BGH Beschluss v. - I ZR 223/06

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: HWG § 10 Abs. 1; Richtlinie 2001/83/EG Art. 71 Abs. 1; Richtlinie 2001/83/EG Art. 86 Abs. 1; Richtlinie 2001/83/EG Art. 88 Abs. 1a

Instanzenzug: OLG Hamburg, 3 U 43/05 vom LG Hamburg, 315 O 303/04 vom

Gründe

I.

Die Parteien sind Arzneimittelunternehmen und stehen miteinander im Wettbewerb.

Die Beklagte präsentierte ihre verschreibungspflichtigen Arzneimittel "VIOXX", "FOSAMAX" und "SINGULAIR" im Internet jeweils über eine nicht passwortgeschützte elektronische Verknüpfung und damit für jedermann frei zugänglich unter Wiedergabe der Produktpackung, der Beschreibung der Indikation und der Gebrauchsinformation.

Die Klägerin sieht hierin einen Verstoß gegen das in § 10 Abs. 1 HWG bestimmte Verbot der Öffentlichkeitswerbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel und zugleich ein unzulässiges Verhalten der Beklagten im Wettbewerb. Sie hat vor dem Landgericht beantragt,

die Beklagte unter Androhung bestimmter Ordnungsmittel zu verurteilen, es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs im Internet werbliche Informationen über verschreibungspflichtige Arzneimittel in einer Weise zu verbreiten, dass diese Informationen auch außerhalb der medizinischen Fachkreise ohne weiteres zugänglich sind.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben.

Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Entsprechend dem geänderten Antrag der Klägerin hat es das vom Landgericht ausgesprochene Verbot in der Weise ergänzt, dass nach den Wörtern "werbliche Informationen" der Klammerzusatz "(nämlich Angaben zur Indikation und/oder die Gebrauchsinformation)" eingefügt wird (OLG Hamburg MD 2007, 1200). Die von der Beklagten auf ihren Internetseiten ohne Passwort-Schutz für jedermann zugänglich veröffentlichten Angaben stellten eine nach § 10 Abs. 1 HWG verbotene und als wettbewerbswidrig anzusehende Werbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel außerhalb der Fachkreise dar. Sie unterfielen dem weit zu verstehenden heilmittelwerberechtlichen Werbebegriff auch dann, wenn sie sachlich gehalten und nicht typisch "reklamehaft" gestaltet seien. Dies gelte auch für diejenigen Angaben zur Indikation, die als Pflichtangaben Teil der arzneimittelrechtlichen Zulassung des jeweiligen Mittels seien, und insoweit, als die Gebrauchsinformation Pflichtangaben enthalte und als solche am Zulassungsverfahren teilhabe. Unerheblich sei, dass die Hinweise zu den drei Mitteln nicht aktiv an den Patienten herangetragen würden, sondern auf den Internetseiten der Beklagten veröffentlicht seien. Der von der Beklagten für wesentlich erachtete Gesichtspunkt eines Informationsbedürfnisses rechtfertige eine abweichende Beurteilung ebenfalls nicht.

II.

Die Parteien haben in den Vorinstanzen und auch in der Revision mit umfangreichen Ausführungen über die Frage gestritten, ob das Verbot der Öffentlichkeitswerbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel in Art. 88 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel im primären Gemeinschaftsrecht eine hinreichende Grundlage hat. Der Senat geht jedoch davon aus, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften diese Frage bereits geprüft und auch bejaht hat (vgl. , Slg. 2003, I-14887 = GRUR 2004, 174 Tz. 139 = WRP 2004, 205 - DocMorris; Urt. v. - C-372/05, Slg. 2007, I-9517 = GRUR 2008, 267 Tz. 19 = WRP 2008, 205 - Gintec).

III.

Der Erfolg der vom Senat zugelassenen Revision der Beklagten hängt davon ab, ob Art. 88 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2001/83/EG auch eine Öffentlichkeitswerbung der hier in Rede stehenden Art erfasst, die allein Angaben enthält, die der Zulassungsbehörde im Rahmen des Zulassungsverfahrens vorgelegen haben und jedem, der das Präparat erwirbt, ohnehin zugänglich werden, und die dem Interessenten nicht unaufgefordert dargeboten wird, sondern nur demjenigen im Internet zugänglich ist, der sich selbst um sie bemüht. Diese Frage stellt sich nicht erst de lege ferenda (vgl. dazu Art. 88a der Richtlinie 2001/83/EG; Lorz, GRUR Int. 2005, 894, 897; Enderlein, BKK 2007, 457 ff.; Kiewel/Stuppardt, KrV 2008, 70 ff.; Rieß aaO S. 55 f.), sondern bereits de lege lata.

