Leitsatz
[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: StGB § 62; StGB § 66 Abs. 1; StGB § 66 Abs. 2; StGB § 67c Abs. 1
Instanzenzug: LG Trier, vom
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 20 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Die auf den Rechtsfolgenausspruch, insbesondere auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung, beschränkte und mit der Verletzung materiellen Rechts begründete Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Zwar ergibt die Überprüfung des Urteils zum Strafausspruch für sich genommen keinen Rechtsfehler; jedoch hält die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Zutreffend hält das Landgericht die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB für erfüllt, weil dem Gesamtstrafenausspruch von acht Jahren 20 Einzelfreiheitsstrafen zu je vier Jahren zugrunde liegen. Dagegen sind die Ausführungen, mit denen die Kammer die materiellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB verneint hat, nicht frei von Rechtsfehlern.
1. Mit nicht tragfähiger Begründung gelangt das Landgericht zu dem Ergebnis, bei dem Angeklagten liege bereits ein Hang zu erheblichen Straftaten nicht vor.
a) Nach den Feststellungen ist der 66-jährige Angeklagte bereits im Jahre 2006 wegen eines im Jahre 2003 begangenen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt worden. Dieser Verurteilung lag zu Grunde, dass der Angeklagte zu einem 11-jährigen Nachbarsjungen ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut und diesen mit Versprechungen in seine Wohnung gelockt hatte. Bei zwei verschiedenen Gelegenheiten küsste er dort den Jungen und masturbierte an dessen Glied.
Die jetzige Verurteilung basiert auf einem vergleichbaren Geschehen:
Auch hier stammte das Opfer, ein zu den Tatzeiten 12 bis 13-jähriger Junge, aus dem unmittelbaren Freundes- und Bekanntenkreis des Angeklagten. Wiederum unter Versprechungen lockte der unter Bewährung stehende Angeklagte das Kind im Jahre 2007 in seine Wohnung und vollzog an diesem in 20 Fällen ungeschützten Analverkehr bis zum Samenerguss, wobei er das Schweigen des Jungen und dessen erneute Besuche einerseits mit massiven Drohungen, andererseits mit Belohnungen bewirkte.
b) Das Landgericht hat insoweit ausgeführt, der von ihm beauftragte psychiatrische Sachverständige habe sich bei der Beurteilung eines eventuell vorliegenden Hanges "maßgeblich an den Kriterien, die von Habermeyer und Saß in ihrem 2004 publizierten Werk über Grundlagen und Differentialindikation zur Maßregel gemäß § 66 StGB" entwickelt wurden, orientiert und sei zu dem Ergebnis gelangt, dass zwar einige im Einzelnen benannte Kriterien auf den Angeklagten zuträfen, die Mehrzahl hingegen nicht. Unter Verwertung der vom Sachverständigen vermittelten Erkenntnisse stellt die Kammer bei zusammenfassender Bewertung der Persönlichkeit des Angeklagten ausschlaggebend darauf ab, dieser habe stets nur sich ihm im unmittelbaren sozialen Umfeld bietende Gelegenheiten zur Begehung der sexuellen Übergriffe genutzt. Deshalb sei bei einer Gesamtschau das Vorliegen eines Hanges im Sinne einer intensiven Neigung zu Rechtsbrüchen für den Angeklagten zu verneinen (UA 21 f.).
c) Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Ein Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist - was die Kammer verkennt - nicht nur bei dem Täter zu bejahen, der dauernd zu Straftaten entschlossen ist, sondern auch bei demjenigen, der aufgrund einer in seiner Persönlichkeit liegende Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich ihm die Gelegenheit bietet (vgl. BGH NStZ 2005, 265 f.; 2003, 201; BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 8). Im Übrigen ist die Annahme einer "bloßen" Gelegenheitstat hier mit den sonstigen Urteilsgründen unvereinbar. Der unter Bewährung stehende Angeklagte hat - wie auch bei seiner einschlägigen Vorverurteilung - keineswegs nur Gelegenheiten ausgenutzt, sondern die Tatumstände geplant und aktiv gestaltet, indem er sich das Vertrauen seiner Opfer zunächst erschlichen und sodann die äußeren Rahmenbedingungen durch Einladungen in seine Wohnung geschaffen hat. Anschließend hat er ein subtiles Geflecht aus Belohnung und Einschüchterung aufgebaut, um den Missbrauch so lange wie möglich - hier über den Zeitraum eines Jahres hinweg - fortsetzen zu können.
Ebenso wenig ist Voraussetzung für die Annahme eines Hanges, dass die Straftaten zu Lasten einer Mehrzahl von Opfern begangen werden; ausreichend sind auch wiederholte Taten zu Lasten desselben, aus dem sozialen Umfeld des Täters stammenden Opfers (vgl. BGH NStZ 2008, 27).
Schließlich steht auch eine Spätkriminalität - die delinquente Entwicklung des Angeklagten begann erst seit seinem 60. Lebensjahr - einer Hangtäterschaft bei Sexualdelikten nicht grundsätzlich entgegen (LK-Rissing-van Saan/Peglau StGB 12. Aufl. § 66 Rn. 131).
2. Auch die Begründung, mit der die Kammer die Gefährlichkeit des Angeklagten verneint hat, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Angesichts der rechtsfehlerhaften Ausführungen zur Ablehnung eines Hanges ist bereits nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei Anwendung zutreffender Maßstäbe die vom Angeklagten ausgehende Gefährlichkeit bejaht hätte; denn der Hang ist ein wesentliches Kriterium der Gefährlichkeitsprognose (BGH a.a.O.).
b) Soweit sich die Kammer bei der hilfsweisen Erörterung der Gefährlichkeit des Angeklagten vom Sachverständigen herangezogene Prognoseinstrumente "Static 99", "die von Hare 1985 erarbeitete PCL (Psychopathy-Check-List) und den "SVR- (Sexual-Violence-Risk) Kriterienkatalog" zu eigen macht, genügt es nicht, lediglich anzugeben, welche Prozent- bzw. Punktwerte der Angeklagte als Testergebnis erreicht hat. Vielmehr ist in den Urteilsgründen im Einzelnen anzugeben, welche der maßgeblichen Kriterien bei dem Angeklagten erfüllt sind und welche nicht, um dem Senat eine Überprüfung der Gefährlichkeitsprognose zu ermöglichen (BGH StV 2008, 300; vgl. auch Boetticher u.a. NStZ 2009, 478 ff.).
c) Auch ist die vom Landgericht weiter gegen eine Gefährlichkeit angeführte Überlegung, der bestreitende Angeklagte werde die verhängte Strafe voraussichtlich voll verbüßen und dann bei seiner Haftentlassung aufgrund seines vorangeschrittenen Alters infolge vermutlicher Abnahme der physischen Leistungsfähigkeit sowie der sexuellen Appetenz nicht mehr gefährlich sein (UA 23), rein hypothetisch und damit nicht tragfähig.
So ist für die Gefährlichkeitsprognose zunächst grundsätzlich der Zeitpunkt der Aburteilung maßgeblich (Fischer a.a.O. § 66 Rn. 36 m.w.N.). Ob ein Angeklagter zum Entlassungszeitpunkt aus der Strafhaft noch gefährlich ist, ist regelmäßig vor Vollzugsende nach § 67 c Abs. 1 StGB zu prüfen. Zwar kann der Tatrichter auch bereits bei seiner Entscheidung nach § 66 Abs. 2 StGB den Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs und dem Alter des Angeklagten bei Strafentlassung Bedeutung beimessen, dies jedoch nur dann, wenn gleichzeitig eine Haltungsänderung des Angeklagten sicher zu erwarten ist (BGH NStZ 2002, 30 f.; 2005, 211; BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 3 und 6). Denkbare, aber nur erhoffte positive Änderungen im Strafvollzug bleiben einer Prüfung nach § 67 c Abs. 1 StGB vorbehalten (BGH NStZ-RR 2005, 337).
Hier indessen geht die Kammer ausdrücklich davon aus, dass der Angeklagte therapeutischen Maßnahmen nicht zugänglich ist (UA 23). Hinzu kommt, dass die altersbedingte Abnahme der physischen Leistungsfähigkeit sexuellen Missbrauch von Kindern keineswegs ausschließt. So ist zum Beispiel - wie vom Angeklagten in der Vergangenheit praktiziert - ein Missbrauch in Form von Masturbationshandlungen an Kindern auch bei eingeschränkter physischer Leistungsfähigkeit ohne Weiteres möglich.
3. Soweit die Kammer schließlich in einer zweiten Hilfserwägung die Anordnung der Sicherungsverwahrung aufgrund des bei Haftentlassung voraussichtlich erreichten Alters sowie der dann einsetzenden Führungsaufsicht für unverhältnismäßig im Sinne des § 62 StGB erachtet, vermag auch dies die Nichtanordnung der Maßregel nicht zu begründen. Nachdem das Landgericht in rechtsfehlerhafter Weise bereits einen Hang abgelehnt und die Gefährlichkeit verneint hat, fehlt es nämlich an den erforderlichen Anknüpfungstatsachen für eine Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. So ist unklar, wie hoch eine mögliche Gefährlichkeit und wie ausgeprägt damit die Gefahr für die bedrohten Rechtsgüter wäre. Auch können die Erwägungen zur bei Haftentlassung einsetzenden Führungsaufsicht kein wesentliches Gewicht gewinnen, weil der Angeklagte die hier abgeurteilten Taten unter laufender Bewährung begangen hat.
4. Nach alledem muss über die Anordnung von Sicherungsverwahrung daher neu befunden werden. Da die Kammer hier ausdrücklich einen Bezug zwischen der Höhe der zu verbüßenden Strafe und der Nichtanordnung von Sicherungsverwahrung hergestellt hat, hebt der Senat auch den Strafausspruch - insoweit zu Gunsten des Angeklagten - auf.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
NJW 2010 S. 1545 Nr. 21
MAAAD-33963
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