BSG Beschluss v. - B 1 KR 69/08 B

Leitsatz

1. Unterbleibt ein gebotener richterlicher Hinweis auf den Anspruch für sehbehinderte Personen auf Zugänglichmachung einer Gerichtsentscheidung in wahrnehmbarer Form und versäumt der Berechtigte daraufhin die Berufungsfrist, so tritt bei Prüfung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein zusätzliches Verschulden des Berechtigten zurück.

2. Für die Zulassung der Revision ist kein Raum, wenn mit Sicherheit davon auszugehen ist, dass das angefochtene LSG-Urteil unabhängig vom Vorliegen der geltend gemachten Zulassungsgründe aus anderen als den vom Berufungsgericht angestellten Erwägungen im Ergebnis Bestand haben wird (Fortführung von = SozR 3-1500 § 160a Nr 28 nach Aufgabe von = vom SozR 3-1500 § 160 Nr 33).

3. Eine formgerechte Nichtzulassungsbeschwerde wegen Verfahrensfehlers ist bei sicherem Misserfolg des angestrebten Revisionsverfahrens unbegründet.

Gesetze: ZMV § 4 Abs 2 S 2; SGG § 67; SGG § 160 Abs 2; SGG § 160a; SGG § 170 Abs 1 S 2; GVG § 191a S 1

Instanzenzug: SG Dresden, S 15 KR 216/07 vom LSG Chemnitz, L 1 KR 133/07 vom

Gründe

I

Der 1957 geborene Kläger ist bei der beklagten AOK versichert. Er leidet unter einer hochgradigen Myopie (-28,0 dpt), ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100 sowie den Merkzeichen G, Bl, H und RF und bezieht neben einer Erwerbsminderungsrente Blindengeld nach dem Landesblindengeldgesetz. Sein Antrag, ihm für mindestens acht Stunden pro Woche dauerhaft Haushaltshilfe zu gewähren, da er aufgrund seiner Sehbehinderung bei der Führung seines Haushalts und der Bearbeitung behördlicher Korrespondenz auf ständige Hilfe angewiesen sei, die er von seiner niedrigen Rente nicht bezahlen könne, blieb bei der Beklagten und den Vorinstanzen ohne Erfolg. Das Sozialgericht (SG) hat ausgeführt, die Voraussetzungen sowohl des § 38 Abs 1 als auch des § 38 Abs 2 SGB V iVm der Satzung der Beklagten seien nicht erfüllt. Der Kläger lebe nicht mit einem Kind in einem Haushalt zusammen, es liege keine ärztliche Bescheinigung über die Unmöglichkeit einer Weiterführung des Haushalts vor und es bestünden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Weiterführung des Haushalts wegen akuter schwerer Krankheit oder akuter Verschlimmerung einer Krankheit nicht möglich sein solle (Gerichtsbescheid vom , zugestellt am ). Das SG hat keinen Hinweis erteilt auf den Anspruch nach § 4 Abs 2 der Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren (Zugänglichmachungsverordnung - ZMV - vom , BGBl I 215). Das Landessozialgericht (LSG) hat die am eingelegte Berufung des Klägers verworfen: Weil der Kläger seine Post von Hilfspersonen in chronologischer Reihenfolge habe abarbeiten lassen, obwohl er gewusst habe, dass ihn mit dem Gerichtsbescheid ein amtliches, Fristen auslösendes Dokument erreicht habe, sei die dadurch verursachte Versäumnis der Berufungsfrist vermeidbar gewesen. Im Übrigen seien entsprechend den Ausführungen des SG weder die gesetzlichen noch die satzungsmäßigen Voraussetzungen für die Gewährung einer Haushaltshilfe erfüllt (Urteil vom ).

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil beruft sich der Kläger auf Verfahrensfehler.

