BFH Beschluss v. - III B 99/08

Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, wenn FG vor Ablauf der Frist zur Stellungnahme durch den Bevollmächtigten ein Urteil erlässt

Gesetze: FGO § 77, FGO § 96 Abs. 2, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, FGO § 116 Abs. 6, FGO § 119 Nr. 3

Instanzenzug: (Kg)

Gründe

I. Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) ist ein anerkannter Lohnsteuerhilfeverein. Er war für einen polnischen Staatsangehörigen (W) in einer Kindergeldsache tätig. Die Beklagte und Beschwerdeführerin (Familienkasse) hob durch Bescheid vom die Festsetzung des Kindergeldes ab Januar 2006 auf, weil W ihrer Ansicht nach keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland mehr hatte. Mit Bescheid vom gewährte die Familienkasse Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG). Durch Verwaltungsakt vom selben Tage wies sie den Kläger als Bevollmächtigten zurück, weil dieser nicht in einem Verfahren nach dem BKGG tätig werden dürfe. Der hiergegen gerichtete Rechtsbehelf blieb ohne Erfolg. Im Anschluss daran erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht. Dieses verwies den Rechtsstreit durch Beschluss vom an das Finanzgericht (FG). Mit Schriftsatz vom legte der Kläger seine Ansicht dar, wonach er für das nach dem BKGG zu gewährende Kindergeld eine Annex-Kompetenz habe, wenn ein bislang unbeschränkt steuerpflichtiger Kindergeldberechtigter zu Unrecht als beschränkt steuerpflichtig behandelt werde. In einem derartigen Fall müsse es möglich sein, für ein Mitglied weiterhin tätig zu sein.

Die Berichterstatterin des FG verfügte am , dass der Schriftsatz an die Familienkasse mit der Bitte um Stellungnahme innerhalb von vier Wochen übersandt werden sollte. Das Schreiben ging dort am ein. Am erließ das FG gegenüber den Beteiligten, die mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter einverstanden waren und auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet hatten, ein stattgebendes Urteil. In den Urteilsgründen führte es u.a. aus, W sei unbeschränkt steuerpflichtig und habe einen Anspruch auf Kindergeld nach § 62 des Einkommensteuergesetzes, so dass der Kläger berechtigt sei, ihn in dieser Angelegenheit zu vertreten. Mit Schriftsatz vom , beim FG eingegangen am , legte die Familienkasse ihre Rechtsansicht zur Vertretungsbefugnis des Klägers dar.

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht die Familienkasse einen Verfahrensmangel geltend (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Das FG habe das rechtliche Gehör verletzt, weil es noch vor Ablauf der von ihm selbst gesetzten Frist ein Urteil erlassen habe.

II. Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Streitsache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 6, § 119 Nr. 3 FGO). Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Familienkasse auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO).

1. Die Familienkasse hat den Verfahrensfehler ordnungsgemäß gerügt (§§ 115 Abs. 2 Nr. 3, 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Ausdrückliche Ausführungen dazu, was sie bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätte und dass die Entscheidung bei Berücksichtigung dieses Vorbringens anders hätte ausfallen können, waren nicht erforderlich, da die anheim gestellte Stellungnahme nicht auf bestimmte Streitpunkte beschränkt war. In einem solchen Fall gilt die Kausalitätsvermutung des § 119 Nr. 3 FGO einschränkungslos (vgl. Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs —BFH— vom GrS 3/98, BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802; BFH-Beschlüsse vom V B 242/02, BFH/NV 2003, 940; vom VIII B 116/03, BFH/NV 2005, 1108).

2. Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Der Anspruch der Familienkasse auf rechtliches Gehör ist verletzt.

a) Die Gerichte müssen selbst gesetzte Äußerungsfristen beachten und mit der Entscheidung bis zum Ablauf der Äußerungsfrist warten, auch wenn sie die Sache für entscheidungsreif halten (vgl. Entscheidung des , juris, sowie , BFH/NV 2005, 376). Das Gericht verletzt demnach den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör, wenn es im schriftlichen Verfahren entscheidet, bevor eine von ihm gesetzte Frist zur Stellungnahme verstrichen ist (BFH-Beschlüsse vom IX R 100/00, BFH/NV 2002, 945; in BFH/NV 2003, 940, und in BFH/NV 2005, 1018).

b) Im Streitfall hat das FG der Familienkasse durch Verfügung vom eine Frist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 2 FGO zur Stellungnahme innerhalb von vier Wochen eingeräumt. Der Lauf einer richterlichen Frist beginnt, sofern nichts anderes angeordnet ist, mit der Bekanntgabe des Schriftstücks, in dem die Frist bestimmt ist (§ 155 FGO i.V.m. § 221 der Zivilprozessordnung; s. BFH-Beschluss in BFH/NV 2005, 1108; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 54 FGO Tz. 11; Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 54 Rz. 9; Spindler in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 54 FGO Rz. 6). Im Streitfall ging die richterliche Anordnung am bei der Familienkasse ein, so dass die Frist von vier Wochen mit Ablauf des endete. Noch vor Fristablauf hatte das entschieden. Dieser Verfahrensfehler hat zur Folge, dass die Vorentscheidung ohne sachliche Nachprüfung aufzuheben ist.

Fundstelle(n):
QAAAD-24816