Leitsatz
[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: StGB § 21; StGB § 63; StGB § 64; StGB § 66b Abs. 3; StGB § 67d Abs. 6; StGB § 323a; StGB § 224
Instanzenzug: LG Bielefeld, vom
Gründe
Das Landgericht Bielefeld hat gegen den Verurteilten die nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 3 StGB angeordnet. Mit seiner Revision gegen dieses Urteil rügt er die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
Der jetzt 63jährige Verurteilte war durch Urteil des Landgerichts Bielefeld vom wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt worden. Zugleich wurde gegen ihn - zunächst - die Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 1 StGB angeordnet. Nach den Feststellungen hatte er in erheblich alkoholisiertem Zustand (Tatzeit-BAK 4,02 Promille) einen Zechgenossen durch Schläge mit der Faust und einer Taschenlampe sowie durch Fußtritte misshandelt, so dass dieser u.a. ein Schädelhirntrauma und mehrere Gesichtsfrakturen erlitt. Das Landgericht ging davon aus, dass der Verurteilte die Rauschtat (gefährliche Körperverletzung) im Zustand erheblich verminderter, möglicherweise sogar völlig aufgehobener Schuldfähigkeit begangen hatte, während er bei Trinkbeginn (im Zeitpunkt des "Sichberauschens") voll schuldfähig war. Nach den Feststellungen des Landgerichts lag beim Verurteilten eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vor, die zwar seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit hinsichtlich der Alkoholaufnahme beeinträchtigte, die jedoch nicht so erheblich war, dass sie in den Anwendungsbereich des § 21 StGB fiel. Deshalb lehnte das Landgericht eine Unterbringung gemäß § 63 StGB ab. Von der Unterbringung des Verurteilten nach § 64 StGB sah es wegen mangelnder Erfolgsaussichten ab.
Auf die Revision des Angeklagten hob der Senat das Urteil durch Beschluss vom (= NStZ 2004, 384) im Maßregelausspruch mit den Feststellungen auf und verwarf die Revision im Übrigen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass dem Angeklagten kein Nachteil daraus erwachsen dürfe, dass er nicht wegen der Rauschtat (gefährliche Körperverletzung), sondern (weil seine Steuerungsfähigkeit möglicherweise aufgehoben war) in Anwendung des Zweifelssatzes wegen Vollrausches verurteilt worden sei. In erneuter Anwendung des Zweifelssatzes (diesmal zum Rechtsfolgenausspruch) habe das Landgericht die Voraussetzungen des § 63 StGB prüfen und nach § 72 Abs. 1 StGB der Maßregel den Vorzug geben müssen, die den Angeklagten am wenigsten beschwere.
Durch rechtskräftig seit , wurde gegen den Verurteilten - neben der bereits rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe - die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet. Nach den Feststellungen in diesem Urteil litt der Verurteilte an einer schweren dissozialen Persönlichkeitsstörung. Diese habe zwar für sich betrachtet seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht erheblich beeinträchtigt. Jedoch habe zwischen der dissozialen Persönlichkeitsstörung und der Alkoholsucht des Verurteilten eine Wechselwirkung bestanden; die Persönlichkeitsstörung sei für das Fortbestehen der Alkoholsucht kausal. Zur Tatzeit sei der Verurteilte entweder gar nicht oder nur erheblich vermindert in der Lage gewesen, sein Verhalten im Hinblick auf die von ihm begangene gefährliche Körperverletzung zu steuern. Von ihm seien infolge seines weiter andauernden Zustandes auch in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten; von ihm gehe deshalb eine Gefahr für die Allgemeinheit aus.
Ab dem wurde die Maßregel vollzogen. Durch Beschluss des Landgerichts Paderborn vom , rechtskräftig seit dem , wurde die Unterbringung gemäß § 67 d Abs. 6 Satz 1 StGB für erledigt erklärt, weil bei dem Verurteilten eine Persönlichkeitsstörung nicht vorliege, so dass - obwohl er weiterhin gefährlich sei - die Voraussetzung für den weiteren Vollzug der Maßregel entfalle. Die noch offene Restfreiheitsstrafe von 116 Tagen aus dem Urteil des Landgerichts Bielefeld vom wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt. Der Verurteilte verbüßte die Restfreiheitsstrafe in der Zeit vom bis zum . Seit dem wird der nach § 275 a Abs. 5 StPO erlassene Unterbringungsbefehl des Landgerichts Bielefeld gegen ihn vollzogen.
Die Staatsanwaltschaft hat am die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten gemäß § 66 b Abs. 3 StGB beantragt. Dem ist das Landgericht Bielefeld gefolgt.
