BFH Urteil v. - VI R 47/07

Fahrten zu ständig wechselnden Tätigkeitsstätten in tatsächlicher Höhe als Werbungskosten absetzbar

Gesetze: EStG § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4, EStG § 9 Abs. 5, EStG § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war in den Streitjahren 2003 und 2004 als Maler und Lackierer für verschiedene Firmen an wechselnden Tätigkeitsstätten tätig.

In seinen Einkommensteuer-Erklärungen machte der Kläger Fahrtkosten mit dem PKW zu den Einsatzorten in Höhe von 3 876 € (2003) und 1 416 € (2004) als Werbungskosten geltend. Seinen Berechnungen legte er jeweils einen Pauschsatz von 0,30 € je gefahrenen Kilometer zugrunde.

Demgegenüber berücksichtigte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) bei den Fahrten des Klägers zu solchen Tätigkeitsstätten, die weniger als 30 km von dem jeweiligen Wohnort des Klägers entfernt lagen, nur eine Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes in den in den Streitjahren geltenden Fassungen (EStG). Der hiergegen gerichtete Einspruch des Klägers blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2007, 1940 veröffentlichten Gründen statt.

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Die Fahrtkosten des Klägers zu den wechselnden Tätigkeitsstätten in einer Entfernung von der Wohnung von weniger als 30 km (sog. Einzugsbereich) könnten als Werbungskosten nur in Höhe der Entfernungspauschale berücksichtigt werden. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe u.a. in seinem Urteil vom VI R 2/92 (BFHE 175, 553, BStBl II 1995, 137) entschieden, dass die tatsächlichen Kosten nur für solche Fahrten angesetzt werden könnten, die über den Einzugsbereich hinausgehen; die innerhalb dieses Bereichs liegenden Fahrten unterlägen der Abzugsbeschränkung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG. Diesen Rechtsgrundsatz habe der BFH auch in seiner neueren Rechtsprechung nicht aufgegeben.

Das FA beantragt (sinngemäß), die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

1. Zutreffend führt das FA an, dass der BFH u.a. in dem vorgenannten Urteil in BFHE 175, 553, BStBl II 1995, 137 (2.a der Gründe) entschieden hat, es seien (nur) die Pauschsätze des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG und nicht die tatsächlichen Kosten anzusetzen, wenn ein Arbeitnehmer an wechselnden Einsatzorten in einer Entfernung von seiner Wohnung tätig ist, wie sie auch von vielen anderen Arbeitnehmern mit einer festen Arbeitsstätte täglich zurückgelegt wird (ebenso , BFHE 144, 46, BStBl II 1985, 595; vom VI R 6/86, BFHE 152, 232, BStBl II 1988, 443). Die Entfernungsgrenze hat die Finanzverwaltung für Veranlagungszeiträume ab 1996 auf 30 km festgelegt (vgl. Abschn. 38 Abs. 5 der Lohnsteuer-RichtlinienLStR— 1996).

2. Die vom FA in Bezug genommene (ältere) Rechtsprechung des Senats zur Ausdehnung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG auf Fahrtkosten bei wechselnden Tätigkeitsstätten im sog. Einzugsbereich ist jedoch mit der Gesetzessystematik und der neueren Rechtsprechung des BFH zur Berücksichtigung von Fahrtkosten bei Auswärtstätigkeiten nicht vereinbar (ebenso Schmidt/ Drenseck, EStG, 27. Aufl., § 9 Rz 120; Bergkemper, Finanz-Rundschau —FR— 2005, 1113, 1114; Albert, FR 2006, 302, 305). Denn die neuere Rechtsprechung des BFH unterscheidet —auch begrifflich— strikt zwischen Fahrten zwischen Wohnung und (regelmäßiger) Arbeitsstätte (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) einerseits und Fahrten zwischen Wohnung und ständig wechselnden Tätigkeitsstätten andererseits (zum Begriff vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 3 EStG i.V.m. § 9 Abs. 5 EStG; zu den gleichen Maßstäben bei Fahrtkosten und Mehrverpflegungsaufwendungen aus Gründen der Folgerichtigkeit und zum Zweck der Vereinfachung: s. u.a. , BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785, unter II.3.b der Gründe; Fissenewert, Der Betrieb, Beilage 6/2006, 32 ff., 35).

a) Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG sind Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und (regelmäßiger) Arbeitsstätte Werbungskosten. Die Vorschrift hat insofern abzugsbeschränkende Wirkung, weil zur Abgeltung dieser Aufwendungen für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die Arbeitsstätte aufsucht, (nur) eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte anzusetzen ist, und zwar für 2003 gestaffelt in Höhe von 0,36 €/0,40 € und für 2004 in Höhe von 0,30 €.

Regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG ist nach der Rechtsprechung des Senats jede ortsfeste dauerhafte betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers, der der Arbeitnehmer zugeordnet ist und die er nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit, das heißt fortdauernd und immer wieder aufsucht; dies ist regelmäßig der Betrieb des Arbeitgebers oder ein Zweigbetrieb (z.B. Urteile vom VI R 21/07, BFH/NV 2008, 1923; vom VI R 85/04, BFHE 221, 11, BStBl II 2008, 887 zu § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG; vom VI R 93/04, BFH/NV 2006, 53; vom VI R 15/04, BFHE 209, 515, BStBl II 2005, 788; VI R 16/04, BFHE 209, 518, BStBl II 2005, 789; VI R 25/04, BFHE 209, 523, BStBl II 2005, 791).

Liegt eine auf Dauer und Nachhaltigkeit angelegte (regelmäßige) Arbeitsstätte vor, so kann sich der Arbeitnehmer in unterschiedlicher Weise auf die immer gleichen Wege einstellen und so auf eine Minderung der Wegekosten hinwirken. Demgemäß kann die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG als eine sachgerechte und folgerichtige Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip angesehen werden (hierzu z.B. BFH-Urteil in BFHE 209, 523, BStBl II 2005, 791).

b) Die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG kann indessen schon deshalb nicht für Fahrten des Arbeitnehmers zu ständig wechselnden Tätigkeitsstätten angewendet werden, weil derartige Einsatzstellen nicht auf Dauer und Nachhaltigkeit angelegt sind (vgl. auch BFH-Urteile in BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785; vom VI R 34/04, BFHE 209, 527, BStBl II 2005, 793). Die Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG erwiese sich bei Fahrten zu wechselnden Tätigkeitsstätten als systemwidrig, weil der Arbeitnehmer bei wechselnden Einsätzen im Interesse des Arbeitgebers beweglich bleiben muss, er deshalb typischerweise oft auf ein Kraftfahrzeug angewiesen ist und die Entfernung der sich laufend ändernden Tätigkeitsstätten vom Wohnort oft stark schwankt (vgl. auch , BFHE 209, 502, BStBl II 2005, 782, m.w.N.). Diese Sachlage ist typischerweise auch bei ständig wechselnden Tätigkeitsstätten eines Arbeitnehmers in einem Einzugsbereich von 30 km gegeben.

3. Hieraus ergibt sich, dass Fahrten zwischen Wohnung und ständig wechselnden Tätigkeitsstätten unabhängig von der Entfernung (ab dem ersten Kilometer) mit den tatsächlichen Kosten als Werbungskosten zu berücksichtigen sind.

Der Senat geht davon aus, dass sich die Finanzverwaltung dieser Rechtsauffassung zwischenzeitlich angeschlossen hat. Denn die in R 38 Abs. 3 LStR (1999 bis 2007) angeführte Regelung zur 30-km-Grenze ist in den LStR 2008 nicht mehr enthalten (vgl. R 9.5 LStR 2008 und H 9.4, 9.5 des Lohnsteuer-Handbuchs 2008).

4. Das FA hat einen Antrag gestellt, das Verfahren nach § 74 FGO auszusetzen, bis der Senat über die Revision gegen das Urteil des Sächsischen (EFG 2008, 940) —Az. VI R 39/07— entschieden hat. Das vorliegende Verfahren ist indessen weder auszusetzen noch ruhen zu lassen. Die Anhängigkeit eines Parallelfalls begründet keine Vorgreiflichkeit i.S. des § 74 FGO und rechtfertigt damit nicht die Aussetzung des Verfahrens (vgl. z.B. , BFH/NV 2003, 650; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 74 Rz 17, m.w.N.). Für ein Ruhen des Verfahrens (§ 155 FGO i.V.m. § 251 der Zivilprozessordnung) liegen keine übereinstimmenden Anträge der Beteiligten vor.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
BFH/NV 2009 S. 751 Nr. 5
EStB 2009 S. 131 Nr. 4
NAAAD-13937