BSG Beschluss v. - B 8 SO 17/08 B

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: SGG § 158 Satz 2; EMRK Art 6 Abs 1

Instanzenzug: LSG Nordrhein-Westfalen, L 20 SO 77/07 vom SG Detmold, S 6 SO 133/06 vom

Gründe

I

Im Streit ist die Zahlung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Grundsicherungsgesetz und dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).

Den Antrag des Klägers vom , ihm die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu gewähren, lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Zur Begründung führte er aus, das Einkommen des Klägers übersteige den grundsicherungsrechtlichen Bedarf. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid des SG Detmold vom , zugestellt am ). Der Kläger hat hiergegen am (Freitag) Berufung eingelegt, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist beantragt und einen Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe gestellt. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen (NRW) hat eine Wiedereinsetzung abgelehnt, die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen und Prozesskostenhilfe versagt (Beschluss des LSG NRW vom ).

Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde und rügt Verfahrensmängel. Er macht ua geltend, schon das SG hätte nicht ohne mündliche Verhandlung, sondern erst auf Grund mündlicher Verhandlung nach weiterer Sachaufklärung entscheiden dürfen. Der Verfahrensfehler des SG setze sich auch im berufungsgerichtlichen Verfahren fort.

II

Die Beschwerde des Klägers ist zulässig. Sie ist nach Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand fristgerecht erhoben und genügt hinsichtlich der geltend gemachten Verfahrensfehler den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Kläger macht mit seiner Beschwerde ua sinngemäß geltend, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein, indem schon das SG durch Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung entschieden und das LSG die Berufung nach § 158 Satz 2 SGG verworfen habe. Grundsätzlich bedarf es keines weiteren Vortrags zum Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Beschwerdeführer behauptet, sein Recht auf mündliche Verhandlung sei verletzt worden (vgl Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom , B 12 KR 16/02 B; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62).

Die Beschwerde ist auch begründet. Der behauptete Verfahrensfehler liegt vor. Das LSG hätte unter Beachtung des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren, zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und unter Beachtung von Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht durch Beschluss nach § 158 Satz 2 SGG, sondern nur auf Grund mündlicher Verhandlung durch Urteil unter Einbeziehung der ehrenamtlichen Richter entscheiden dürfen. Nach § 158 Satz 2 SGG "kann" die Entscheidung (über die Verwerfung der Berufung als unzulässig) durch Beschluss ergehen. Damit ist dem Berufungsgericht - insoweit vergleichbar der Regelung des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG - Ermessen eingeräumt, durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Die Ermessensentscheidung kann im Revisionsverfahren nur darauf überprüft werden, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen erkennbar fehlerhaft Gebrauch gemacht hat, dh etwa sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zu Grunde gelegt hat (vgl zu § 153 Abs 4 Satz 1 SGG: ; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 35, 38 mwN). Dies ist hier der Fall. Nicht grundlegend anders als im Rahmen von § 153 Abs 4 Satz 1 SGG (vgl dazu -, SozSich 2004, 35; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 1 RdNr 6 ff) ist die Möglichkeit, nach § 158 Satz 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden. Auch die Ausgestaltung des vereinfachten Berufungsverfahrens im SGG unter Berücksichtigung der Rechtsbehelfe gegen Gerichtsbescheide nach § 153 Abs 4, § 105 Abs 2 SGG ist nach dem Willen des Gesetzgebers allgemein an Art 6 Abs 1 EMRK orientiert. Das strahlt ebenfalls auf die Ermessensentscheidung nach § 158 Satz 2 SGG aus.

Das BSG hat bereits entschieden, § 158 Satz 2 SGG gelte nicht ohne Einschränkungen auch in solchen Fällen, in denen erstinstanzlich ein Gerichtsbescheid ergangen ist (BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 9; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 158 RdNr 6; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, Kap VIII RdNr 77). Vielmehr geböten es das Gebot des fairen und effektiven Rechtsschutzes sowie das Recht auf eine mündliche Verhandlung, von einer Entscheidung durch Beschluss nach § 158 Satz 2 SGG abzusehen, wenn sich die Berufung gegen einen Gerichtsbescheid richte. Nicht anders als bei § 153 Abs 4 Satz 1 SGG führe die hieraus resultierende Verletzung des § 158 Satz 2 SGG zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern und damit zum Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes gemäß § 202 SGG iVm § 547 Nr 1 Zivilprozessordnung (vgl zu § 153 Abs 4 Satz 1 SGG: BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13; ). Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat ausdrücklich an.

Nach § 160a Abs 5 SGG - hier anwendbar gemäß Art 1 Nr 54 Buchst b des Sechsten SGG-Änderungsgesetzes (vom , BGBl I 2144) - kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - wie hier - vorliegen. Von dieser Möglichkeit macht der Senat Gebrauch.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.

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Fundstelle(n):
EAAAD-26213