Abzug von Schulgeld für den Besuch eines schottischen Internats als Sonderausgabe; Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts
Leitsatz
1. Schulgeldzahlungen für den Besuch einer Privatschule in Schottland können als Sonderausgabe abziehbar sein. Bei dem Besuch einer Schule im EU-Ausland ist fiktiv zu prüfen, ob sie nach deutschem Recht anerkannt worden wäre. Der Abzug von Schulgeldzahlungen setzt voraus, dass durch die Höhe der gezahlten Beträge keine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern gefördert wird. Ein hohes Schulgeld kann z.B. durch Stipendien oder durch andere Maßnahmen, die den ungehinderten Zugang ermöglichen, kompensiert werden.
2. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht hat insbesondere zur Folge, dass gemeinschaftsrechtswidrige Vorschriften des nationalen Steuerrechts nicht anzuwenden sind, ohne dass es einer Vorlage an das BVerfG oder den EuGH bedarf. Zur Nichtanwendung des dem Gemeinschaftsrecht widersprechenden nationalen Rechts sind alle mit der Rechtssache befassten Instanzen verpflichtet.
Gesetze: EStG § 10 Abs. 1 Nr. 9, EG Art. 18, EG Art. 49, EG Art. 234, GG Art. 7 Abs. 4
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Zwischen den Beteiligten ist noch streitig, in welcher Höhe die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) Schulgeldzahlungen als Sonderausgaben abziehen können.
Die Kläger haben drei gemeinsame Kinder. Die Kläger machten außergewöhnliche Belastungen in Höhe von 43 426,78 DM für 1998 und 64 549,79 DM für 1999 geltend. Hierbei handelte es sich um Aufwendungen für den Privatschulbesuch ihrer drei Kinder sowie um Aufwendungen für eine stationäre Kinderkur wegen Übergewichts und gestörten Essverhaltens. Zur Verhinderung somatisierter Konflikte war nach Auffassung der Kläger eine die Hochbegabung der Kinder beachtende schulische Förderung notwendig. Von den geltend gemachten Kosten entfielen 1998 33 867,79 DM und 1999 27 415,62 DM auf den Besuch der C-Schule in Schottland durch die beiden Töchter. Das hierin enthaltene Schulgeld, das nicht auf Beherbergung, Betreuung oder Verpflegung entfiel, wurde von den Klägern nicht nachgewiesen, beläuft sich aber —nach der Auffassung des Finanzgerichts (FG)— pro Jahr auf mindestens 10 000 DM.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) zog die als außergewöhnliche Belastungen geltend gemachten Kosten nicht ab. Die Einsprüche hatten keinen Erfolg. Das FG gab der Klage teilweise statt, nachdem der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens mit Urteil vom Rs. C-76/05 (Slg. 2007, I-6849, Deutsches Steuerrecht 2007, 1670) entschieden hatte, das es dem Gemeinschaftsrecht widerspricht, wenn Schuldgeldzahlungen an bestimmte deutsche Schulen, nicht aber Schulgeldzahlungen an Schulen in einem anderen Mitgliedstaat als Sonderausgaben abgezogen werden können. Das FA habe zwar zu Recht die streitigen Aufwendungen nicht als außergewöhnliche Belastungen berücksichtigt; die Einkommensteuerbescheide seien allerdings rechtswidrig, soweit das FA Ausbildungsfreibeträge nicht berücksichtigt habe und soweit es die Schulgeldzahlungen an die C-Schule nicht teilweise als Sonderausgaben einkommensteuermindernd berücksichtigt habe. Die Entscheidung des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2008, 677; veröffentlicht.
Mit der Revision macht das FA geltend:
1. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe mit Urteil vom XI R 66/03 (BFHE 209, 48, BStBl II 2005, 473) entschieden, dass dem Abzug der Schulgeldzahlungen das sog. Sonderungsverbot entgegenstehe. Jährliche Aufwendungen für zwei Kinder von rund 30 000 DM könnten nur von Eltern mit überdurchschnittlich hohem Einkommen getragen werden. Der Vergleich mit der Privatschule SX gehe fehl, da hier an 30 % der Schüler Stipendien vergeben würden.
