Inhaltliche Reichweite eines FG-Urteils; Aufhebung eines Urteils der Vorinstanz im Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde
Gesetze: FGO § 73 Abs. 1, FGO § 104 Abs. 1, FGO §115 Abs. 2 Nr. 3
Instanzenzug:
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob Änderungsbescheide zum Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens geworden sind oder ob dieses Verfahren bei Erlass jener Bescheide bereits abgeschlossen war.
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine GmbH, hatte an sie gerichtete Steuerbescheide für die Jahre 1995 bis 1999 mit einer Klage angefochten. Im Februar 2007 fand in dem Klageverfahren (Aktenzeichen: 7 K 722/02) eine mündliche Verhandlung vor dem Finanzgericht (FG) statt. Im Verlauf der Verhandlung wurde hinsichtlich einiger angefochtener Bescheide der Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt und hinsichtlich anderer Bescheide die Klage zurückgenommen. Streitbefangen blieben danach die Körperschaftsteuerbescheide 1997 und 1998, der Gewerbesteuermessbescheid 1998 sowie Bescheide über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen gemäß § 47 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG), über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Körperschaftsteuer und über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes, jeweils zum oder auf den und . Die Beteiligten stellten in Bezug auf diese Bescheide Sachanträge. Am Ende des Sitzungstages verkündete das FG die Entscheidung: „Die Klage wird auf Kosten der Klägerin abgewiesen”.
Das daraufhin gefertigte schriftliche Urteil des FG weist als Verfahrensgegenstand „Feststellung gem. § 47 KStG 1997 und 1998” aus. Sein Tatbestand gibt nur die Anträge der Klägerin zu diesen Streitgegenständen wieder. Die Entscheidungsgründe betreffen ebenfalls ausschließlich die genannten Feststellungsbescheide. Eine gegen das Urteil gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg (Senatsbeschluss vom I B 50/07, BFH/NV 2008, 616).
Am beschloss das FG zum Aktenzeichen 6 K 722/02, das Verfahren wegen Körperschaftsteuer 1997 und 1998, Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs 1997 und 1998, gesonderter Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes 1997 und 1998 sowie Gewerbesteuermessbetrags 1998 abzutrennen. Das abgetrennte Verfahren erhielt das Aktenzeichen 6 K 78/07.
In der mündlichen Verhandlung zum Verfahren 6 K 78/07 überreichte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—), einer Zusage in der Verhandlung vom entsprechend, der Klägerin günstige Änderungsbescheide für 1996. Zugleich übergab es Änderungsbescheide hinsichtlich der übrigen genannten Streitgegenstände, die zum Teil auf § 174 der Abgabenordnung, zum Teil auf § 10d des Einkommensteuergesetzes i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG und zum Teil auf § 35b des Gewerbesteuergesetzes gestützt waren. Die Bescheide enthalten den Hinweis, dass sie gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens würden.
Die Klägerin legte gegen die Änderungsbescheide Einspruch ein. Zur Begründung machte sie geltend, dass das FA örtlich nicht zuständig sei und dass die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen einer Bescheidänderung nicht vorgelegen hätten. Das Einspruchsverfahren wurde bis zum Abschluss des Klageverfahrens 6 K 78/07 zum Ruhen gebracht.
Das FG führte daraufhin das Verfahren 6 K 78/07 fort und wies die Klage nach erneuter mündlicher Verhandlung ab. In den Gründen seines Urteils ist ausgeführt, dass die Klage weiterhin anhängig sei und nunmehr die vom FA erlassenen Änderungsbescheide betreffe. Das Urteil vom betreffe ausweislich seiner schriftlichen Ausfertigung nur die dort genannten Feststellungsbescheide; der am Sitzungstag verkündete Tenor sei im Lichte der schriftlichen Urteilsfassung auszulegen. Die streitgegenständlichen Änderungsbescheide seien rechtmäßig. Die Revision gegen sein Urteil ließ das FG nicht zu.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin geltend, dass die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zuzulassen sei.
Das FA ist der Nichtzulassungsbeschwerde entgegengetreten.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils des FG. Dieses hätte nicht ergehen dürfen, da es einen Rechtsstreit betrifft, der schon durch das vorangegangene Urteil 6 K 722/02 abgeschlossen worden war.
1. Gemäß § 318 der Zivilprozessordnung (ZPO) ist ein Gericht an ein von ihm erlassenes Urteil gebunden. Das gilt auch im finanzgerichtlichen Verfahren (§ 155 FGO). Die Bindungswirkung tritt ein, sobald das Urteil wirksam wird. Sie bewirkt, dass das FG das Urteil fortan nur nach Maßgabe der §§ 107 bis 109 FGO ergänzen oder berichtigen, nicht aber ganz oder teilweise zurücknehmen oder inhaltlich abändern darf; auch eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung kommt dann nicht in Betracht (Bundesfinanzhof —BFH—, Beschluss vom IX B 30/03, BFH/NV 2003, 1206; Lange in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 104 FGO Rz 7). Beachtet das FG diese Vorgabe nicht, so liegt darin ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.
2. Das Urteil eines FG wird, wenn eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, in der Regel verkündet (§ 104 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Verkündung erfolgt durch Verlesung der Urteilsformel (§ 104 Abs. 1 Satz 2 FGO) und führt dazu, dass das Urteil wirksam wird. Sie löst insbesondere die in § 318 ZPO i.V.m. § 155 FGO bestimmte Bindungswirkung aus (Brandt in Beermann/ Gosch, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 104 FGO Rz 16). Diese Wirkung ist daher im Hinblick auf das Urteil 6 K 722/02 mit dessen Verkündung durch das FG eingetreten. Das FG musste daher im weiteren Verlauf davon ausgehen, dass der Rechtsstreit 6 K 722/02 hinsichtlich aller Streitgegenstände abgeschlossen war, die von dem verkündeten Urteil erfasst waren.
3. Die inhaltliche Reichweite jenes Urteils ist durch Auslegung zu bestimmen. Diese muss sich in erster Linie an denjenigen Umständen orientieren, die bis zum Abschluss der Verkündung eingetreten und für die Öffentlichkeit erkennbar geworden sind. Dazu zählt vor allem der Inhalt der Urteilsformel, die Gegenstand der Verkündung war. Sofern sie den von ihr erfassten Streitgegenstand nicht eindeutig erkennen lässt, ist ergänzend darauf abzustellen, welche Punkte am Schluss der voraufgegangenen mündlichen Verhandlung streitig und Gegenstand der von den Beteiligten gestellten Anträge waren. Lässt sich auf diese Weise der Urteilsgegenstand eindeutig bestimmen, so ist für eine abweichende Deutung kein Raum. Nur wenn die Urteilsformel unter Berücksichtigung der genannten Begleitumstände unklar ist, kann zur Bestimmung der Reichweite des Urteils auf weitere Umstände —insbesondere auf den Inhalt der schriftlichen Urteilsfassung— zurückgegriffen werden (, BFH/NV 1993, 316; , BFH/NV 2005, 234; Ruban in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 105 Rz 10, m.w.N.).
4. Im Streitfall geht die vom FG verkündete Urteilsformel dahin, dass „die Klage abgewiesen” werde. Sie ist im Anschluss an eine mündliche Verhandlung verkündet worden, in der es um mehrere Steuerbescheide gegangen war. Am Schluss der mündlichen Verhandlung waren nicht nur Bescheide über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen gemäß § 47 KStG, sondern auch andere Bescheide Gegenstand widerstreitender Sachanträge geblieben. In der Zeit zwischen dem Schluss der mündlichen Verhandlung und der Verkündung des Urteils hatte das FG keine Maßnahmen getroffen, aus denen abgeleitet werden könnte, dass das Urteil nur einen Teil des verbliebenen Streitstoffs abdecken sollte. Angesichts dessen kann die Urteilsformel nur dahin gedeutet werden, dass die Klageabweisung sich auf den gesamten Rechtsstreit bezog, der am Schluss der mündlichen Verhandlung anhängig war. Dass das später verfasste und zugestellte schriftliche Urteil eine abweichende Willensrichtung des FG zum Ausdruck bringt, ändert daran nichts.
5. Vor diesem Hintergrund hat das Urteil in dem Rechtsstreit 6 K 722/02 dazu geführt, dass jener Rechtsstreit hinsichtlich aller dortigen Streitgegenstände abgeschlossen wurde. Diesen Bezugsrahmen des Urteils —und damit den Umfang des Verfahrensabschlusses— konnte das FG im weiteren Verlauf nicht wirksam beschränken. Eine solche Beschränkung konnte insbesondere nicht durch eine nachträgliche Abtrennung einzelner Teile des Streitgegenstands erreicht werden; eine solche wäre nur dann wirksam gewesen, wenn sie vor der Verkündung des Urteils erfolgt wäre (vgl. dazu , BFHE 170, 308, BStBl II 1993, 514). Vielmehr musste das FG sein weiteres Vorgehen daran ausrichten, dass es im Verfahren 6 K 722/02 die Klage hinsichtlich aller dort verbliebenen Streitpunkte abgewiesen hatte und eine vollständige oder teilweise Fortsetzung jenes Verfahrens daher unzulässig war.
6. Dieser verfahrensrechtlichen Situation wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Es geht nämlich davon aus, dass das Verfahren 6 K 722/02 im Anschluss an die Urteilsverkündung weiterhin anhängig war und dass deshalb erstens ein Teil dieses Verfahrens abgetrennt und fortgesetzt werden konnte (§ 73 Abs. 1 Satz 2 FGO) und zweitens die vom FA erlassenen Änderungsbescheide zum Gegenstand des fortgesetzten Verfahrens geworden sind. Richtigerweise hätte das FG weder das Verfahren fortsetzen noch über die Rechtmäßigkeit der Änderungsbescheide entscheiden dürfen, sondern den Rechtsstreit 6 K 722/02 als erstinstanzlich abgeschlossen ansehen müssen. Wäre das geschehen, so wäre es zu dem nunmehr angefochtenen Urteil nicht gekommen.
7. Den hiernach vorliegenden Verfahrensmangel hat die Klägerin ordnungsgemäß gerügt. Ihre Nichtzulassungsbeschwerde muss daher Erfolg haben. Das führt aber nicht zur Zulassung zur Revision, sondern zur ersatzlosen Aufhebung des angefochtenen Urteils.
Nach § 116 Abs. 6 FGO kann nämlich, wenn die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegen, der BFH auf eine Nichtzulassungsbeschwerde hin das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit an das FG zurückverweisen. In entsprechender Anwendung der Vorschrift kann darüber hinaus ein angefochtenes Urteil, das schon aus formalen Gründen nicht erlassen werden durfte, unmittelbar im Rahmen der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde aufgehoben werden (BFH-Beschlüsse vom V B 51/01, BFHE 196, 16, BStBl II 2001, 767; vom I B 83/04, BFH/NV 2005, 1314; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 116 FGO Rz 76). Im Streitfall ist es aus Gründen der Verfahrensökonomie sachgerecht, in dieser Weise zu verfahren.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2009 S. 949 Nr. 6
CAAAD-18478