BFH Beschluss v. - III B 111/08

Auslegung einer an die Familienkasse übersandten Ausbildungsbescheinigung als Kindergeldantrag keine Tatsache i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO; Anforderungen an die Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde

Gesetze: AO § 173, AO § 125 Abs. 1, EStG § 67, EStG § 70 Abs. 1, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1, FGO § 116 Abs. 3 Satz 3

Instanzenzug:

Gründe

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) bezog für seinen Sohn (A), der sich von August 2000 bis Juli 2003 in einem Ausbildungsverhältnis befand, Kindergeld. Mit Schreiben vom an die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) bat der Kläger, „vorerst” ab die Zahlung des Kindergeldes auszusetzen, da die Einkünfte seines Sohnes voraussichtlich den —nach § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) maßgebenden— Grenzbetrag überschreiten würden. Die Familienkasse stellte daraufhin ab Dezember 2000 die Zahlung des Kindergeldes ein. Hinsichtlich des Jahres 2000 wies der Kläger in der Folgezeit nach, dass die Einkünfte seines Sohnes nicht über dem Grenzbetrag lagen. Die Familienkasse zahlte deshalb Kindergeld für den Monat Dezember 2000 nach und hob mit Bescheid vom die Festsetzung des Kindergeldes rückwirkend ab Januar 2001 auf.

Im Dezember 2001 übersandte der Kläger der Familienkasse eine Ausbildungsbescheinigung des Arbeitgebers seines Sohnes vom , in welcher die jeweiligen Monatsbeträge der Einkünfte für die Dauer des Ausbildungsverhältnisses aufgelistet waren. Die Familienkasse wertete die Übersendung der Ausbildungsbescheinigung als Antrag auf Kindergeld ab Januar 2001, den sie —wegen Überschreitens der Einkünfte- und Bezügegrenze— mit Bescheid vom ablehnte. Dagegen ging der Kläger nicht mit Einspruch vor.

Nachdem dem Kläger die Entscheidung des (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) bekannt geworden war, beantragte er im Dezember 2005 rückwirkend Kindergeld für das Jahr 2001. Die Familienkasse lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom unter Hinweis auf den Ablehnungsbescheid vom ab. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) war ebenfalls der Ansicht, der Ablehnungsbescheid vom stehe der Gewährung von Kindergeld entgegen. Er sei zwar rechtswidrig, weil darin entgegen dem Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 die für A abgeführten Sozialversicherungsbeiträge nicht Einkünfte mindernd berücksichtigt worden seien, der Bescheid sei jedoch nicht nichtig.

Das Urteil des FG wurde der Prozessbevollmächtigten des Klägers am zugestellt. Hiergegen legte diese für den Kläger mit Schriftsatz vom Nichtzulassungsbeschwerde ein. Eine Begründung sollte in einem gesonderten Schriftsatz nachgereicht werden, ging jedoch zunächst nicht beim Bundesfinanzhof (BFH) ein.

Durch ein Schreiben der Senatsvorsitzenden vom wurde die Prozessbevollmächtigte darauf hingewiesen, dass die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde am abgelaufen war. Mit Schreiben vom beantragte die Prozessbevollmächtigte für den Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Zur Begründung trug sie vor, die Eingangspost werde von der sehr erfahrenen und sorgfältig arbeitenden Angestellten S mit einem Stempel versehen, sodann würden ggf. laufende Fristen notiert. Nach Sichtung der Tagespost habe die Klägervertreterin an S die Weisung erteilt, die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde neben der bereits vermerkten Beschwerdefrist zu notieren und anschließend die Akte mit einer Ausführungsbestätigung sofort wieder vorzulegen. Diese Anweisung habe S zwar sogleich notiert, sie habe allerdings die Akte anschließend weggelegt, ohne die weitere Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde vermerkt zu haben, auch habe sie versäumt, die Akte wieder vorzulegen. Bei S handele es sich um eine geschulte und zuverlässige Rechtsanwaltsfachangestellte, die seit mehr als zwei Jahren den Fristenkalender sorgfältig und fehlerlos geführt habe.

In der Sache lässt der Kläger vortragen, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung, weil der Praxis von Behörden entgegengewirkt werden müsse, die rechtskräftige negative Bescheide erließen, ohne dass zuvor entsprechende Anträge gestellt worden seien. Durch derartige Bescheide dürften die Rechte betroffener Bürger nicht verwirkt werden. Er, der Kläger, habe keinen wirksamen Antrag auf Kindergeld gestellt. Ein Antrag könne auch nicht darin gesehen werden, dass er auf eine Aufforderung der Familienkasse hin eine Ausbildungsbescheinigung übersandt habe. Der Bescheid vom sei nichtig, weil er unter einem besonders schwerwiegenden Fehler leide. Unabhängig hiervon sei der Ausgangsbescheid nach § 173 der Abgabenordnung (AO) zu ändern, da nachträglich Tatsachen und Beweismittel bekannt geworden seien, die zu einer anderen Beurteilung führten. Die fehlende Antragstellung sei eine wesentliche, nachträglich bekannt gewordene Tatsache, die eine Änderung nach § 173 AO rechtfertige. Die Rechtssache sei nicht nur von grundsätzlicher Bedeutung, wegen des fehlenden Antrags liege auch ein Verfahrensfehler vor.

II. Die Beschwerde ist unzulässig und wird durch Beschluss verworfen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO). Dabei kann dahinstehen, ob dem Kläger wegen der Versäumung der für seine Nichtzulassungsbeschwerde geltenden Begründungsfrist (§ 116 Abs. 3 FGO) die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre (§ 56 FGO). Jedenfalls genügt die Beschwerdebegründung nicht den Darlegungserfordernissen nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO.

1. Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO setzt voraus, dass der Beschwerdeführer eine hinreichend bestimmte Rechtsfrage herausstellt, deren Klärung im Interesse der Allgemeinheit an der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Fortentwicklung des Rechts erforderlich ist und die im konkreten Streitfall klärbar ist. Dazu ist auszuführen, ob und in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Rechtsfrage umstritten ist. Vor allem sind, sofern zu dem Problemkreis Rechtsprechung und Äußerungen im Fachschrifttum vorhanden sind, eine grundlegende Auseinandersetzung damit sowie eine Erörterung geboten, warum durch diese Entscheidungen die Rechtsfrage noch nicht als geklärt anzusehen ist bzw. weshalb sie ggf. einer weiteren oder erneuten Klärung bedarf (s. z.B. Senatsbeschluss vom III B 14/03, BFH/NV 2004, 224).

a) Dem Vorbringen des Klägers lässt sich entnehmen, dass er die Klärung der —nicht ausdrücklich formulierten— Rechtsfrage begehrt, ob ein Bescheid, durch den die Gewährung von Kindergeld abgelehnt wird, nichtig ist, weil der Kindergeldberechtigte zuvor keinen entsprechenden Antrag gestellt hat. Der Kläger hat sich nicht mit dem (BFHE 197, 554, BStBl II 2002, 438) auseinandergesetzt, in dem dieser entschieden hat, dass ein Lohnsteuer-Pauschalierungsbescheid nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, der ohne Antrag des Arbeitgebers ergangen ist, nicht nichtig ist. Dementsprechend ist er auch nicht auf die Frage eingegangen, weshalb trotz dieser Entscheidung die oben formulierte Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung sein sollte. Ebenso wenig hat er sich mit einschlägigen Stellungnahmen in der Fachliteratur befasst, in denen ein zur Nichtigkeit führender schwerwiegender Mangel i.S. von § 125 Abs. 1 AO in den Fällen verneint wird, in denen ein Verwaltungsakt ergangen ist, ohne dass zuvor der eigentlich erforderliche Antrag gestellt worden ist (s. Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 125 AO Rz 27; Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 125 AO Rz 22; Klein/Brockmeyer, AO, 9. Aufl., § 125 Rz 9; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 125 Rz 10; Pahlke in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 125 Rz 11). Damit hat der Kläger die grundsätzliche Bedeutung entgegen § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO nicht dargelegt.

b) Auch die pauschale Behauptung, der Ablehnungsbescheid vom könne nach § 173 AO geändert werden, weil die fehlende Antragstellung erst nachträglich bekannt geworden sei, genügt nicht den Darlegungserfordernissen nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO.

Unabhängig hiervon betrifft die Frage, ob die der Familienkasse übersandte Ausbildungsbescheinigung als Kindergeldantrag zu behandeln war, nicht eine „Tatsache” i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, sondern eine rechtliche Wertung.

2. Mit der Rüge, das FG habe den Bescheid vom trotz des fehlenden Antrags als wirksam angesehen, macht der Kläger keinen Verfahrensmangel geltend (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO), sondern einen materiell-rechtlichen Fehler. Einwände gegen die materiell-rechtliche Richtigkeit führen jedoch grundsätzlich nicht zur Zulassung der Revision (z.B. , BFH/NV 2006, 1892).

Fundstelle(n):
TAAAD-27994