II

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Zwar liegt der vom Kläger geltend gemachte Verfahrensfehler vor (dazu 1.). Nach dem Rechtsgedanken des § 170 Abs 1 Satz 2 SGG kann aber eine Revision keinen Erfolg haben. In einem solchen Falle ist für die Zulassung der Revision kein Raum (dazu 2.).

1. Zu Recht beruft sich der Kläger darauf, das LSG habe seine Berufung nicht verwerfen dürfen, sondern hätte ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen (§ 67 SGG). Voraussetzung für eine Wiedereinsetzung ist, dass ein Beteiligter "ohne Verschulden verhindert" war, die Verfahrensfrist einzuhalten (§ 67 Abs 1 SGG), und die versäumte Rechtshandlung innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses nachgeholt wird (§ 67 Abs 2 Satz 3 iVm Satz 1 SGG). Diese Voraussetzung war entgegen der Auffassung des LSG erfüllt.

Der Kläger war ohne eigenes Verschulden verhindert, die Berufungsfrist einzuhalten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) liegt ein Verschulden grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen worden ist (vgl zB BSGE 1, 227, 232; BSGE 61, 213 = SozR 1500 § 67 Nr 18; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 60 mwN). Unter Berücksichtigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren darf ein Gericht allerdings aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (vgl zB BVerfGE 60, 1, 6; 75, 183, 190) und ist zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfGE 78, 123, 126 f; 79, 372, 376 f). Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn die Fristversäumnis auch auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht liegen (vgl BVerfGE 93, 99, 115; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 61 mwN). So liegt es hier.

Das SG hätte den Kläger nach § 4 Abs 2 Satz 2 ZMV auf seinen Anspruch hinweisen müssen, die Zugänglichmachung des Gerichtsbescheides verlangen zu können. Nach § 191a Abs 1 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz kann eine blinde oder sehbehinderte Person nach Maßgabe der ZMV verlangen, dass ihr die für sie bestimmten gerichtlichen Dokumente auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich ist. Der Anspruch umfasst ua Dokumente, die im gerichtlichen Verfahren an eine blinde oder sehbehinderte Person (berechtigte Person) zuzustellen sind (§ 2 Abs 1 Satz 1 ZMV iVm § 1 Abs 1 ZMV). Zwar bleiben die Vorschriften über die Zustellung von Dokumenten unberührt (§ 2 Abs 2 ZMV). Die Folgen von Fristversäumnissen können aber nach Maßgabe der Bestimmungen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand behoben werden (vgl Begründung zum Entwurf einer ZMV des Bundesministeriums der Justiz, BR-Drucks 915/06 zu § 7 [Zeitpunkt der Zugänglichmachung], S 12). Wie das LSG zutreffend angenommen hat, zählt der Kläger aufgrund seiner Sehbehinderung zu den "berechtigten Personen". Das SG hätte ihn im Gerichtsbescheid auf seinen Anspruch auf Zugänglichmachung hinweisen müssen, hat dies aber unterlassen. Unterbleibt ein solcher, nach der Rechtslage gebotener Hinweis, so tritt ein in der eigenen Sphäre des Berechtigten liegendes zusätzliches Verschulden bei Prüfung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinter das gerichtliche Verschulden zurück.

Der Kläger hat auch innerhalb eines Monats nach vollständiger Kenntnisnahme vom Inhalt des Gerichtsbescheids die versäumte Rechtshandlung nachgeholt, denn er hat am Berufung eingelegt.

2. Für die Zulassung der Revision ist indes kein Raum, wenn feststeht, dass das angefochtene LSG-Urteil unabhängig vom Vorliegen der geltend gemachten Zulassungsgründe aus anderen als den vom Berufungsgericht angestellten Erwägungen Bestand haben wird (Rechtsgedanke des § 170 Abs 1 Satz 2 SGG im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde: BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 28 im Anschluss an - Juris, beide mwN; ebenso BVerwGE 54, 99 = Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 153 sowie Nr 166, 178 mwN; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 9. Aufl 2008, § 160a RdNr 18 mwN). Eine sich formgerecht auf einen Verfahrensfehler stützende Nichtzulassungsbeschwerde ist in solchen Fällen unbegründet. Der erkennende Senat kann diese Rechtsprechung fortführen, ohne den Großen Senat anrufen zu müssen. Denn der 4. Senat des BSG hat seine entgegenstehende, abweichende Rechtsauffassung aus dem Beschluss vom (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33) auf Anfrage des erkennenden Senats () aufgegeben ().

a) § 170 Abs 1 Satz 2 SGG ist Ausdruck des allgemeinen Gedankens, dass ein Verfahren nicht wegen eines Fehlers fortgeführt werden soll, der mit Sicherheit für das endgültige Ergebnis des Prozesses bedeutungslos bleiben wird (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 28 S 52 mwN; - RdNr 3; Sendler, DVBl 1992, 240). Dieser für das Revisionsverfahren in § 170 Abs 1 Satz 2 SGG enthaltene Grundgedanke gilt sinngemäß auch für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision ( - Juris; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 28; - Juris; vgl auch BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 6; dem folgend B 9a VJ 7/05 B - Juris). Das BSG hat den Rechtsgedanken des § 170 Abs 1 Satz 2 SGG auch in Fällen angewendet, in denen das Berufungsgericht eine Klage als unzulässig angesehen hat, aber über die Begründetheit hätte entscheiden müssen, wenn sie schon nach dem Klagevorbringen zweifellos unbegründet gewesen ist, ohne dass es weiterer Feststellungen des Berufungsgerichts hierzu bedurft hätte (BSG SozR 1500 § 55 Nr 35 S 38). Ebenso hat es im Falle einer zu Unrecht erfolgten Verwerfung der Berufung als unzulässig entschieden (vgl BSG SozR 2200 § 1248 Nr 39; BSG SozR 1500 § 170 Nr 4 und BSGE 25, 251 = SozR Nr 15 zu § 146 SGG). Dieser Rechtsgedanke ist auch vorliegend zugrunde zu legen. In gleicher Weise wie für eine stattgebende Entscheidung im Revisionsverfahren selbst ist daher auch für eine Revisionszulassung kein Raum, wenn feststeht, dass das angefochtene Urteil unabhängig vom Vorliegen der geltend gemachten Zulassungsgründe aus - zumindest ergänzend - vom Berufungsgericht angestellten Erwägungen Bestand haben wird.

b) Rechte des Klägers werden durch das Festhalten des erkennenden Senats an seiner bisherigen und der weiteren, zitierten Rechtsprechung des BSG nicht verkürzt. Der anwaltlich vertretene Kläger musste bei der Entscheidung über seine Beschwerde damit rechnen, dass der erkennende Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 28) festhält.

c) Die Berufung des Klägers kann nach den ergänzend vom Berufungsgericht angestellten Erwägungen keinen Erfolg haben. Nach den für den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG zum Gesundheitszustand des Klägers, die er nicht angegriffen, sondern als "unstreitig" umschrieben hat, sind die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Haushaltshilfe sowohl nach § 38 Abs 1 SGB V als auch nach § 38 Abs 2 SGB V iVm der Satzung der Beklagten nicht erfüllt (vgl auch - Juris). Der Kläger lebt nach diesen Feststellungen nicht mit einem Kind in einem Haushalt zusammen; es liegt keine ärztliche Bescheinigung über die Unmöglichkeit einer Weiterführung des Haushalts vor und es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Weiterführung des Haushalts wegen akuter schwerer Krankheit oder akuter Verschlimmerung einer Krankheit nicht möglich ist. Vielmehr haben sich seine - seit langer Zeit bestehenden - Krankheiten nicht akut verschlechtert, sondern seine wirtschaftlichen Verhältnisse.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Fundstelle(n):
IAAAD-23303