Nach den Feststellungen des nunmehr angefochtenen Urteils ist der Verurteilte seit nahezu 45 Jahren alkoholabhängig. Außerdem bestehe bei ihm eine Persönlichkeitsfehlentwicklung mit dissozialen und narzisstischen Strukturen, die lediglich als eine Persönlichkeitsakzentuierung zu werten sei und daher nicht die Kriterien einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB erfülle. Das Landgericht nimmt an, dass der Verurteilte wegen seiner therapieresistenten Alkoholabhängigkeit und seiner Persönlichkeitsfehlentwicklung mit dissozialen und narzisstischen Anteilen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Freiheit sehr rasch wieder alkoholrückfällig und unter alkoholischer Beeinflussung erneut Straftaten begehen werde, wobei Delikte zu erwarten seien, die zumindest schwere körperliche Schäden der davon betroffenen Personen zur Folge haben werden (UA 29).
Das Landgericht stützt seine Prognose insbesondere auf zwei - der insgesamt 19 im Urteil näher ausgeführten - Vorverurteilungen: Zum einen war gegen den Verurteilten am wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verhängt worden. Unter Einbeziehung von Strafen aus einem vorangegangenen Urteil war eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren festgesetzt, ferner war die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden. Die zu Grunde liegende Tat hatte der Verurteilte während eines mehrtägigen Zechgelages am begangen. Er wurde am - ohne Therapieerfolg - aus Haft und Unterbringung entlassen. Zum anderen war der Verurteilte am wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt worden. Zugleich war abermals die Unterbringung nach § 64 StGB angeordnet worden. Der Verurteilte hatte am einen Zechgenossen durch Schläge gegen den Kopf mit einem Hammer oder Brecheisen getötet. Der Vollzug von Strafe und Maßregel endete am , wobei die Unterbringung im Jahre 1999 nicht weiter vollzogen wurde, weil nicht zu erwarten war, dass das Maßregelziel erreicht werden konnte.
II.
Der Senat hat im Hinblick auf die Entscheidung des 1. Strafsenats des (= BGHSt 52, 31), nach der bei einem Verurteilten, der - wie hier - im Anschluss an die Erledigungserklärung nach § 67 d Abs. 6 StGB noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden war, die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht nach § 66 b Abs. 3 StGB, sondern regelmäßig nur unter den Voraussetzungen von § 66 b Abs. 1 StGB oder § 66 b Abs. 2 StGB angeordnet werden kann, mit Beschluss vom (= NJW 2008, 2661) dem Großen Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Steht es der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 66 b Abs. 3 StGB entgegen, dass der Betroffene nach Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 67 d Abs. 6 StGB) noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hat, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden ist?
Der Große Senat für Strafsachen hat in seinem Beschluss vom - GSSt 1/08 - die Rechtsauffassung des 1. Strafsenats bestätigt. Für die Annahme neuer Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 bzw. Abs. 2 StGB genüge allerdings, dass vor dem Hintergrund der nicht (mehr) vorhandenen Voraussetzungen der Unterbringung nach § 63 StGB die qualifizierte Gefährlichkeit des Verurteilten auf abweichender Grundlage belegt werde.
III.
Nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen steht der nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage des § 66 b Abs. 3 StGB entgegen, dass der Verurteilte nach der Erklärung der Erledigung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus noch Freiheitsstrafe zu verbüßen hatte, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden war. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben. Da nach den Feststellungen jedoch eine Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung unter den Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 StGB in Betracht kommt, ist die Sache unter Aufhebung der Feststellungen an das Landgericht zurückzuverweisen.
1.
Der Senat erachtet den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 3 StGB (Bd. II Bl. 303 f. d.A.) als Voraussetzung zur Durchführung des Verfahrens für noch genügend, weil der Verfahrensgegenstand hinreichend genau bestimmt und dem Verurteilten nach der Antragstellung ausreichend rechtliches Gehör gewährt worden ist (Bd. II Bl. 308, 323, 325, 331, 351 ff. d.A.). Das Fehlen einer Begründung des Antrags dahin, dass die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 StGB vorliegen, macht den Antrag ausnahmsweise nicht unzulässig, da erst durch die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen dieser Vorschrift Bedeutung zukommt. Insoweit ist hinzunehmen, dass dem Verurteilten die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 StGB, insbesondere die konkreten neuen Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB, erst in der neuen Hauptverhandlung mitgeteilt werden (vgl. BGHSt 50, 284, 292 ; 50, 373, 376).
2.
Eines näheren Eingehens auf die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen bedarf es nicht, da die Sachrüge durchgreift. Soweit die Revision geltend macht, § 66 b StGB verstoße gegen europäisches Recht, teilt der Senat diese Auffassung nicht (vgl. BGHSt 50, 373, 377 ff.; s. auch BVerfG [Kammer] JR 2006, 474, 475 ff.; ; BGHSt 50, 284, 295 ; BGH StV 2008, 304, 306 [zur Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift]).
3.
In dem angefochtenen Urteil sind die Voraussetzungen für eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 1 StGB nicht im Einzelnen dargetan. Damit musste sich das Landgericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung auch nicht befassen.
a)
Nach den bisherigen Feststellungen liegen allerdings die formellen Voraussetzungen des § 66 b Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 66 Abs. 1 StGB vor (vgl. hierzu BGH NStZ 2006, 178, 179) . Der Verurteilte wurde mit Urteil des Landgerichts Bielefeld vom wegen einer vorsätzlichen Straftat im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB (§ 323 a i.V.m. § 224 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Vor dieser Tat wurde bereits zweimal jeweils eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr gegen ihn verhängt (§ 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Das Landgericht Bielefeld erkannte mit Urteil vom wegen sexueller Nötigung u.a. auf eine Einzelstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten und mit Urteil vom wegen vorsätzlichen Vollrausches auf eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten. Wegen dieser Taten befand sich der Verurteilte mehr als zwei Jahre sowohl in Strafhaft als auch im Maßregelvollzug (§ 66 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Rückfallverjährung (§ 66 Abs. 4 Sätze 3 und 4 StGB) ist - soweit ersichtlich - nicht eingetreten.
b)
Das Landgericht Bielefeld hat in seinem Urteil vom , in dem es gegen den Verurteilten - zunächst - die Sicherungsverwahrung angeordnet hatte, festgestellt, dass der Verurteilte einen Hang zu erheblichen Straftaten hat (UA 22). Die materielle Voraussetzung des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB wird der nunmehr entscheidende Tatrichter neu zu prüfen haben (. § 66 b Abs. 1 Satz 1 a.EStGB). Festzustellen wird er auch haben, ob vor Ende des Vollzugs der (Rest-)Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar waren, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen (§ 66 b Abs. 1 Satz 1 1. HS StGB). Hierbei wird er mit sachverständiger Hilfe Folgendes zu berücksichtigen haben:
aa)
Wegen der schwer wiegenden Folgen, die mit der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach einer Erledigungserklärung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für den Verurteilten verbunden sind, muss über das Beschlussverfahren der Strafvollstreckungskammer nach § 67 d Abs. 6 StGB hinaus in der Hauptverhandlung nach § 66 b StGB geprüft werden, ob die (mögliche) qualifizierte Gefährlichkeit des Verurteilten (weiterhin) auf der (dauerhaften) psychischen Störung des Verurteilten beruht, die in der Anlassverurteilung zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus geführt hat (vgl. hierzu BGHSt 50, 373, 385 [Sachnähe des nach § 74 f GVG zuständigen Gerichts]). Ist dies der Fall, so kommt - für § 66 b Abs. 1 und 2 StGB schon mangels neuer Erkenntnisse - eine Unterbringung nach § 66 b StGB nicht in Betracht (vgl. Fischer, StGB 56. Aufl. § 66 b Rdn. 14). Für eine etwaige "Rückverweisung" des Verurteilten in den Maßregelvollzug nach § 63 StGB gibt es keine Rechtsgrundlage (vgl. BGH StV 2006, 413 ; NStZ-RR 2007, 301, 303; Rdn. 30, 31; Fischer aaO § 66 b Rdn. 46, § 67 a Rdn. 6).
bb)
Im Hinblick auf die erforderlichen neuen Tatsachen ("Nova"), die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen müssen (§ 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB), wird die nunmehr entscheidende Strafkammer unter Beachtung der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen zu prüfen haben, ob die möglicherweise fortbestehende (qualifizierte) Gefährlichkeit des Verurteilten aus anderen Tatsachen herzuleiten ist als denjenigen, die im Anlassurteil zur Begründung des länger andauernden Zustands herangezogen wurden, die zur positiven Feststellung mindestens erheblich verminderter Schuldfähigkeit bei der Tatbegehung und zur Anordnung nach § 63 StGB geführt haben (BGH - GS - Rdn. 34). Die neuen Tatsachen dürfen sich nicht darin erschöpfen, dass die der Persönlichkeitsstörung bzw. -akzentuierung des Verurteilten zu Grunde liegenden Tatsachen lediglich neu beschrieben oder umbewertet werden. Sie können sich etwa aus dem - bisher nicht näher erörterten - Vollzugsverhalten des Verurteilten ergeben. Die strafrechtlichen Vorbelastungen des Verurteilten können zur Stützung neuer Tatsachen Berücksichtigung finden (vgl. BGH - GS - Rdn. 35). Soweit zur Gefährlichkeitsbeurteilung Tests herangezogen werden (vgl. UA 26, 28), wird zu beachten sein, dass eine bloß abstrakte, auf statistische Wahrscheinlichkeiten gestützte Prognoseentscheidung nicht ausreichend ist (vgl. BVerfG NStZ 2007, 87, 88; ; BGHSt 50, 121, 130 f. ; BGH NStZ 2007, 464, 465; s. auch ).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
IAAAD-15362
1Nachschlagewerk: nein