Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: OEG § 1 Abs 1
Instanzenzug: LSG Hamburg, L 4 VG 8/06 vom SG Hamburg, S 30 VG 37/04 vom
Gründe
I
Streitig ist, ob der Kläger am Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) geworden ist.
Der im Jahre 1971 geborene Kläger ist schwerbehindert (Grad der Behinderung 100; Merkzeichen B, G, H und RF). Am beantragte er bei der Beklagten Versorgung nach dem OEG und gab an, am habe ihn Herr D. in seiner (des Klägers) Wohnung aufgesucht und ihn bedrängt, mitgebrachte Drogen zu verstecken, was er abgelehnt habe. Danach seien zwei Männer erschienen, die sich als Polizeibeamte ausgegeben, nach D. gefragt und diesem Handschellen angelegt hätten. Er selbst habe sich bäuchlings flach auf den Boden legen müssen und sei angewiesen worden, sich nicht zu bewegen, andernfalls werde geschossen. Sodann habe ihn einer der Männer durchsucht, ihm die Brieftasche aus der rechten Gesäßtasche gezogen und dieser 250 Euro entnommen, angeblich um das Geld auf "Drogengeld" zu kontrollieren. Durch diesen Vorgang habe er psychische Verletzungen erlitten.
Das Ermittlungsverfahren gegen Herrn D. wegen Raubes, in dessen Verlauf dieser und der Kläger vernommen worden sind, wurde durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 170 Abs 2 Strafprozessordnung eingestellt, da Herrn D. "eine Beteiligung an der Raubtat" zum Nachteil des Klägers nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachweisbar sei. Die beiden anderen Männer konnten strafrechtlich nicht verfolgt werden, da sie unerkannt geblieben sind.
Durch Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab. Ein Angriff iS von § 1 Abs 1 OEG sei nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen. Die vom Kläger geschilderte Bedrohung, stelle keinen tätlichen Angriff dar. Denn es gebe keine Anzeichen einer unmittelbar bevorstehenden Gewaltanwendung. Die Täter hätten vielmehr den Kläger lediglich einschüchtern wollen, um ihm Geld wegzunehmen.
Klage und Berufung des Klägers, mit denen er zuletzt insbesondere geltend gemacht hat, die Täter hätten ihm die Waffe gezeigt und gedroht zu schießen, sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts <SG> Hamburg vom ; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Hamburg vom ). Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt: Zwar sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG auch bereits die absichtliche, rechtswidrige Bedrohung eines Anderen mit einer scharf geladenen, entsicherten Schusswaffe, selbst wenn ein Tötungs- oder Verletzungsvorsatz fehle. Damit sei das vom Kläger zur Begründung seines Anspruchs "herangezogene Ereignis" indes rechtlich nicht vergleichbar. Es stehe noch nicht einmal fest, dass die Täter überhaupt eine Schusswaffe bei sich geführt hätten, schon gar nicht sei diese entsichert und auf den Kläger gerichtet gewesen. Selbst wenn die Waffe, wie der Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragen habe, sichtbar gewesen sein sollte, spreche nichts dafür, dass die Täter mehr gewollt hätten, als ihn einzuschüchtern. Weder ein demonstrativer Griff zur Waffe noch der Griff an den Hosenbund - des Klägers - könne als Beginn einer körperlichen Bedrohung interpretiert werden.
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 1 Abs 1 OEG. Der vom LSG vertretene Begriff des tätlichen Angriffs sei zu eng. Es stehe fest, dass er Opfer eines Raubes geworden sei, der tatbestandlich "gegen eine Person gerichtete Gewalt" voraussetze. Zudem stelle bereits das Hereindrängen des Herrn D. sowie der beiden weiteren Täter in seine Wohnung eine Gewalttat dar, nämlich in Form einer Freiheitsberaubung gemäß § 239 Strafgesetzbuch (StGB). Zudem sei auch "die festgestellte Drohung mit einer Schusswaffe" ein tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das das sowie den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen des Vorfalles vom Beschädigtenrente nach dem OEG zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie schließt sich dem angefochtenen Urteil an.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Das Berufungsurteil ist aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist die Anfechtung des ablehnenden Bescheides der Beklagten kombiniert mit dem Leistungsbegehren, dem Kläger wegen des Vorfalles Beschädigtenrente zu gewähren. Obgleich der Kläger, wie schon im Klage- und Berufungsverfahren, dem Wortlaut nach "Versorgung" begehrt, legt der Senat den Revisionsantrag im wohlverstandenen Interesse des Klägers als auf die Gewährung von Beschädigtenrente gerichtet aus, da der ausdrücklich gestellte Leistungsantrag unzulässig wäre. Zwar kann im sozialgerichtlichen Verfahren die Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG auf jede nach dem materiellen Recht vorgesehene Leistung gerichtet werden. Die beanspruchte Leistung muss indes genau bezeichnet werden ( B 9/9a VS 5/06 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Der Begriff der Versorgung betrifft aber keine bestimmte Leistung, sondern umfasst alle nach dem Bundesversorgungsgesetz - BVG -in unmittelbarer oder entsprechender Anwendung zur Verfügung stehenden Leistungen (vgl § 1 Abs 1 OEG iVm § 9 BVG). Selbst wenn nach den Umständen des Falles als "Versorgung" nur Geldleistungen in Betracht kämen, kann nach der Rechtsprechung des Senats ein dann immer noch zu unbestimmter Ausspruch nicht Gegenstand eines Grundurteils nach § 130 SGG sein (Urteil vom - B 9 VG 2/98 R - USK 99140 S 816, 817; - BSGE 88, 240, 246 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 20 S 90).
Nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG erhält, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ( -BSGE 81, 42, 43 = SozR 3-3800 § 1 Nr 11 S 38; -BSGE 81, 288, 289 = SozR 3-3800 § 1 Nr 12 S 42 f jeweils mwN, - SozR 4-3800 § 1 Nr 5 RdNr 6) ist als ein tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen. In aller Regel wird die Angriffshandlung den Tatbestand einer - versuchten oder vollendeten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben iS der §§ 211 ff StGB oder gegen die körperliche Unversehrtheit iS der §§ 223 ff StGB erfüllen. Deshalb ist - für den inneren Tatbestand (Vorsatz) - in der Regel auch das Wissen und Wollen des strafrechtlich relevanten Erfolges (Verletzung oder Tötung) von Belang. Daneben sind aber Begehungsweisen denkbar, bei denen kein derartiger Erfolg angestrebt wird. Es ist nicht einmal die körperliche Berührung oder auch nur ein darauf zielender Vorsatz des Täters erforderlich (vgl - BSGE 90, 6, 9 = SozR 3-3800 § 1 Nr 22 S 103 mwN). Fehlt einer Handlung die erforderlich unmittelbare (feindliche) Ausrichtung auf andere Menschen, so kann sie nicht als tätlicher Angriff gegen eine Person iS von § 1 Abs 1 Satz 1 OEG angesehen werden, weshalb mittelbare Angriffe durch den eigenständigen gesetzlichen Tatbestand des § 1 Abs 2 Nr 2 OEG in den Schutzbereich des Gesetzes einbezogen wurden ( - SozR 4-3800 § 1 Nr 5 RdNr 7).
