BVerwG Beschluss v. - 1 B 13.09

Leitsatz

Ob die Wirkungen einer Ausweisung schon zum Zeitpunkt der Ausweisung oder erst später zu befristen sind, ist eine Frage des Einzelfalls. Sie hängt unter anderem vom Ausmaß der vom Ausländer ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Gefahr sowie den schutzwürdigen Interessen des Ausländers und seiner Angehörigen ab.

Gesetze: AufenthG § 11 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 1; GG Art. 8

Instanzenzug: OVG Niedersachsen, 11 LB 232/07 vom VG Hannover, 1 A 3954/04 vom Fachpresse: ja BVerwGE: nein

Gründe

I

Der 1971 geborene Kläger und Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger, der sich seit 1982 auf Dauer in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Er erhielt 1988 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und 1990 eine Aufenthaltsberechtigung. Nach einer Reihe von Straftaten und Verurteilungen - zuletzt wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren - wurde er mit Bescheid vom ausgewiesen. Aus der Haft wurde er Anfang 2007 auf Bewährung entlassen. Seine Klage gegen die Ausweisung blieb beim Berufungsgericht ohne Erfolg, nachdem ihr erstinstanzlich stattgegeben worden war.

II

Die auf alle Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist zum Teil schon nicht zulässig, weil sie nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt, zum Teil ist sie unbegründet.

1.

Die Beschwerde hält die Frage für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), "ob bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung deren Befristung mit zu überprüfen ist" (Schriftsatz vom ). Sie beruft sich auf Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie des Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichts, wonach in Fällen, in denen der Schutzbereich des Art. 8 EMRK oder von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG berührt ist, die Möglichkeit der Befristung von der Ausländerbehörde im Rahmen der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung mit zu prüfen ist. Eine solche Prüfung sei auch im vorliegenden Fall zur Ermöglichung des Zusammenlebens des Klägers mit seinem neugeborenen Kind geboten gewesen. Demgegenüber habe das Oberverwaltungsgericht in dem angefochtenen Urteil eine solche Überprüfung als entbehrlich angesehen. Daher bestehe rechtlicher Klärungsbedarf.

Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde eine grundsätzlich klärungsbedürftige Rechtsfrage, die in dem angestrebten Revisionsverfahren verallgemeinerungsfähig beantwortet werden könnte, nicht auf. Nimmt man die von ihr formulierte Frage wörtlich und bezieht sie nur auf die Pflicht zur Prüfung einer Befristung bereits im Rahmen des Ausweisungsverfahrens, wäre sie ohne weiteres zu bejahen. Denn in der Rechtsprechung des Senats ist anerkannt, dass es Fälle geben kann, in denen es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gebietet, die Wirkung der Ausweisung schon im Zeitpunkt ihres Erlasses zu befristen (vgl. BVerwG 1 C 29.02 - BVerwGE 121, 315 < 324>). Dies setzt notwendig die Prüfung voraus, ob im Einzelfall derartige Voraussetzungen vorliegen. Diese Prüfung hat das Berufungsgericht der Sache nach im Übrigen auch vorgenommen, indem es bei Abwägung der schutzwürdigen Belange des Klägers mit dem öffentlichen Interesse am Schutz der Allgemeinheit eine spätere Befristung für ausreichend angesehen hat (UA S. 17 f).

Versteht man die Frage weitergehend dahin, dass geklärt werden soll, unter welchen Voraussetzungen eine Ausweisung nur mit gleichzeitiger Befristung ihrer Wirkungen verfügt werden darf, legt die Beschwerde nicht dar, dass sich diese Frage anhand des Falles des Klägers verallgemeinerungsfähig beantworten lässt und damit eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Allein der Umstand, dass der Kläger Vater eines neugeborenen Kindes seiner deutschen Verlobten ist, reicht für sich allein nicht aus, um einen Anspruch auf Befristung zusammen mit der Ausweisung zu begründen. Es hängt vielmehr von den gesamten Umständen des Einzelfalles, insbesondere dem Ausmaß der vom Ausländer ausgehenden Gefahr, der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Gefahr und den schutzwürdigen Belangen des Ausländers und seiner Angehörigen, ab, ob eine Befristung schon bei der Ausweisung von Amts wegen geboten ist oder eine Befristung auf Antrag nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG ausreicht. Dies ist eine Frage des Einzelfalles, die die Zulassung einer Grundsatzrevision nicht rechtfertigt.

