BFH Urteil v. - III R 16/06

Abzweigung des Kindergeldes zugunsten des Sozialleistungsträgers von Amts wegen

Leitsatz

Eine Abzweigung des Kindergelds nach § 74 Abs. 1 EStG setzt weder einen ausdrücklichen Antrag auf Abzweigung noch ein eindeutig geäußertes Abzweigungsbegehren voraus, da die Entscheidung über eine Abzweigung von Amts wegen ergeht. Auch eine Erstattung nach § 104 SGB X muss nicht beantragt werden, der Erstattungsanspruch entsteht kraft Gesetzes. Wird ausdrücklich ein Antrag auf Erstattung gestellt, schließt dies nicht aus, dem Begehren auf Auszahlung des Kindergelds durch eine Abzweigung nachzukommen. Ist die Anspruchsgrundlage für das Begehren auf Auszahlung nicht eindeutig oder unzutreffend, hat die Familienkasse das Begehren auszulegen. Ob die Familienkasse das Kindergeld abzweigt, ist eine Ermes-sensentscheidung. Ihr Ermessen ist jedoch auf Null reduziert, wenn der Kindergeldberechtigte erklärt, wegen seiner Arbeitslosigkeit keinen Unterhalt leisten zu können, und auch nicht geltend macht, dass ihm Aufwendungen für das Kind entstanden seien. Haben sowohl das Kind als auch der Sozialleistungsträger einen Abzweigungsantrag gestellt, ist allein eine Abzweigung an den Sozialleistungsträger sachgerecht, wenn das Kindergeld im Falle der Auszahlung an das Kind als dessen Einkommen auf die Leistungen des Sozialleistungsträgers anzurechnen wäre.

Gesetze: EStG § 74, AO § 5, SGB X § 104, BGB § 1603

Instanzenzug: FG des Landes Brandenburg Urteil vom 6 K 2516/02 (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Die am ... Dezember 1982 geborene Tochter (T) des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) erhielt vom Jugendamt der Stadt A (Beigeladene und Revisionsklägerin —Beigeladene—) zunächst Leistungen der Jugendhilfe in Form der Heimerziehung. Seit Januar 1999 zweigte die Beklagte (Familienkasse) das Kindergeld an die Beigeladene gemäß § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab.

Anfang November 2000 wies die Familienkasse den Kläger und die Beigeladene darauf hin, dass das Kindergeld wegen Vollendung des 18. Lebensjahres der T letztmals im Dezember 2000 gezahlt werde, sofern nicht die Voraussetzungen für eine Weiterzahlung über das 18. Lebensjahr hinaus nachgewiesen würden. Daraufhin teilte die Beigeladene mit Schreiben vom mit, T werde seit September 2000 zur Sozialpflegeassistentin ausgebildet. Die vollen Kosten für T übernehme sie, die Beigeladene. Der Kläger werde aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse nicht zu einem Kostenbeitrag herangezogen, die Mutter der T sei bereits verstorben. Es werde gebeten „gemäß § 104 SGB X zu prüfen, ob das Kindergeld in voller Höhe an die…(Beigeladene) überwiesen werden” könne.

Auch nach Eintritt der Volljährigkeit erhielt T bis zum Leistungen der Jugendhilfe in Form der Heimerziehung nach § 41 i.V.m. § 27, § 34 des Achten Buches Sozialgesetzbuch —Kinder- und Jugendhilfe— i.d.F. für das Jahr 2001 (SGB VIII). Am bezog T eine Mietwohnung, wurde aber weiterhin von der Beigeladenen betreut (sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII). Die Beigeladene erbrachte zudem bis zum Leistungen zum Unterhalt der T gemäß § 41 i.V.m. § 39 SGB VIII (Hilfe zum Lebensunterhalt, Fahrtkosten und Miete). Die Halbwaisenrente der T sowie die ihr zustehenden Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) beanspruchte die Beigeladene nach § 93 Abs. 5 SGB VIII. Die Leistungen wurden ihr von den Sozialleistungsträgern nach § 104 Abs. 1 Satz 4 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) erstattet.

Die Familienkasse setzte das Kindergeld mit Bescheid vom auf 0 DM fest, weil die Einkünfte und Bezüge von T (Halbwaisenrente, BAföG und Leistungen der Jugendhilfe) den Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG voraussichtlich überschreiten würden.

Im August 2001 beantragte der Kläger im Namen von T Kindergeld, weil sich deren Verhältnisse geändert hätten. Sie habe seit dem eine eigene Wohnung bezogen, werde aber weiterhin noch von der Beigeladenen betreut. Er, der arbeitslose Kläger, könne sie nicht unterstützen. Das Kindergeld solle auf das Konto der T überwiesen werden. Durch Bescheid vom setzte die Familienkasse unter Hinweis auf die Einkünfte und Bezüge der T das Kindergeld wiederum mit 0 DM fest. Hiergegen erhob der Kläger nach erfolglosem Einspruch Klage.