Das BSG hat neben Angriffen auf die körperliche Unversehrtheit einer anderen Person auch einen Angriff auf deren körperliche Bewegungsfreiheit als tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG behandelt ( - SozR 3-3800 § 10a Nr 1 S 2 f Nötigung durch Versperren eines Weges), es aber bisher offen gelassen, ob hiervon auch Fälle von Freiheitsberaubung ohne aggressives Einwirken auf das Opfer - etwa durch Einsperren in einen umschlossenen Raum oder durch bloßes Blockieren von Ausgängen oder durch List -umfasst sind ( B 9a VG 4/05 R - SozR 4-3800 § 1 Nr 10 RdNr 13). Die Grenze zur Gewalttat nach § 1 Abs 1 OEG ist nach der Rechtsprechung des Senats jedenfalls überschritten, wenn eine Person durch Mittel körperlicher Gewalt ihrer Freiheit beraubt und/oder dieser Zustand durch Tätlichkeiten aufrechterhalten wird (BSG, aaO, RdNr 13 und LS; Schoreit/Düsseldorf, Gesetz über die Entschädigung von Gewalttaten <OEG>, 1977, § 1 RdNr 59 f).
Nicht als tätlicher Angriff sind im Regelfall solche Einwirkungen anzusehen, die nicht unmittelbar und gewaltsam den Körper eines anderen treffen. Unter welchen Voraussetzungen eine Bedrohung oder eine Drohung mit Gewalt für sich allein bereits als tätlicher Angriff zu werten ist, hat das BSG bisher nicht abschließend entschieden (vgl Az 9a RVg 1/83 - BSGE 56, 234, 237 = SozR 3800 § 1 Nr 4 S 9), es hat es jedoch genügen lassen, dass eine erhebliche Drohung gegenüber dem Opfer mit einer unmittelbaren Gewaltanwendung gegen eine Sache einherging, die als einziges Hindernis dem unmittelbaren körperlichen Zugriff auf das Opfer durch die Täter im Wege stand, sodass der Sachverhalt nicht allein auf Drohungen beschränkt war ( - BSGE 81, 42, 43 f = SozR 3-3800 § 1 Nr 11 S 38 f). Als tätlichen Angriff hat es das BSG schließlich angesehen, wenn der Täter das Opfer vorsätzlich mit einer scharf geladenen und entsicherten Schusswaffe bedroht hat, auch wenn ein Tötungs- oder Verletzungsvorsatz noch gefehlt hat ( - BSGE 90, 6 = SozR 3-3800 § 1 Nr 22). Dabei hat es für die Bewertung, dass hier die Grenze zwischen der bloßen Bedrohung und dem tätlichen Angriff überschritten war, maßgeblich auf die objektiv hohe Gefährdung des Opfers abgestellt. Angesichts der Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte wird eine feste Grenzziehung zwischen bloßer Drohung mit Gewalt und ihrer Anwendung kaum möglich sein. Ein tätlicher Angriff wird indes umso eher zu bejahen sein, je größer die objektive Gefahr für Leib oder Leben des Bedrohten war.
Ob der Kläger am Opfer eines tätlichen Angriffs im Rechtssinne geworden ist, kann aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG derzeit rechtlich nicht abschließend beurteilt werden. Ebenso wenig kann das Vorliegen eines tätlichen Angriffs ausgeschlossen werden; denn das LSG hat die dafür notwendigen Tatsachen ebenfalls nicht festgestellt.
