Leitsatz
[1] Unterstellt das Berufungsgericht den Vortrag des Berufungsführers zur Eintragung der Berufungs- und der Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender als wahr, darf es nicht zugleich diesen Vortrag als unsubstantiiert beanstanden.
Gesetze: ZPO § 236 B
Instanzenzug: LG Frankfurt/Main, 2/10 O 186/06 vom OLG Frankfurt/Main, 19 U 169/07 vom
Gründe
I.
Die Kläger verlangen Ersatz von Schäden an ihrem Haus, die durch eine umgestürzte Zeder vom Nachbargrundstück des Beklagten verursacht worden sind.
Das die Klage abgewiesen. Mit Empfangsbekenntnis vom hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger den Empfang dieses Urteils bestätigt. Am haben die Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, das Urteil des Landgerichts sei bei ihrem Prozessbevollmächtigten am eingegangen. Das Berufungsgericht hat die Berufung mit dem angefochtenen Beschluss vom als unzulässig verworfen.
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Kläger hätten den Beweis nicht geführt, dass die Berufungsschrift am innerhalb der gesetzlichen Frist von einem Monat nach Zustellung des angefochtenen Urteils beim Berufungsgericht eingegangen sei. Das Empfangsbekenntnis ihres Prozessbevollmächtigten weise als Datum der Zustellung des landgerichtlichen Urteils den aus. Die anwaltliche Versicherung, dabei handele es sich um ein Schreibversehen, genüge für den von den Klägern zu erbringenden Beweis nicht. Das gelte auch dann, wenn der Prozessbevollmächtigte der Kläger die Berufungs- und die Berufungsbegründungsfrist selbst auf und berechnet habe und dann diese Fristen rot im Fristenkalender unter Fristablauf eingetragen worden seien. Es sei nicht einmal dargetan und unter Beweis gestellt, aus welchem Grund der Prozessbevollmächtigte der Kläger entgegen dem Inhalt des Empfangsbekenntnisses dieses nicht am unterzeichnet haben sollte und weshalb der als zutreffendes Zustellungsdatum in Betracht zu ziehen sei. Es sei durchaus denkbar, dass das Empfangsbekenntnis das Datum des Empfangs richtig wiedergebe, die Fristen aber erst am notiert worden seien.
II.
Der angefochtene Beschluss hält den Angriffen der Rechtsbeschwerde nicht Stand.
1. Die Rechtsbeschwerde der Kläger ist gemäß §§ 522 Abs. 1 Satz 4, 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig (§§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2, 575 ZPO), weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (vgl. BVerfG, BVerfGE 79, 372, 376 f.; NJW-RR 2002, 1004).
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
Das Berufungsgericht durfte die Berufung nicht mit der Begründung als unzulässig verwerfen, die Kläger hätten nicht bewiesen, dass die Berufungsschrift rechtzeitig bei Gericht eingegangen sei. Ausgehend vom Vorbringen der Kläger hat der Eingang der Berufungsschrift bei Gericht am die Berufungsfrist gewahrt (§ 517 ZPO). Das Berufungsgericht setzt sich mit dem Vortrag, das Urteil des Landgerichts sei erst am ihrem Prozessbevollmächtigten zugestellt worden, nicht in der erforderlichen Weise auseinander.
a) Richtig ist zwar, dass das Empfangsbekenntnis eines Anwalts, obgleich Privaturkunde (§ 416 ZPO), wie eine Zustellungsurkunde gemäß § 418 ZPO Beweis für die Entgegennahme des bezeichneten Schriftstücks als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme erbringt (§ 174 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 ZPO; vgl. BVerfG, NJW 2001, 1563, 1564; - VersR 1997, 86). Auch verweist das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler darauf, dass zwar der Gegenbeweis der Unrichtigkeit eines Empfangsbekenntnisses zulässig ist, aber dafür die bloße Möglichkeit der Unrichtigkeit nicht genügt, vielmehr jede Möglichkeit der Richtigkeit der Empfangsbestätigung ausgeschlossen werden muss (vgl. Senat, Urteil vom - VI ZR 258/00 - VersR 2001, 1262, 1263; - NJW 2006, 1206, 1207). Andererseits dürfen an einen Gegenbeweis nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wegen der Beweisnot der betroffenen Partei keine überspannten Anforderungen gestellt werden (vgl. Senat, Beschluss vom - VI ZB 80/06 - VersR 2008, 512, 513 m.w.N.).