2. Das FG habe das Schulgeld nicht auf 10 000 DM schätzen dürfen. Die Kläger hätten ihre Mitwirkungspflicht verletzt.
II. Die Revision ist begründet und führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Die vom FG getroffenen Feststellungen reichen nicht aus, um abschließend beurteilen zu können, ob und in welcher Höhe die Schulgeldzahlungen als Sonderausgaben abgezogen werden können.
1. Abziehbar sind gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 9 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 30 % des Entgelts, das der Steuerpflichtige für ein Kind, für das er Anspruch auf einen Freibetrag nach § 32 Abs. 6 EStG oder auf Kindergeld hat, für den Besuch einer gemäß Art. 7 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) staatlich genehmigten oder nach Landesrecht erlaubten Ersatzschule sowie einer nach Landesrecht anerkannten allgemein bildenden Ergänzungsschule entrichtet.
Ausgenommen vom Schulgeldabzug ist das Entgelt für Beherbergung, Betreuung und Verpflegung (§ 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG; , BFHE 209, 40, BStBl II 2005, 518, m.w.N.). Der Sonderausgabenabzug nach § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG bezweckt die Förderung von Privatschulen unter gleichzeitiger Beschränkung des Abzugs auf den Besuch solcher Schulen, die in gewisser Weise in das öffentliche Schulwesen einbezogen sind, bestimmte staatliche Anforderungen erfüllen müssen und deshalb typischerweise besonders förderungsbedürftig sowie förderungswürdig sind (, BFHE 183, 432, BStBl II 1997, 615; X R 74/95, BFHE 183, 436, BStBl II 1997, 617, und X R 144/95, BFHE 183, 445, BStBl II 1997, 621).
Mit Urteil in Slg. 2007, I-6849, DStR 2007, 1670 hat der EuGH entschieden, dass dann, wenn Steuerpflichtige eines Mitgliedstaats ihre Kinder zur Schulausbildung in eine Schule in einem anderen Mitgliedstaat schickten, deren Leistungen nicht unter Art. 49 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) fielen (also keine Privatschulen seien, die sich im Wesentlichen aus privaten Mitteln finanzierten), Art. 18 EG einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehe, die vorsehe, dass Schulgeldzahlungen an bestimmte Schulen im Inland als Sonderausgaben einkommensteuermindernd berücksichtigt werden könnten, diese Möglichkeit aber in Bezug auf Schulgeldzahlungen an Schulen in anderen Mitgliedstaaten generell ausschließe. Gleiches gelte für Privatschulen, da dann ein Verstoß gegen Art. 49 EG vorliege.
2. Im Streitfall kann der Senat auf der Grundlage der vom FG getroffenen Feststellungen nicht beurteilen, ob die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG erfüllt sind.
a) § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG ist wegen des Anwendungsvorrangs des EG-Rechts normerhaltend im Sinne der EuGH-Entscheidung in Slg. 2007, I-6849, DStR 2007, 1670 europarechtskonform auszulegen (vgl. auch , BFH/NV 2007, 220 zum Abzug von Steuerberatungskosten eines niederländischen Steuerpflichtigen). Dies führt dazu, dass das „europarechtswidrige Tatbestandsmerkmal” nicht zu beachten ist, dass also dann, wenn die Schule im EU-Ausland zu einem im Inland ohne Abstriche anerkannten Schulabschluss führt, der Abzug des für den Besuch dieser Schule gezahlten Schulgeldes —also ohne Beträge für Beherbergung, Betreuung und Verpflegung— dem Grunde nach in Betracht zu ziehen ist.
Im Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht besteht ein Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Der EuGH hat bereits frühzeitig entschieden, dass Kollisionsfälle zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht nur durch einen umfassenden Vorrang des Gemeinschaftsrechts gelöst werden können. Der Vorrang bezieht sich auf alle Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts, einschließlich des sekundären Gemeinschaftsrechts. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, selbst aus der Verletzung europäischen Rechts die möglichen Konsequenzen für die Vergangenheit zu ziehen ( —Marks & Spencer—, Betriebs-Berater —BB— 2008, 1158). „Europäische Rechtsakte” sind nach der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts —BVerfG— (Urteil vom 2 BvR 2134/92, 2159/92, BVerfGE 89, 155) nur dann nicht verbindlich, wenn europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben und fortbilden, die von dem Vertrag nicht mehr gedeckt wäre (sog. „ausbrechende Rechtsakte”).
Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht hat insbesondere zur Folge, dass gemeinschaftsrechtswidrige Vorschriften des nationalen Steuerrechts nicht anzuwenden sind, ohne dass es einer Vorlage an das BVerfG oder den EuGH bedarf (Anwendungsvorrang). Dieser Anwendungsvorrang ist durch die Rechtsprechung des EuGH und auch des BVerfG abgedeckt (vgl. EuGH-Urteil in BB 2008, 1158; , BVerfGE 102, 147; a.A. offenbar Gosch, DStR 2007, 1895, 1897); nach der letztgenannten Entscheidung des BVerfG sind Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH nach Ergehen der Solange II-Entscheidung (, BVerfGE 73, 339) unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei. Im Streitfall kommt eine Vorlage nach Art. 100 GG daher nicht in Betracht; es ist nicht zu erkennen, dass die Entscheidung des EuGH in Grundrechte der Kläger eingreift; ganz im Gegenteil kommt ihnen diese zugute, indem möglicherweise das für den Besuch einer englischen Schule geleistete Schulgeld abziehbar ist.
Zur Nichtanwendung des dem Gemeinschaftsrecht widersprechenden nationalen Rechts sind alle mit der Rechtssache befassten Instanzen verpflichtet (zu Vorstehendem vgl. Jarass in Jarass/ Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 9. Aufl., Art. 23 Rz 33 f.; Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl., § 7 Rz 9; Wegener in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl., Art. 220 EGV, Rz 27 f.; Terhechte, Der Vorrang des Unionsrechts, Juristische Schulung 2008, 403).
b) Weiter setzt der Abzug von Schulgeldzahlungen voraus, dass durch die Höhe der gezahlten Beträge keine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern gefördert wird. Das BVerfG hat Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG als verletzt angesehen, wenn die Schule nicht mehr allgemein zugänglich ist. Im Grundsatz müssen alle Schüler ohne Rücksicht auf ihre wirtschaftliche Lage die Privatschule besuchen können (, BVerfGE 75, 40, 63 f.; zum Ganzen auch BFH-Urteil in BFHE 209, 48, BStBl II 2005, 473). Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist bereits ein Schulgeld von mehreren Hundert Mark schädlich (vgl. BVerfG-Urteil in BVerfGE 75, 40, 64). Zwar ist das Sonderungsverbot kein Tatbestandsmerkmal des § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG; bei dem Besuch einer Schule im EU-Ausland ist aber fiktiv zu prüfen, ob sie nach deutschem Recht anerkannt worden wäre; in diesem Zusammenhang ist das Sonderungsverbot von Bedeutung.
Der Senat kann nicht beurteilen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Nach Auffassung des Senats kann zudem ein hohes Schulgeld z.B. durch Stipendien oder durch andere Maßnahmen, die den ungehinderten Zugang (auch deutscher Schüler) ermöglichen, kompensiert werden. Andererseits kann es entgegen der Auffassung des FG nicht allein darauf ankommen, dass in der Praxis das Sonderungsgebot möglicherweise nicht beachtet wird. Meilicke hat in Internationales Steuerrecht 2006, 447 (vgl. auch Müller, EFG 2008, 607) darauf hingewiesen, dass in der deutschen Besteuerungspraxis die Absetzbarkeit von Schulgeld nicht am Sonderungsverbot scheitert; das indes ist kein hinreichender Grund, an den Voraussetzungen des grundgesetzlich verankerten Sonderungsverbots nicht festzuhalten. Möglicherweise kommt den Klägern insoweit § 52 Abs. 24b EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2009 (Regierungsentwurf) zugute; danach gilt § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG in der bisherigen Fassung für noch nicht bestandskräftige Steuerfestsetzungen der Veranlagungszeiträume vor 2008 mit der Maßgabe, dass es sich nicht um eine nach Art. 7 Abs. 4 GG staatlich genehmigte oder nach Landesrecht erlaubte Ersatzschule oder eine nach Landesrecht anerkannte allgemein bildende Ergänzungsschule handeln muss.
3. Soweit das FA geltend macht, dass das FG die Höhe des Schulgeldes nicht habe schätzen dürfen, weist der Senat auf § 96 Abs. 1 FGO hin (vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 96 Rz 18 f.).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2009 S. 559 Nr. 4
EStB 2009 S. 131 Nr. 4
ZAAAD-10725