BSG Beschluss v. - B 13 R 164/06 B

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: SGB X § 37 Abs. 1 Satz 1; GG Art. 20 Abs. 3; SGG § 111

Instanzenzug: LSG Bayern, vom

Gründe

I

Die in Bosnien und Herzegowina wohnhafte Klägerin begehrt Rente wegen Erwerbsminderung. Sie ist 1950 geboren und hat, neben Zeiten in ihrem Heimatland, in Deutschland von 1970 bis 1974 Pflichtbeitragszeiten wegen Beschäftigung zurückgelegt.

Den Antrag der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung vom Januar 2001 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom aus versicherungsrechtlichen Gründen ab (ein Zustellungsnachweis ist insoweit nicht vorhanden). Im Rahmen einer Korrespondenz mit der Klägerin teilte die Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom mit, der Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung vom sei mit Bescheid vom abgelehnt worden. Auf ein weiteres Schreiben der Klägerin teilte die Beklagte mit Schreiben vom nochmals mit, dass der Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung mit Bescheid vom abgelehnt worden sei; dieser Bescheid sei bereits rechtsverbindlich, weil sie nicht rechtzeitig Widerspruch erhoben habe. Mit Schreiben vom teilte die Klägerin der Beklagten sinngemäß mit, dass sie "nicht einverstanden" sei. Mit Widerspruchsbescheid vom wies die Widerspruchsstelle den Widerspruch als unzulässig zurück, weil die Mitteilung vom lediglich eine Benachrichtigung und kein Verwaltungsakt sei und die Klägerin somit nicht beschwert sei. Die Klage gegen diesen Widerspruchsbescheid hat das Sozialgericht Landshut (SG) mit Urteil vom mangels Beschwer als unzulässig abgewiesen, weil sich die Klage gegen das Schreiben der Beklagten vom richte; dabei handele es sich aber nur um eine Mitteilung und nicht um einen Verwaltungsakt, sodass die Klägerin nicht beschwert sei. Während des Berufungsverfahrens lehnte die Beklagte mit "Schreiben" vom und Widerspruchsbescheid vom einen Antrag der Klägerin auf Beitragserstattung ab. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen; es ist von dem sinngemäßen Antrag der Klägerin ausgegangen, das sowie den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu zahlen. Streitgegenstand sei allein die Erwerbsminderungsrente; das Beitragserstattungsbegehren sei eigenständig und nicht Gegenstand des Verfahrens. Im Gegensatz zur Auffassung des SG seien Widerspruch und Klage zulässig. Es sei nicht nachweisbar, ob der nicht richtig adressierte (auf einen früheren Namen der Klägerin lautende) Rentenablehnungsbescheid vom der Klägerin zugegangen sei. Angesichts dessen sei der Widerspruch der Klägerin vom in erster Linie auf jenen Bescheid zu beziehen und insoweit zulässig, insbesondere nicht verfristet. In der Sache habe die Klägerin mit der Berufung jedoch keinen Erfolg. Denn sie erfülle zwar die medizinischen, nicht aber die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch.

Die Klägerin rügt ua Verfahrensfehler. Das LSG habe bindend festgestellt, dass der Ablehnungsbescheid vom nicht iS des § 37 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) bekannt gegeben worden sei. Diese Feststellung werde nicht gerügt. Damit sei dieser Bescheid als nichtig (§ 40 Abs 1 SGB X) zu behandeln und somit eine Anfechtungsklage nicht statthaft. Dagegen habe es sich bei dem Widerspruchsbescheid vom um einen sog formellen Verwaltungsakt gehandelt, gegen den die isolierte Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft gewesen sei. Nach alledem habe das LSG erstmals materiell über ihren Rentenanspruch entschieden, was dem Gericht gemäß Art 20 Abs 3 Grundgesetz verwehrt sei. Wenn das Gericht dennoch zur Überzeugung gelangt sei, dass sie eine unzulässige verbundene Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs 4 SGG habe erheben wollen, so hätte es sie gemäß § 106 Abs 1 SGG auf die mangelnde Statthaftigkeit der Klageart hinweisen müssen. Wegen ihrer erkennbaren Unbeholfenheit sei es außerdem gemäß § 111 SGG geboten gewesen, ihr persönliches Erscheinen anzuordnen. Entgegen § 62 SGG sei sie zu der vom LSG festgestellten fehlenden Bekanntgabe des Bescheids vom nicht gehört worden.

Die Beklagte erwidert, es sei nicht nachvollziehbar, wie das LSG zur Feststellung gelangt sei, die Klägerin habe den Bescheid vom nicht erhalten; die Klägerin habe dies nie geltend gemacht. Ein Zustellungsnachweis sei in der Akte nicht zu erwarten, weil derartige Bescheide nur mit einfachem Brief übermittelt würden. Jedenfalls aber sei ein Bekanntgabemangel nach dem Grundgedanken des § 8 Verwaltungszustellungsgesetz geheilt, weil die Beklagte der Klägerin in der späteren Korrespondenz den Inhalt des Bescheides vom mitgeteilt habe.

II

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Wie von der Klägerin zur Begründung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend gemacht, leidet das Urteil des LSG deshalb unter Verfahrensfehlern, weil es das mit der Berufung weiterverfolgte klägerische Begehren unzureichend erfasst; auf diesen Verfahrensmängeln beruht die angefochtene Entscheidung.

Das LSG hat der Klägerin zu Unrecht unterstellt, sie verfolge eine auf Rentengewährung gerichtete Anfechtungs- und Leistungsklage iS des § 54 Abs 4 SGG. Einen dahingehenden Klageantrag hat die Klägerin nicht selbst gestellt; selbst wenn sie es getan hätte, wäre ihr Vortrag nach dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung (vgl zB BFHE 206, 211, 216 mwN; Senatsbeschluss vom , SozR 4-1500 § 151 Nr 2) einerseits als Anfechtungsklage gegen den Widerspruchsbescheid vom aufzufassen gewesen; andererseits jedoch auch als Untätigkeitsklage (§ 88 SGG). Für das Vorliegen eines Verfahrensfehlers ist jedoch unerheblich, ob - wie vom LSG angenommen - der Klägerin der Bescheid vom bekannt gegeben worden war (hierzu im Folgenden unter 1) oder nicht (hierzu im Folgenden unter 2).

1a) Die Klägerin hat mit ihrer Klageschrift vom , beim SG eingegangen am , ausdrücklich Klage gegen den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom erhoben. Diese Klage war als Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) zulässig und begründet.

Denn unabhängig davon, ob er - wie die Beschwerdebegründung meint - als lediglich "formeller Verwaltungsakt" aufzufassen ist oder nicht, war der Widerspruchsbescheid rechtswidrig. Er weist einen Widerspruch als unzulässig zurück, den die Klägerin nicht erhoben hatte. Das am bei der Beklagten eingegangene Schreiben der Klägerin, das die Beklagte als Widerspruch gegen ihr Schreiben vom aufgefasst hat, konnte nicht entsprechend ausgelegt werden. Dieses Schreiben in deutscher Sprache ist erkennbar von einer dieser Sprache nicht hinreichend mächtigen Person abgefasst worden. Unabhängig von seinem konkreten Wortlaut kann - ebenfalls nach dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung - nicht unterstellt werden, dass die Klägerin hiermit einen unzulässigen Rechtsbehelf ergreifen wollte.

Vielmehr war das Schreiben entweder als Widerspruch gegen die Ablehnung des Rentenbescheides oder - wenn man der Annahme der Beklagten folgen würde, ihr Bescheid vom sei der Klägerin im zeitlichen Zusammenhang mit diesem Datum bekannt gegeben und somit nach Ablauf der Widerspruchsfrist bindend (§ 77 SGG) geworden - als Antrag gemäß § 44 SGB X aufzufassen. Denn erkennbar wollte die Klägerin, dass (endlich) ein Gericht über ihren Anspruch auf Rente entscheidet; gleichzeitig beantragte sie (hilfsweise) eine Beitragserstattung in Höhe von mindestens € 13.000,--. Hierauf hätte die Beklagte, dem eigenen Rechtsstandpunkt folgend, mit einem Bescheid reagieren müssen, der sowohl nach § 44 Abs 1 SGB X die Rücknahme des bindenden Bescheides vom als auch den (bisher noch nicht beschiedenen) Antrag der Klägerin auf Beitragserstattung ablehnt. Gegen beide Verwaltungsakte wäre als Rechtsbehelf der Widerspruch statthaft gewesen. Damit wäre die Klägerin ihrem Ziel, eine gerichtliche Entscheidung über ihre vermeintlichen Ansprüche herbeizuführen, entscheidend näher gekommen: Hätte sie Widerspruch eingelegt, hätte sie dann gegen den Widerspruchsbescheid vor dem SG klagen können; hätte sie direkt Klage erhoben, wäre das Vorverfahren während des sozialgerichtlichen Verfahrens nachzuholen gewesen. Soweit über die von der Beklagten unterstellte Sachverhaltsvariante zu entscheiden ist, wird das LSG (auf die Berufung der Klägerin gegen das ) über die - isolierte - Anfechtungsklage gegen den Widerspruchsbescheid vom zu befinden haben.

b) Ebenso wird das LSG über die mit der Klageschrift vom gleichfalls erhobene Untätigkeitsklage zu entscheiden haben.

Aus der genannten Klageschrift - zu deren Formulierung die Klägerin die Hilfe eines Diplom-Juristen und Gerichtsdolmetschers für die deutsche Sprache in Anspruch genommen hat - geht mit hinreichender Deutlichkeit hervor, dass die Klägerin eine gerichtliche Entscheidung über ihren Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung anstrebte (zur Beitragserstattung äußert sich die Klage nicht mehr). Wie ein derartiger Anspruch durchzusetzen war, hing im Einzelnen davon ab, ob der Klägerin der Bescheid vom bereits im zeitlichen Zusammenhang mit seinem Erlass bekannt gegeben und somit bindend geworden war.

War dies - wie die Beklagte annimmt - der Fall, so enthielten die Schreiben der Klägerin ab Anfang 2003 (das erste Schreiben ist am bei der Beklagten eingegangen) einen Antrag, gemäß § 44 Abs 1 SGB X den Ablehnungsbescheid vom zu überprüfen. Dieser Antrag war im Zeitpunkt der Erhebung der Klage am noch nicht beschieden. Zwar war zu diesem Zeitpunkt die Sechs-Monats-Frist des § 88 Abs 1 SGG noch nicht verstrichen; die Frist war jedoch jedenfalls zum Zeitpunkt des Urteils des SG am längst abgelaufen. Da aber (nach dem hier unterstellten Sachverhalt) eine derartige Untätigkeitsklage ein - und zwar das einzig zulässige - Rechtsmittel war, um die Klägerin ihrem Ziel näher zu bringen, dass das Gericht über ihren Rentenanspruch entscheide, hätte das SG - im Berufungsverfahren das LSG - gemäß § 88 SGG vorgehen müssen, also entweder die Beklagte zur Erteilung eines Bescheides nach § 44 Abs 1 SGB X verurteilen oder das Verfahren aussetzen müssen, damit diese einen entsprechenden Bescheid erlässt.

Für eine Entscheidung über eine Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG), wie vom Berufungsgericht erfolgt, war nach alledem kein Raum.

2a) Ganz ähnlich wäre zu verfahren gewesen, wenn - wie vom LSG seiner Beurteilung zu Grunde gelegt - der Bescheid vom der Klägerin nicht bekannt gegeben worden war. Eine entsprechende Annahme ist nicht von vornherein abwegig, war der Bescheid doch an die Klägerin unter ihrem früheren Namen H. adressiert und damit möglicherweise nicht zustellbar; hiermit könnte auch übereinstimmen, dass die Klägerin in ihren Schreiben an die Beklagte aus dem Jahre 2003 mehrfach darum gebeten hat, ihr endlich einen Bescheid über ihren Rentenanspruch zu schicken.

Dann aber wäre aus den Schreiben der Klägerin aus den ersten Monaten des Jahres 2003 jedenfalls hervorgegangen, dass sie eine gerichtliche Klärung ihres Rentenanspruchs herbeiführen wollte. Entweder in ihrem am eingegangenen Schreiben oder aber in jenem, das der Beklagten am zugegangen ist, wäre dann ein Widerspruch gegen den Bescheid vom zu sehen gewesen.