Hier hatten die Kläger vorgetragen, das Datum auf dem Empfangsbekenntnis beruhe auf einem Schreibversehen. Ihrem Prozessbevollmächtigten sei das erstinstanzliche Urteil erst am zugegangen. Aus diesem Grund habe er die Berufungsfrist mit und die Frist zur Begründung der Berufung mit rot notiert, also beide Fristen im Fristenkalender eingetragen. Diesen Vortrag hat er anwaltlich versichert. Das Berufungsgericht hat den Vortrag als wahr unterstellt. Es vermisst jedoch die Angabe eines Grundes, aus dem der Prozessbevollmächtigte das Empfangsbekenntnis nicht am unterzeichnet habe, und die Angabe des Grundes, weshalb der als Zeitpunkt der Zustellung zutreffend sei.
Diese Begründung ist nicht nachvollziehbar, erscheint willkürlich und verstößt damit gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Zwar macht die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird (vgl. BVerfG, NJW 2008, 1726) oder sich bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken der Schluss aufdrängt, dass der Fehler auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. - juris Rn. 33). Das ist hier jedoch der Fall. Die Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen die Denkgesetze.
aa) Das Berufungsgericht übersieht, dass die Kläger ein Schreibversehen als Grund für die fehlerhafte Angabe geltend gemacht haben. Die Angabe eines Grundes für das Schreibversehen selbst vermisst das Berufungsgericht nicht. Ein solcher ist auch regelmäßig nicht nachzuvollziehen. Menschliches Augenblicksversagen kann oft schon im unmittelbaren Anschluss nicht mehr erklärt werden, erst recht nicht, wenn es - wie hier - erst nach Ablauf von mehreren Monaten bemerkt wird.
bb) Die Rechtsbeschwerde beanstandet ferner mit Erfolg, dass das Berufungsgericht von den Klägern eine Erklärung dafür verlangt hat, aus welchem Grund das angefochtene Urteil ihrem Prozessbevollmächtigten erst am zugegangen sei. Das entzog sich nämlich ihrer Kenntnis selbst dann, wenn der Prozessbevollmächtigte des Gegners das Urteil zu einem näher am liegenden Tag zugestellt erhalten haben sollte.
b) Soweit das Berufungsgericht den den Klägern obliegenden Beweis deshalb als nicht geführt ansieht, weil die eingetragenen Fristen vom 17. Juli und erst am notiert worden sein könnten, obwohl das Urteil bereits am zugestellt worden sein könne, ist diese Möglichkeit theoretisch geblieben. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür führt das Berufungsgericht nicht an. Es überspannt damit die Anforderungen an den Gegenbeweis gegen § 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO und verstößt deshalb gegen den verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes. Dieser verbietet es, einer Partei die Rechtsverfolgung aufgrund von Anforderungen an ihre Sorgfaltspflichten zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen sie auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Gerichts nicht rechnen musste (vgl. BVerfG, BVerfGE 79, 372, 379 f.; NJW-RR 2002, 1004). Der Umstand, dass dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten das erstinstanzliche Urteil bereits am zugestellt worden ist, deutet zwar die Möglichkeit einer früheren Zustellung an, vermag aber ohne vollständige Klärung der Umstände nicht zu einer Abweisung der Berufung als unzulässig zu führen.
c) Soweit das Berufungsgericht im Übrigen die anwaltliche Versicherung des Prozessbevollmächtigten der Kläger von der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils erst am nicht für ausreichend erachten wollte, hätte es darauf hinwirken müssen, dass Zeugenbeweis angetreten wird. Der Prozessbevollmächtigte einer Partei kann auch bei Fortdauer seiner Funktion als Zeuge vernommen werden (vgl. Senat, Urteil vom - VI ZR 306/93 - EzFamR ZPO § 418 Nr. 2). Einen entsprechenden Hinweis hat das Berufungsgericht jedoch unterlassen und damit nicht nur gegen § 139 ZPO, sondern im konkreten Zusammenhang auch gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen. Den auf einen entsprechenden Hinweis gehaltenen Vortrag haben die Kläger in der Rechtsbeschwerdebegründung nachgeholt.
3. Die genannten Rechtsfehler sind entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei vollständiger Berücksichtigung des Vortrages der Kläger anders entschieden hätte.
4. Nach allem ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Eine eigene Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts (§ 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO) ist nicht angebracht.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
NJW 2009 S. 855 Nr. 12
IAAAC-97701
1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja