzen, lässt sein - ausgeübtes - Recht, eine Neubemessung der Invalidität zu verlangen, unberührt und besteht unabhängig davon fort. Die Beklagte dagegen hat ihr Recht auf Neubemessung der Invalidität verloren, weil sie es nicht i.S. von § 11 IV AUB 88 ausgeübt hat.
3. Mit Blick auf die Erstbemessung der Invalidität besteht danach eine Obliegenheit des Klägers, sich auf Verlangen der Beklagten ärztlich untersuchen zu lassen (§ 9 IV AUB 88), nicht mehr. Die Beklagte hat ihre Entscheidung über die Erstbemessung mit ihrem Schreiben vom getroffen (§ 11 I AUB 88). Daraus folgt zugleich, dass ein weiterer Aufklärungsbedarf insoweit nicht bestand. Es fehlt damit an einem berechtigten Interesse der Beklagten, den Versicherungsnehmer - zumal mit der Sanktion der Leistungsfreiheit - weiterhin an die Obliegenheit zu binden. Aus Sicht des Versicherers bestand keine Veranlassung mehr zu weiteren Untersuchungen durch von ihm beauftragte Ärzte (vgl. Senatsurteil vom - IV ZR 310/02 - VersR 2003, 1165 unter B I 1 a).
Auf den Streit um die Erstbemessung konnte die Beklagte ihr Untersuchungsverlangen mithin nicht stützen. Der Kläger hat insoweit keine Obliegenheit verletzt.
Zu diesem Ergebnis führt es auch, wenn man die bloße Verweisung des Klägers auf die begehrte Neubemessung im Schreiben der Beklagten vom als Ablehnung weiterer Überprüfungen der Erstbemessung versteht. Denn auch unter diesem Blickwinkel träfen den Kläger Aufklärungs- oder Mitwirkungsobliegenheiten hinsichtlich der Erstbemessung nicht mehr (vgl. dazu BGHZ 107, 368, 371 f.).
4. Aber auch mit Blick auf eine Neubemessung der Invalidität (§ 11 IV AUB 88) hat der Kläger die Obliegenheit aus § 9 IV AUB 88 nicht verletzt. Aus dem vom Kläger vorbehaltenen Recht, die Invalidität längstens bis zu drei Jahren nach dem Unfall ärztlich neu bemessen zu lassen, folgt keine Pflicht des Klägers, eine Neubemessung tatsächlich herbeizuführen. Die Regelung in § 9 IV AUB 88 gibt dafür keinen Anhalt. Erst recht kann die Beklagte eine Untersuchung zum Zwecke der Neubemessung nicht verlangen, denn sie hat ihr Recht darauf - weil sie es mit der Erstbemessung nicht ausgeübt hat - verloren. Der Kläger kann mithin auf eine ärztliche Neubemessung verzichten, ohne dass ihn die Beklagte - noch dazu mit der Androhung von Leistungsfreiheit - dazu zwingen könnte. Die Weigerung des Klägers, sich von den von der Beklagten benannten Ärzten untersuchen zu lassen, bleibt damit sanktionslos. Sie steht einem Verzicht auf die Neubemessung gleich.
Soweit der Senat in seiner Entscheidung vom (a.a.O.) angedeutet hat, dass auch im Rahmen der Neubemessung von Invalidität eine Bindung des Versicherungsnehmers an die Obliegenheit in § 9 IV AUB 88 eintreten könnte, stand das unter der Voraussetzung, dass der Versicherungsnehmer das Recht auf ärztliche Neubemessung ausübt, insbesondere eine solche auch herbeiführt und darauf gestützt eine höhere Entschädigung verlangt. Der Senat kann weiterhin offen lassen, ob der Versicherungsnehmer unter dieser Voraussetzung der Untersuchungsobliegenheit zu genügen hat. Dafür spricht allerdings, dass nach einer vom Versicherungsnehmer herbeigeführten Neubemessung auch für den Versicherer neuerlicher Prüfungsbedarf entsteht, eine Untersuchung durch von ihm beauftragte Ärzte mithin seinem berechtigten Interesse an weiterer Aufklärung entsprechen könnte. Offen bleiben kann insoweit auch, ob - eine Obliegenheitsbindung unterstellt - deren Verletzung zu vollständiger Leistungsfreiheit des Versicherers führen könnte oder ob sich diese auf das Verlangen des Versicherungsnehmers nach gegenüber der Erstbemessung höherer Invaliditätsleistung zu beschränken hätte.
Das Berufungsgericht wird deshalb die gebotene Aufklärung hinsichtlich des Grades der unfallbedingten Invalidität vorzunehmen und dabei zu prüfen haben, inwieweit es angesichts der unterschiedlichen, vom Kläger geltend gemachten Beschwerden geboten ist, dazu Gutachten von Medizinern verschiedener Fachrichtungen einzuholen. Da der Streit die Erstbemessung betrifft, ist insoweit maßgeblich der Gesundheitszustand, wie er sich zu diesem Zeitpunkt - und nicht nach Ablauf der Dreijahresfrist - dargestellt hat.
Fundstelle(n):
NJW-RR 2010 S. 546 Nr. 8
NWB-Eilnachricht Nr. 4/2010 S. 256
AAAAD-35480