Dem steht nicht entgegen, dass - nach der hier diskutierten Sachverhaltsvariante - der Bescheid vom ihr nicht bekannt gegeben (§ 37 SGB X) worden und damit ihr gegenüber auch nicht iS des § 39 Abs 1 SGB X wirksam geworden war. Denn zwar treten die Rechtsfolgen der Bekanntgabe eines Verwaltungsakts nicht ein, wenn dieser nicht ordnungsgemäß in den Machtbereich seines Adressaten gelangt. Es ist jedoch zwischen der Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs (hier: Widerspruch) und den Folgen von Bekanntgabemängeln eines Verwaltungsakts zu unterscheiden. Dem Versicherten darf nicht zur Last gelegt werden, dass die Bekanntgabe fehlerhaft unterblieben ist. Für einen Widerspruch (§§ 78, 83 SGG) muss ausreichend sein, dass die Behörde sich darauf beruft, einen Verwaltungsakt eines bestimmten Inhalts erlassen zu haben, auch wenn dessen Bekanntgabe an den Betroffenen nicht festgestellt werden kann. Jedenfalls war das Verwaltungsverfahren aus der Sicht der Beklagten abgeschlossen, nachdem sie den Bescheid vom gefertigt und zwecks Bekanntgabe an die Klägerin zur Post gegeben hatte. § 78 SGG verlangt in diesem Sinne nur den Abschluss eines Verfahrens, der sich innerhalb der Verwaltung vollzieht, jedoch keine mängelfreie Bekanntgabe des Verwaltungsakts. Entsprechende Fehler können nur verhindern, dass die Frist für die Erhebung des Widerspruchs (§ 84 Abs 1 SGG) in Lauf gesetzt wird. Nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist jedoch ein trotz mangelhafter Bekanntgabe des Verwaltungsakts erhobener Widerspruch zulässig (vgl hierzu BFH/NV 1996, 554, 555). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Klägerin in der Mitteilung vom der wesentliche Inhalt des Bescheides vom wiedergegeben wurde ("Wir teilen Ihnen nochmals mit, dass Ihr Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung mit Bescheid vom abgelehnt wurde, weil die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind."). Somit hat sie am jedenfalls nicht "ins Blaue" Widerspruch eingelegt, sondern erkennbar gegen die Ablehnung des Antrags auf Rente wegen Erwerbsminderung.

Über diesen - in der hier diskutierten Sachverhaltsvariante - zulässigen Widerspruch gegen den Bescheid vom hat die Beklagte jedoch bisher nicht entschieden. Der Widerspruchsbescheid vom bezieht sich mit hinreichender Deutlichkeit weder auf den Bescheid vom noch auf den von der Klägerin geltend gemachten Rentenanspruch. Er begnügt sich vielmehr lediglich mit der Verwerfung ("Zurückweisung") eines von der Beklagten nur unterstellten unzulässigen Widerspruchs gegen ihr Schreiben vom , sodass auch insoweit über eine isolierte Anfechtungsklage (s hierzu oben) zu entscheiden wäre.

b) Auch auf dieser Grundlage aber war die von der Klägerin im Mai 2003 erhobene Klage als Untätigkeitsklage, hier gemäß § 88 Abs 2 iVm Abs 1 SGG wegen des bisher nicht erteilten Widerspruchsbescheids, aufzufassen. Jedenfalls im Zeitpunkt des war sie zulässig und hätte entsprechend behandelt werden müssen.

Der Senat konnte somit offen lassen, ob der Klägerin der Bescheid vom bekannt gegeben wurde. Die Zweifel an den Feststellungen des LSG, denen zur Feststellung eines Verfahrensfehlers unter Umständen auch der Senat hätte nachgehen müssen, können daher dahingestellt bleiben. Deshalb kann sich der Senat auch die Erörterung sparen, ob der Vortrag der Klägerin in der Beschwerdebegründung dahingehend zu verstehen ist, dass sie selbst die Bekanntgabe gar nicht bestreiten will.

3. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach § 160a Abs 5 SGG zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
UAAAD-28931