BFH Urteil v. - III R 89/07

Voraussetzungen für einen Anspruch des Sozialhilfeträgers auf Erstattung von nachträglich festgesetztem Kindergeld

Leitsatz

Ein Sozialhilfeträger hat nur dann gem. § 74 Abs. 2 EStG i. V. mit § 104 Abs. 2 SGB X Anspruch auf Erstattung von nachträglich festgesetztem Kindergeld, wenn dieses zum Einkommen des Hilfeempfängers gehört, dem er Sozialhilfeleistungen erbracht hat. Hat der Sozialhilfeträger einem im eigenen Haushalt lebenden Kind Hilfe zum Lebensunterhalt geleistet, hat er nur dann Anspruch auf Erstattung von nachträglich festgesetztem Kindergeld, wenn das Kindergeld nach § 74 Abs. 1 EStG an das Kind abgezweigt wird oder ihm zumindest tatsächlich zufließt. Aus § 104 Abs. 2 SGB X kann keine materiell-rechtliche Regelung abgeleitet werden, dass das dem Anspruchsberechtigten zustehende Kindergeld auf das Einkommen des Kindes anzurechnen ist.

Gesetze: EStG § 74 Abs. 2, SGB X § 104, SGB X § 107

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Die 1978 geborene Tochter (T) der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) befand sich im streitigen Zeitraum Januar 2003 bis März 2004 in Berufsausbildung. Sie lebte mit ihrem nicht ehelichen Sohn (geboren 2002) in einer eigenen Wohnung und erhielt von der Sozialhilfeträgerin (Beigeladene) Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) ohne Anrechnung von Kindergeld.

Auf Antrag der Klägerin setzte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) mit Bescheid vom rückwirkend ab Januar 2003 Kindergeld für T fest. Da die Beigeladene mit Schreiben vom einen Anspruch auf Erstattung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. §§ 104, 107 Abs. 1 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) geltend gemacht hatte, zahlte die Familienkasse das Kindergeld für den Zeitraum Januar 2003 bis März 2004 an die Beigeladene aus. Der Klägerin wurde mit Abrechnungsbescheid vom mitgeteilt, dass der Kindergeldanspruch für diesen Zeitraum gemäß § 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt gelte. Der Einspruch der Klägerin war erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es führte aus, der angefochtene Abrechnungsbescheid sei rechtmäßig, da der Kindergeldanspruch der Klägerin durch die Auszahlung an die Beigeladene für den streitigen Zeitraum nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. §§ 104 Abs. 2, 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt gelte. Der Erstattungsanspruch des § 104 SGB X setze Gleichartigkeit und Nachrangigkeit der Leistungen voraus. Beides sei im Streitfall erfüllt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) handle es sich bei der HLU für T um eine mit dem Kindergeld zweckidentische Leistung i.S. von § 77 Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) und damit um anrechenbares Einkommen i.S. von § 76 Abs. 1 BSHG. Unabhängig davon, ob das Kindergeld der Förderung der Familie diene oder die steuerliche Freistellung des Einkommens des Kindergeldberechtigten in Höhe des Existenzminimums des Kindes bewirke, werde es letztlich zur Sicherstellung des Lebensunterhalts des Kindes gewährt, sodass es sich in beiden Fällen um eine mit der Sozialhilfe zweckidentische und der Sozialhilfe vorrangige Leistung handle. Unbeachtlich sei, dass die Klägerin durch die Übernahme der Nebenkosten für die Wohnung zum notwendigen Unterhalt der T beigetragen habe, da die Beigeladene diese Kosten bereits bei der Bedarfsberechnung der Sozialhilfe berücksichtigt habe. § 91 Abs. 1 BSHG stehe dem Erstattungsanspruch nicht entgegen, da er lediglich den Rückgriff des Sozialhilfeträgers auf zivilrechtlich unterhaltspflichtige Personen einschränke, § 74 Abs. 2 i.V.m. §§ 102 ff. SGB X dagegen den Erstattungsanspruch zwischen zwei Leistungsträgern der öffentlichen Hand regle.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin mangelnde Sachaufklärung durch das FG sowie Verletzung materiellen Rechts.

Sie beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung sowie den Abrechnungsbescheid in der Fassung der Einspruchsentscheidung aufzuheben.

Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie des Abrechnungsbescheids und der Einspruchsentscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Die Aufhebung des Abrechnungsbescheids hat zur Folge, dass das festgesetzte Kindergeld für den Zeitraum Januar 2003 bis März 2004 an die Klägerin auszuzahlen ist. Einer ausdrücklichen Verpflichtung der Familienkasse durch den Senat bedarf es nicht.