2.

Die Beschwerde rügt weiter eine Divergenz der angefochtenen Entscheidung von "höchstrichterlicher Rechtsprechung" (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Sie beruft sich darauf, dass nach einer nicht näher bezeichneten Fundstelle aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung, bei der es sich soweit ersichtlich um ein Zitat aus dem Urteil des Senats vom - BVerwG 1 C 30.02 - (BVerwGE 121, 297 <314 f.> ) handelt, die Befristung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung zu prüfen sei und die angefochtene Entscheidung des Berufungsgerichts hiervon abweiche (Schriftsatz vom ).

Damit ist eine Divergenz nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend aufgezeigt. Denn abgesehen von der fehlenden genauen Bezeichnung der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts handelt es sich bei dem angeführten Satz aus dem Urteil des Senats vom a.a.O. S. 314 zu Punkt 3 nicht um einen divergenzfähigen entscheidungstragenden Rechtssatz, weil die Ausführungen im Rahmen der Hinweise an das Tatsachengericht für die Behandlung des Falles nach der Zurückverweisung enthalten sind. Im Übrigen fehlt es auch an einer Bezeichnung eines bestimmten hiervon abweichenden Rechtssatzes aus der berufungsgerichtlichen Entscheidung.

Unabhängig davon bemerkt der Senat allerdings, dass die Auffassung des Berufungsgerichts, wonach eine Befristungsentscheidung "in der Regel" der Ausweisung nachfolgt (UA S. 19), sich weder der vom Berufungsgericht hierfür angegebenen Entscheidung des Senats vom - BVerwG 1 C 45.06 - (BVerwGE 130, 20) noch der oben zu 1. angeführten Rechtsprechung des Senats entnehmen lässt. Vielmehr ist nach dieser Rechtsprechung die Frage, ob die Ausweisung von vornherein oder erst nachträglich zu befristen ist, eine Frage des Einzelfalles, die von einer Gesamtwürdigung der Umstände unter Berücksichtigung der oben zu 1. aufgezeigten Gesichtspunkte abhängt. Da das Berufungsgericht, wie oben zu 1. dargelegt, im Rahmen seiner Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Fall des Klägers der Sache nach eine solche Abwägung vorgenommen hat, ist aber weder dargetan noch sonst ersichtlich, dass seine Entscheidung auf den Ausführungen über ein Regel-Ausnahme-Verhältnis auf Seite 19 der Urteilsgründe beruht. Insoweit kommt - abgesehen von sonstigen Darlegungsmängeln - auch eine Umdeutung der Divergenzrüge in eine Grundsatzrüge nicht in Betracht.

3.

Ohne Erfolg beruft sich die Beschwerde schließlich darauf, dass in Bezug auf die in der Ausweisungsverfügung enthaltene Ankündigung der Abschiebung aus der Haft ein Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vorliege, weil das angefochtene Urteil insoweit keine Begründung enthalte. Darin liege ein Verstoß gegen § 138 Nr. 6 VwGO. Da der Kläger zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung bereits aus der Haft entlassen gewesen sei, dürfe er nicht mehr auf der Grundlage dieser Ankündigung abgeschoben werden.

Zwar weist die Beschwerde zutreffend darauf hin, dass das Berufungsurteil hinsichtlich der Ankündigung der Abschiebung aus der Haft keine Begründung enthält. Die Beschwerde kann mit dieser Rüge aber keinen Erfolg haben, weil sich die Abweisung der Klage insoweit jedenfalls im Ergebnis als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO in entsprechender Anwendung auf das Beschwerdeverfahren). Denn die Ankündigung der Abschiebung aus der Haft (jetzt: § 59 Abs. 5 Satz 2 AufenthG) ist mit der Haftentlassung des Klägers gegenstandslos geworden, so dass der Kläger dadurch nicht mehr beschwert ist und damit auch kein Rechtsschutzinteresse an einer Aufhebung dieses Teils der Verfügung hat. Entgegen der im Beschwerdeverfahren vertretenen Rechtsauffassung der Beklagten kann der Kläger aufgrund der Ankündigung der Abschiebung aus der Haft nicht mehr abgeschoben werden. Hierzu bedarf es jetzt vielmehr einer Abschiebungsandrohung gemäß § 59 Abs. 1 AufenthG.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Fundstelle(n):
SAAAD-29263