Im März 2002 beantragte T die Auszahlung des Kindergeldes an sich, weil der Kläger keinen Unterhalt leiste. Der Kläger bestätigte dies. Mit Bescheid vom setzte dann die Familienkasse Kindergeld ab Januar 2002 fest und zweigte das Kindergeld dem Antrag der T und des Klägers entsprechend an die T ab.

Nach einem Hinweis des Landesarbeitsamts während des Klageverfahrens, dass die Leistungen der Jugendhilfe generell nicht als Bezüge i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG anzurechnen seien, hob die Familienkasse mit Bescheid vom den Bescheid vom auf.

Mit weiterem Bescheid vom setzte die Familienkasse Kindergeld rückwirkend für Januar bis Dezember 2001 fest. Da der Kläger T mangels Leistungsfähigkeit keinen Unterhalt leisten könne, werde der Nachzahlungsbetrag in Höhe von 1 656,59 € gemäß § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG an die Beigeladene abgezweigt. Die Abzweigung sei in dieser Höhe angemessen, weil das Kindergeld insoweit für den Kindesunterhalt bestimmt sei.

Den Einspruch des Klägers wies die Familienkasse mit Bescheid vom als unbegründet zurück. Sie führte aus, die Beigeladene habe einen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 3 EStG (ab 2002 § 74 Abs. 2 EStG) i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X geltend gemacht. Die Voraussetzungen hierfür lägen vor, da die Beigeladene zunächst Sozialleistungen erbracht habe, obwohl das vorrangig zustehende Kindergeld hierauf hätte angerechnet werden müssen. Der Erstattungsanspruch entstehe kraft Gesetzes und führe zum Erlöschen des Auszahlungsanspruchs auf Kindergeld. Die Erstattung gehe damit der auf § 74 Abs. 1 EStG gestützten Abzweigung vor. Im finanzgerichtlichen Verfahren führte die Familienkasse aus, der Einspruchsbescheid sei in seiner Begründung fehlerhaft, weil nicht über einen Erstattungsantrag, sondern über einen Abzweigungsantrag zu entscheiden gewesen sei.

Das Finanzgericht (FG) hob den Abzweigungsbescheid und die Einspruchsentscheidung durch Urteil vom   6 K 2516/02 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2006, 907) auf, weil die Beigeladene einen eindeutig als Erstattung bezeichneten Antrag auf Auszahlung des Kindergeldes gestellt und auch nur dessen Voraussetzungen dargelegt habe. Die Familienkasse habe nunmehr zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Erstattung nach § 74 Abs. 3 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 und Satz 4 SGB X vorlägen.

Auch wenn dieser Auffassung nicht gefolgt würde, seien der Abzweigungsbescheid und die Einspruchsentscheidung aufzuheben, weil keiner der Bescheide ausreichende Ermessenserwägungen enthalte. Eine Ermessensreduzierung auf Null könne nur dann angenommen werden, wenn sich der Kindergeldberechtigte unabhängig von Unterhaltsverpflichtungen nicht um sein Kind gekümmert habe. Hierzu habe die Familienkasse keine Feststellungen getroffen.

Mit ihrer Revision trägt die Beigeladene vor, für eine Abzweigung sei kein ausdrücklicher Antrag erforderlich. Nach der Dienstanweisung zur Durchführung des steuerlichen Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes 74.1.1 Abs. 2 Satz 3 seien lediglich zunächst die Voraussetzungen einer Erstattung zu prüfen, wenn das Auszahlungsersuchen nicht oder nicht nur auf § 74 Abs. 1 EStG gestützt werde. Eine Erstattung sei im Streitfall aber nicht in Betracht gekommen, weil der Kläger nicht zu einem Kostenbeitrag herangezogen worden sei. Die Entscheidung der Familienkasse sei im Ergebnis rechtmäßig, da die Voraussetzungen für eine Abzweigung vorgelegen hätten und nur die Abzweigung eine ermessensgerechte Entscheidung gewesen sei.

Die Beigeladene beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

1. Zu Recht hat die Familienkasse die Bitte der Beigeladenen im Schreiben vom , „gemäß § 104 SGB X zu prüfen, ob das Kindergeld in voller Höhe an die (Beigeladene) .... überwiesen werden” könne, als Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 EStG behandelt.

Entgegen der Auffassung des FG setzt eine Abzweigung weder einen ausdrücklichen Antrag auf Abzweigung noch ein eindeutig geäußertes Abzweigungsbegehren voraus. Denn die Entscheidung über eine Abzweigung ergeht von Amts wegen, eines Antrags bedarf es nach § 74 Abs. 1 EStG nicht. Auch eine Erstattung nach § 104 SGB X muss nicht beantragt werden, der Erstattungsanspruch entsteht kraft Gesetzes. Abzweigungsanspruch und Erstattungsanspruch müssen aber in irgendeiner Form geltend gemacht werden, da die Familienkasse sonst keine Kenntnis von dem entscheidungserheblichen Sachverhalt erhält. Wird ausdrücklich ein Antrag auf Erstattung gestellt, schließt dies nicht aus, dem Begehren auf Auszahlung des Kindergeldes durch eine Abzweigung nachzukommen (vgl. auch , BFH/NV 2001, 898). Ist die Anspruchsgrundlage für das Begehren auf Auszahlung nicht eindeutig oder unzutreffend, hat die Familienkasse das Begehren auszulegen.

2. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Abzweigung des Kindergeldes sind im Streitfall gegeben.

Ist der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig, kann das nach § 66 Abs. 1 EStG für ein Kind festgesetzte Kindergeld an die Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt —§ 74 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. Satz 1 bis 3 EStG— (vgl. , BFH/NV 2005, 171, m.w.N.).

Der Kläger war dem Grunde nach unterhaltspflichtig, da T ihren Unterhalt und ihre Ausbildung allein mit der Halbwaisenrente und den BAföG-Leistungen nicht finanzieren konnte. Wegen seiner geringen Einkünfte brauchte der Kläger jedoch nach zivilrechtlichen Grundsätzen keinen Unterhalt zu leisten (§ 1603 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs).

3. Ob die Familienkasse das Kindergeld abzweigt, ist eine Ermessensentscheidung („kann”). Dahinstehen kann, ob die Familienkasse ihre Ermessenserwägungen im Abzweigungsbescheid ausreichend dargelegt oder ggf. im finanzgerichtlichen Verfahren ausreichend ergänzt hat (§ 102 Satz 2 FGO). Denn im Streitfall ist das Ermessen so weit eingeengt, dass nur die Abzweigung an die Beigeladene vertretbar erscheint —sog. Ermessensreduzierung auf Null— (vgl. , BFHE 206, 1, BStBl II 2006, 130).

a) Zu Unrecht geht das FG davon aus, eine Ermessensreduzierung auf Null könne nur angenommen werden, wenn sich der Kläger nicht um T „gekümmert” hätte; dies hätte die Familienkasse ermitteln müssen. Nach der Rechtsprechung ist zwar bei der Ermessensentscheidung über die Höhe der Abzweigung zu prüfen, ob dem Kindergeldberechtigten, auch wenn er mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist, Unterhaltsaufwendungen für den Umgang mit dem Kind zumindest in Form von Sachleistungen entstanden sind (Senatsurteil vom III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, m.w.N.). Eine solche Prüfung erübrigte sich aber im Streitfall, da der Kläger mehrfach erklärt hat, wegen seiner Arbeitslosigkeit keinen Unterhalt leisten zu können, und auch nicht geltend gemacht hat, dass ihm Aufwendungen für T entstanden seien. Er hat deshalb das Kindergeld auch nicht für sich selbst beansprucht, sondern beantragt, es an T auszuzahlen.

b) Ebenso wenig steht der Abzweigungsantrag der T einer Ermessensreduzierung auf Null entgegen.

Das Kindergeld dient der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes beim anspruchsberechtigten Elternteil und —soweit es dafür nicht erforderlich ist— der Förderung der Familie. Es gehört bei Auszahlung an den anspruchsberechtigten Elternteil zu dessen Einkommen (Senatsurteil vom III R 33/05, BFH/NV 2008, 1577) und ist schon deshalb keine mit den Jugendhilfeleistungen für das volljährige Kind zweckidentische Leistung. Wird das Kindergeld dagegen aufgrund eines Abzweigungsantrags an das Kind ausgezahlt, weil der anspruchsberechtigte Elternteil keinen Unterhalt leistet oder leisten kann, ist das Kindergeld Einkommen des Kindes ( B 11b AS 13/06 R, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2008, 1527) und für dessen Unterhalt und Ausbildung bestimmt. Im Falle der Abzweigung an T wäre das Kindergeld daher abweichend vom Regelfall eine mit den Leistungen der Jugendhilfe zweckidentische Leistung, welche T ebenso wie die Halbwaisenrente und die BAföG-Leistungen nach § 93 Abs. 5 SGB VIII einzusetzen hätte. Deshalb ist allein eine Abzweigung an die Beigeladene sachgerecht.

c) Unbeachtlich ist, dass die Familienkasse dem Kläger vor Erlass der Abzweigungsentscheidung nicht nochmals Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Denn eine nach § 91 der Abgabenordnung (AO) erforderliche Anhörung kann bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz des finanzgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden (§ 126 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 AO).

Fundstelle(n):
BFH/NV 2009 S. 164 Nr. 2
UAAAD-02174