Der Abrechnungsbescheid ist rechtswidrig, weil der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld mangels Erstattungsanspruchs der Beigeladenen nicht als erfüllt gilt.

1. Nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 Abs. 1 SGB X gilt der Anspruch der Klägerin gegen die Familienkasse auf Kindergeld nur als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch der Beigeladenen besteht. Entgegen der Auffassung des FG hat die Beigeladene keinen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 2 SGB X. Die Familienkasse hat daher das Kindergeld zu Unrecht an die Beigeladene ausgezahlt.

a) Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht —ohne dass die hier nicht einschlägigen Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen—, ist nach § 104 Abs. 1 SGB X der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungserfüllung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Nach § 104 Abs. 2 SGB X gilt § 104 Abs. 1 SGB X auch dann, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger für den Angehörigen eines Berechtigten Sozialleistungen erbracht hat und der Berechtigte mit Rücksicht auf diesen Angehörigen einen Anspruch auf Sozialleistungen gegen einen vorrangig verpflichteten Leistungsträger hat.

b) Der Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 2 SGB X ist kein von den Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X unabhängiger Erstattungsanspruch eigener Art, sondern erweitert diesen nur. Daher kann ein Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 2 SGB X nur dann gegeben sein, wenn auch die Anspruchsvoraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X vorliegen (, BSGE 64, 96). Die Leistungen der unterschiedlichen Leistungsträger müssen deshalb gleichartig sein und es muss zwischen ihnen ein Verhältnis von vorrangiger und nachrangiger Verpflichtung zur Leistung bestehen.

c) Nach der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte ist das Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG, soweit es der Familienförderung dient, wie die HLU dazu bestimmt, die allgemeinen Lebenshaltungskosten zu mindern (, BVerwGE 114, 339, und vom 5 C 28/04, Neue Juristische Wochenschrift 2005, 2873, des B 9b SO 6/06 R, BFH/NV 2007, Beilage 4, 476, und des , BFH/NV 2002, 1156), so dass es sich in den Fällen, in denen das Kindergeld dem Einkommen des Hilfeempfängers zuzuordnen ist, um eine mit der HLU gleichartige und auch vorrangige Leistung handelt. Bezieht der Hilfeempfänger Kindergeld, ist dieses daher bei der Ermittlung der HLU als Einkommen i.S. des § 76 BSHG anzurechnen und mindert dementsprechend die HLU. Wird rückwirkend Kindergeld festgesetzt, kann der Sozialleistungsträger das Kindergeld erstattet verlangen.

Ist Hilfeempfänger dagegen nicht der Elternteil, der Anspruch auf das Kindergeld hat, sondern das im eigenen Haushalt lebende Kind, ist das Kindergeld nur dann als Einkommen des Kindes anzurechnen, wenn das Kindergeld nach § 74 Abs. 1 EStG an das Kind abgezweigt wird (vgl. , BFH/NV 2005, Beilage 1, 68) oder ihm zumindest tatsächlich zufließt (streitig, vgl. z.B. Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg —LSG Ba-Wü— vom L 7 SO 3131/06, juris; Revision, Az. B 8/9b SO 2/07 R).

d) Im Streitfall ist das Kindergeld dem Einkommen der Klägerin zuzurechnen. Bei rückwirkender Festsetzung scheidet eine Zuordnung des Kindergeldes aufgrund tatsächlichen Zuflusses an T aus. Einen Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG hatte T nicht gestellt. Ob sie einen Anspruch auf Abzweigung gehabt hätte, ist unerheblich. Denn dem sozialhilferechtlichen Einkommen i.S. des § 76 BSHG können nur solche Beträge zugeordnet werden, die dem Hilfeempfänger auch tatsächlich gegenwärtig für seinen Unterhalt zur Verfügung stehen, wobei es allein auf den tatsächlichen Zufluss von Geld und Geldeswert ankommt (vgl. Urteil des LSG Ba-Wü vom L 7 SO 3131/06, juris).

Aus § 104 Abs. 2 SGB X kann keine materiell-rechtliche Regelung abgeleitet werden, dass das dem Anspruchsberechtigten zustehende Kindergeld auf das Einkommen des Kindes anzurechnen ist. Bei den §§ 102 ff. SGB X handelt es sich lediglich um rechtstechnische Vorschriften, die den Ausgleich zwischen Leistungsträgern regeln. Ob die Merkmale der Gleichartigkeit und des Vor- und Nachrangs der Leistungsverpflichtung erfüllt sind, ergibt sich ausschließlich aus dem BSHG und den kindergeldrechtlichen Vorschriften.

2. Da die Revision der Klägerin Erfolg hat, erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit ihrer Verfahrensrüge.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2008 S. 1995 Nr. 12
HFR 2009 S. 262 Nr. 3
JAAAC-95278