Die für das Urteil in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlichen Tatsachen müssen vom Gericht ermittelt und im Urteil festgestellt werden. Nach § 128 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung, von welchem Sachverhalt bei der rechtlichen Beurteilung auszugehen ist; das Ergebnis dieses Entscheidungsprozesses und die für die Überzeugungsbildung maßgebenden Gründe sind im Urteil anzugeben. Es genügt deshalb nicht, wenn die Darstellung der Beteiligten oder die Aussagen von Zeugen und Sachverständigen inhaltlich oder vielleicht sogar wörtlich referiert werden. Entscheidend ist, dass das Gericht die Aussagen bewertet und mitteilt, welche Angaben es für wahr, welche Erinnerung eines Zeugen es für zuverlässig und welche gutachtliche Äußerung eines Sachverständigen es aus welchen Gründen für überzeugend hält und deshalb seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde legt. Die dem § 128 Abs 1 SGG inhaltlich entsprechende Regelung in § 286 Abs 1 ZPO bringt dies deutlicher zum Ausdruck, wenn es dort heißt, das Gericht habe nach freier Überzeugung "zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten" sei. Das Gericht muss sich ein Beweisergebnis "zu Eigen machen" (Lüdtke in Handkommentar zum SGG, 2003, § 163 RdNr 2); es muss "eigene Feststellungen treffen" (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, IX. Kap, RdNr 377). Bei einem Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz gehören derartige tatsächliche Feststellungen regelmäßig in die Entscheidungsgründe; sie können sich im Einzelfall aber auch aus dem Tatbestand des angefochtenen Urteils ergeben (Lüdtke, aaO; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 163 RdNr 3 mwN). Erforderlich ist in jedem Fall, dass das Gericht die Feststellung des Sachverhalts aufgrund eigener Erkenntnis vornimmt und dies hinreichend deutlich zum Ausdruck bringt (BSG SozR 4-1500 § 163 Nr 1 RdNr 13; BSG SozR 4-2700 § 8 Nr 12 RdNr 9; - RdNr 12 juris).
Nach diesen rechtlichen Maßstäben hat das LSG durch die Bezugnahme auf das Urteil des SG, das seinerseits auf den Abschlussvermerk der Staatsanwaltschaft über das Ergebnis der dortigen Ermittlungen Bezug genommen hatte, lediglich festgestellt, welche Angaben der Kläger und Herr D. seinerzeit gemacht haben. Von welchem Hergang das LSG selbst überzeugt ist oder von welchem Sachverhalt es sich nicht hat überzeugen können, wird daraus nicht deutlich.
Als eigene tatsächliche Feststellung im og Sinne hat das LSG allein ausgeführt, es stehe noch nicht einmal fest, ob die Täter eine Schusswaffe bei sich geführt hätten. Damit ist lediglich ein konkreter Vorgang, nämlich das Drohen unter Zeigen bzw Vorhalten einer Schusswaffe, ausgeschlossen worden. Da der Kläger diese tatsächliche Feststellung des LSG nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen hat, ist die rechtliche Schlussfolgerung des LSG, dass ein tätlicher Angriff mittels Bedrohung durch eine Schusswaffe nicht vorgelegen hat, nicht zu beanstanden; denn eine bloß verbale Drohung zu schießen führt noch nicht zu einer objektiv erhöhten Gefährdung des Bedrohten.
Zu den weiteren Umständen des Vorfalles, etwa zu dem vom Kläger behaupteten Hineindrängen in die Wohnung und zur körperlichen Durchsuchung des Klägers (Ziehen am Hosenbund des Klägers) enthält das Berufungsurteil keine näheren Feststellungen. Diese sind jedoch für eine rechtliche Wertung, ob ein tätlicher Angriff vorgelegen hat oder nicht, erforderlich. Entgegen der Auffassung der Revision hat das LSG nicht selbst festgestellt, dass der Kläger Opfer eines Raubes geworden ist. Der bloße Hinweis auf den Inhalt des Abschlussvermerks der Staatsanwaltschaft reicht insoweit nicht aus. Im Übrigen kann der Tatbestand des Raubes nach § 249 StGB durch Gewalt gegen eine Person oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben begangen werden.
Andererseits enthält das tatsächliche Vorbringen des Klägers im Revisionsverfahren hinreichende Anhaltspunkte für einen tätlichen Angriff. Soweit das LSG zu der Beurteilung gelangt ist, die Sachverhaltsdarstellung des Klägers erlaube eine Bejahung dieses Tatbestandsmerkmals nicht, vermag ihm der Senat nicht zu folgen. Insbesondere bei dem behaupteten Hineindrängen in die Wohnung und dem Ziehen am Hosenbund des Klägers handelt es sich um Vorgänge, die unter Umständen als tätlicher Angriff gewertet werden können.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
LAAAC-97658