1.

Nach Art. 86 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG gelten als "Werbung für Arzneimittel" im Sinne des Titels VIII der Richtlinie alle Maßnahmen zur Information, zur Marktuntersuchung und zur Schaffung von Anreizen mit dem Ziel, die Verschreibung, die Abgabe, den Verkauf oder den Verbrauch von Arzneimitteln zu fördern; hierzu gehört gemäß dem 1. Spiegelstrich dieser Bestimmung insbesondere die Öffentlichkeitswerbung für Arzneimittel. Nach dem Wortlaut der Richtlinie fallen daher auch Veröffentlichungen im Internet in den Anwendungsbereich des Titels VIII der Richtlinie, sofern mit ihnen ein Absatzinteresse verfolgt wird. Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, ob es sich um anpreisende Präsentationen oder um sonstige produktbezogene Angaben handelt (Lorz, GRUR Int. 2005, 894, 895; Gellißen, Arzneimittelwerbung im Internet, 2008, S. 149, jeweils m.w.N.).

Gemäß Art. 86 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG gelten die Bestimmungen des Titels VIII allerdings nicht für die Etikettierung und die Packungsbeilage (Art. 54 bis 69). Danach stellen Informationen auf dem Etikett und in der Packungsbeilage freilich nur dann keine Werbung i.S. des Art. 86 Abs. 1 der Richtlinie dar, wenn sie in ihrer jeweiligen Funktion als Etikett oder Packungsbeilage verwendet werden, das heißt auf dem Behältnis und - soweit vorhanden - auf der äußeren Umhüllung des Arzneimittels aufgebracht sind bzw. der Arzneimittelpackung beiliegen und den Patienten zusammen mit dem Arzneimittel erreichen. Dagegen handelt es sich um Werbung, wenn diese Pflichtangaben aus der arzneimittelrechtlichen Kennzeichnungsform herausgelöst und einer eigenständigen kommunikativen Verwendung - beispielsweise in einer Zeitungsanzeige - zugeführt werden (vgl. , GRUR 1998, 959, 960 = WRP 1998, 983 - Neurotrat forte; Lorz, GRUR Int. 2005, 894, 899; Rieß, Publikumswerbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel, 2007, S. 54; Sodan/Zimmermann, Das Spannungsfeld zwischen Patienteninformierung und dem Werbeverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel, 2008, S. 105 m.w.N.).

2.

Aus der Sicht des Senats stellt sich die Frage, ob dieser weite Begriff der Werbung wegen des in Art. 88 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2001/83/EG bestimmten Werbeverbots einschränkend auszulegen ist, so dass er eine Publikumswerbung der hier in Rede stehenden Art nicht erfasst, bei der die Informationen nur demjenigen zugänglich sind, der sich selbst im Internet um sie bemüht, und bei der allein Angaben gemacht werden, die der Zulassungsbehörde vorgelegen haben und dem Patienten mit dem Erwerb des Mittels ohnehin zugänglich werden. Da es dabei um die Reichweite des im Gemeinschaftsrecht festgelegten Begriffs der Arzneimittelwerbung sowie des dort statuierten grundsätzlichen Verbots der Öffentlichkeitswerbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel geht, ist die Sache insoweit dem Gerichtshof zur Herbeiführung einer Vorabentscheidung gemäß Art. 234 EG vorzulegen.

3.

Bei der insoweit gebotenen Güter- und Interessenabwägung ist aus der Sicht des Senats zunächst der Sinn und Zweck des Werbeverbots zu berücksichtigen.

a)

Dabei ist einerseits in Rechnung zu stellen, dass Arzneimittel gemäß Art. 71 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG dann als verschreibungspflichtig einzustufen sind, wenn sie selbst bei normalem Gebrauch ohne ärztliche Überwachung direkt oder indirekt eine Gefahr darstellen können (1. Spiegelstrich) oder häufig und in sehr starkem Maße unter anormalen Bedingungen verwendet werden und dies die Gesundheit direkt oder indirekt gefährden kann (2. Spiegelstrich) oder Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen enthalten, deren Wirkung und/oder Nebenwirkungen unbedingt noch genauer erforscht werden müssen (3. Spiegelstrich) oder, von Ausnahmen abgesehen, zur parenteralen Anwendung von einem Arzt verschrieben werden sollten (4. Spiegelstrich). Ein Fehlgebrauch solcher wirksamen, aber gegebenenfalls mit entsprechenden Nebenwirkungen und/oder Kontraindikationen verbundenen und damit auch gefährlichen Arzneimittel kann schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben. Dieser Umstand spricht dafür, verschreibungspflichtige Arzneimittel einem strikten Werbeverbot zu unterstellen und deshalb insoweit von einem weiten Werbebegriff auszugehen (vgl. Lorz, GRUR Int. 2005, 894, 896; Gellißen aaO S. 253).

b)

Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, dass bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln die Gefahr der Selbstmedikation bei Weitem geringer ist als bei nicht verschreibungspflichtigen Mitteln, weil verschreibungspflichtige Mittel zumindest auf legalem Weg nicht ohne Beteiligung eines Arztes und Apothekers und nicht ohne damit einhergehende Beratung und Untersuchung zu erlangen sind. Die Verschreibungspflicht stellt daher im Regelfall sicher, dass Anreize aus der Werbung nicht unmittelbar in eine Kaufentscheidung umgesetzt werden können, sondern die endgültige Entscheidung über das vom Patienten einzunehmende Mittel weiterhin beim behandelnden Arzt liegt (vgl. Stoll, PharmR 2004, 100, 101 und 105; Lorz, GRUR Int. 2005, 894, 896 f.; Gellißen aaO S. 254). Allerdings erscheint es möglich, dass der Arzt aufgrund der Bitte eines informierten Patienten von einem Produkt, zu dem er zunächst tendierte, zu einem anderen wechselt und sich die sachliche Information daher - wenn auch nur geringfügig - absatzsteigernd auswirkt (a.A. Lorz, GRUR Int. 2005, 894, 896). Hiervon geht jedoch keine Gefahr für die Gesundheit des Patienten aus, wenn aus ärztlicher Sicht die Verschreibung des einen wie des anderen Mittels in Betracht kommt (Gellißen aaO S. 254 f.).

c)

Die Gefahr eines durch eine Sachinformation veranlassten Fehlgebrauchs stellt sich daher in erster Linie im Hinblick auf die bereits verordnete Arzneimittelpackung (Stoll, PharmR 2004, 100, 101; Lorz, GRUR Int. 2005, 894, 897; Gellißen aaO S. 255). Zwar besteht insoweit in Fällen, in denen ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel aus einer früheren Verschreibung noch beim Patienten vorrätig ist, in der Tat die Gefahr einer "werbungsinduzierten", das heißt durch die im Internet zur Verfügung gestellte Sachinformation veranlassten unerwünschten Selbstmedikation, weil der Patient meint, er könne deswegen von dem vor der neuerlichen Anwendung des Mittels tatsächlich gebotenen Gang zum Arzt absehen (Gellißen aaO S. 255; a.A. Stoll, PharmR 2004, 100, 101; Lorz, GRUR Int. 2005, 894, 897). Dieselbe Gefahr geht aber auch von der dem Arzneimittel beigegebenen Packungsbeilage aus. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass es dem Schutz des Patienten zugute kommen kann, wenn dem Patienten die in der Packungsbeilage enthaltenen Informationen - etwa über Dosierung, Risiken, Nebenwirkungen und Reaktionsmöglichkeiten bei nach Einnahme des Mittels auftretenden Komplikationen - auch im Falle des Verlusts der Packungsbeilage im Internet zugänglich sind (Gellißen aaO S. 255). Insofern kann eine solche Information geeignet sein, die Gefahren einer "uninformierten Selbstmedikation" zu vermeiden oder zu verringern (vgl. Stoll, PharmR 2004, 100, 101 und 105; Lorz, GRUR Int. 2005, 894, 897; Gellißen aaO S. 255).

4.

Unter den gegebenen Umständen hat der Senat Zweifel, ob das Verbot, für verschreibungspflichtige Arzneimittel außerhalb der Fachkreise zu werben, unter Berücksichtigung der Gemeinschaftsgrundrechte verhältnismäßig ist, wenn es sich lediglich um Pflichtangaben handelt und diese Angaben nur im Internet zur Verfügung stehen und damit nicht einer breiten unvorbereiteten Öffentlichkeit aufgedrängt werden (vgl. , GRUR 2008, 618 Tz. 20 = WRP 2008, 492; , GRUR 2004, 164, 165 = WRP 2004, 221 - Arztwerbung im Internet, jeweils m.w.N.). Ein Schutz der Adressaten vor entsprechenden Informationen erscheint nicht in gleicher Weise erforderlich wie bei üblicher Werbung, die den Empfänger vielfach ungewollt und unvorbereitet trifft.

Fundstelle(n):
KAAAD-26519

1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja