Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: BErzGG § 1 Abs 1; BErzGG § 4 Abs 2 Satz 1; BErzGG § 4 Abs 2 Satz 3; SGB X § 27 Abs 1 Satz 1; SGB X § 27 Abs 5; BEEG § 7 Abs 1 Satz 2
Instanzenzug: SG Dresden, S 1 EG 8/02 vom
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin auch für die Zeit vom 3.3. bis zum Anspruch auf Erziehungsgeld (Erzg) hat.
Am beantragte die Klägerin Erzg für das erste Lebensjahr ihrer am geborenen Tochter M. und bat darum, die Leistung rückwirkend über den Zeitraum von sechs Monaten vor Antragstellung hinaus bereits ab dem Geburtsdatum ihrer Tochter zu gewähren. Von der Frist habe sie erst jetzt erfahren. Ihr Ehemann, der Volljurist sei, habe ihr im Juni 2000 auf Nachfrage erklärt, dass keine Fristen zu beachten seien.
Der Beklagte lehnte es ab, Erzg für den streitigen Zeitraum zu gewähren (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Nach § 4 Abs 2 Satz 3 Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) werde Erzg rückwirkend nur für sechs Monate vor Antragstellung (hier: ab ) bewilligt. Wiedereinsetzung in dem vorigen Stand sei nicht zu gewähren.
Das Sozialgericht Dresden (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom ); das Sächsische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin im Wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen (Urteil vom ): Sollten sich Wiedereinsetzungsvorschriften auf die wie eine Frist wirkende materiell-rechtliche Anspruchsbegrenzung nach § 4 Abs 2 Satz 3 BErzGG anwenden lassen, so seien die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung (§ 27 Abs 1 Satz 1 SGB X) hier nicht erfüllt. Die Klägerin sei nicht unverschuldet gehindert gewesen, die Frist einzuhalten. Ihre Rechtsunkenntnis entschuldige sie nicht, weil sie sich nicht bei einem Rechtskundigen informiert habe. Trotz seiner Ausbildung als Volljurist und seiner beruflichen Tätigkeit als Leiter des Rechtsamtes der Stadt Coswig sei von ihrem Ehemann einschlägige Rechtskunde zur Beantwortung der hier entscheidenden Frage nicht zu erwarten gewesen. Das hätte die Klägerin bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt auch erkennen müssen.
Die Klägerin macht mit ihrer - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision geltend: Ihr sei nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB X Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und rückwirkend ab Geburt ihrer Tochter Erzg zu gewähren. Als rechtsunkundiger Laie habe sie auf die Sach- und Rechtskunde ihres Ehemannes vertrauen dürfen, weil er als Volljurist ausgebildet und als Leiter eines Städtischen Rechtsamtes beruflich mit allen Angelegenheiten des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts, einschließlich des die Stadt betreffenden Sozialrechts, vertraut sei. Nach der umfangreichen Rechtsprechung zum Wiedereinsetzungsrecht sei ein Volljurist - wie ihr Ehemann - uneingeschränkt als rechtskundig anzusehen.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Sächsischen und des SG Dresden vom sowie den Bescheid des Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr für ihre am geborene Tochter Marlies auch für die Zeit vom bis Erzg zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt die angegriffenen Entscheidungen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.
Anspruch auf Erzg hat nach § 1 Abs 1 BErzGG, wer seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, mit einem Kind, für das ihm die Personensorge zusteht, in einem Haushalt lebt, dieses Kind selbst betreut und erzieht und keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin nach den Feststellungen des LSG auch für den streitigen Zeitraum. Rückwirkend wird die Leistung allerdings für höchstens sechs Monate vor der Antragstellung gewährt (§ 4 Abs 2 Satz 3 BErzGG). Diese Frist hat die Klägerin mit ihrer erst am erfolgten Antragstellung für die Zeit vor dem versäumt. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setzt voraus, dass die Klägerin ohne Verschulden verhindert war, ihren Antrag rechtzeitig zu stellen (§ 27 Abs 1 Satz 1 SGB X). Ob das der Fall ist, lässt sich nach den im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen, an die der Senat gebunden ist (§ 163 SGG), nicht abschließend entscheiden.
Bei der Regelung des § 4 Abs 2 Satz 3 BErzGG handelt es sich um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist, die an die - nicht fristgebundene - Antragstellung nach § 4 Abs 2 Satz 1 BErzGG anknüpft. Der Anspruch verfällt danach abschnittsweise gleitend mit jedem Tag, den der Antrag später als sechs Monate nach Beginn des Erzg-Leistungszeitraums gestellt wird (vgl BSGE 85, 231, 239 = SozR 3-7833 § 6 Nr 20 S 126; zur Parallelvorschrift in Art 3 Abs 2 Satz 1 Bayerisches Landeserziehungsgeldgesetz s auch BSGE 96, 44 = SozR 4-1300 § 27 Nr 2 RdNr 13). Auch solche Fristen des materiellen Sozialrechts sind "gesetzliche Fristen" iS des § 27 Abs 1 Satz 1 SGB X, deren unverschuldete Versäumung grundsätzlich im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand behoben werden kann. Es besteht kein Grund, sog gleitende Fristen des materiellen Sozialrechts davon auszunehmen (vgl BSGE 85, 231, 239 = SozR 3-7833 § 6 Nr 20 S 126).
Durch die Rechtsprechung des BSG ist außerdem geklärt, dass § 27 Abs 5 SGB X bei Versäumung der in § 4 Abs 2 Satz 3 BErzGG statuierten Frist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht ausschließt (vgl BSGE 85, 231, 239 = SozR 3-7833 § 6 Nr 20 S 126; so inzwischen ausdrücklich: Nr 4.2.1 der Richtlinien des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend <BMFSFJ> zur Durchführung des BErzGG, abgedruckt bei Hambüchen, BEEG, EStG, BKGG, Stand 7/07, "Verwaltungsvorschriften"). Nach § 27 Abs 5 SGB X ist die Wiedereinsetzung nur unzulässig, wenn sich aus einer Rechtsvorschrift ergibt, dass sie ausgeschlossen ist. Möglich ist ein solcher Ausschluss sowohl in Form einer ausdrücklichen Anordnung innerhalb der betroffenen Fristenregelung als auch dadurch, dass er sich aus dem Wesen der Frist durch Auslegung von Ziel und Zweck der jeweiligen Fristbestimmung und der ihr zugrunde liegenden Interessenabwägung ergibt (vgl BSGE 85, 231, 239 = SozR 3-7833 § 6 Nr 20 S 126 mwN). Das BErzGG enthält keine Regelung, nach der die Frist des § 4 Abs 2 Satz 3 BErzGG ausdrücklich als einer Wiedereinsetzung nicht zugänglich bezeichnet wird. Auch nach Sinn und Zweck dieser Fristenregelung ist eine Wiedereinsetzung nicht ausgeschlossen. Die vom Gesetz angestrebte Zeitnähe zwischen der Betreuung und Erziehung des Kindes in dessen ersten beiden Lebensjahren auf der einen Seite und der Honorierung dieser Hinwendung zum Kind durch das Erzg in den jeweiligen Lebensmonaten auf der anderen Seite schließt eine ausnahmsweise erfolgende rückwirkende Gewährung des Erzg über den sechsten Monat vor Antragstellung hinaus nicht aus (vgl BSGE 96, 44 = SozR 4-1300 § 27 Nr 2 RdNr 13, 32). Es liegt kein Fall vor, in dem die gesetzliche Regelung "mit der Frist steht und fällt". Auch die Gesetzesmaterialien liefern keinen Hinweis auf den Ausschluss einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für die Rückwirkungsfrist des § 4 Abs 2 Satz 3 BErzGG (vgl BSGE 85, 231, 239 = SozR 3-7833 § 6 Nr 20 S 127 mwN).
An dieser Rechtsprechung hält der Senat trotz der vom LSG geäußerten Zweifel und gegen die im Berufungsurteil zitierten Literaturmeinungen fest. Er sieht seine Auffassung durch § 7 Abs 1 Satz 2 Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (BEEG) vom (BGBl I 2748) bestätigt, wonach Elterngeld nur für die letzten drei Monate vor Beginn des Monats geleistet wird, in dem der Antrag auf Elterngeld eingegangen ist. In Kenntnis der wiedereinsetzungsfreundlichen Rechtsprechung des BSG zur Parallelvorschrift des § 4 Abs 2 Satz 3 BErzGG hat der Gesetzgeber die Wiedereinsetzung nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Auch die Gesetztesmaterialien enthalten darauf keinen Hinweis. Sie begnügen sich mit der Begründung, dass eine Auszahlung im zeitlichen Zusammenhang mit dem Grund der Leistung gewährleistet werden solle (BT-Drucks 16/1889, S 25).
War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so ordnet § 27 Abs 1 Satz 1 SGB X an, ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Dabei ist das Verschulden eines Vertreters dem Vertretenen zuzurechnen (§ 27 Abs 1 Satz 2 SGB X). Nach Auffassung des LSG braucht die Klägerin sich das Verschulden ihres Ehemannes nicht zurechnen zu lassen, weil er sie nicht vertreten habe. Ob dem zu folgen ist, lässt sich nach den im Berufungsurteil getroffenen Tatsachenfeststellungen nicht beurteilen.
Das LSG hat nur die durch Rechtsgeschäft oder Gesetz begründete Vertretung im Blick gehabt. Die Rechtsprechung hat jedoch als Vertreter, dessen Verschulden im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurechenbar ist, auch solche Personen angesehen, die der Betroffene nicht beauftragt oder bevollmächtigt hatte, bestimmte Erklärungen abzugeben, sondern denen insoweit lediglich Vorbereitungshandlungen oblagen (vgl BSGE 71, 213, 214 f = SozR 3-4100 § 141e Nr 2 S 3 f). Diese Rechtsprechung beruht auf dem allgemeinen Rechtsgedanken, dass sich niemand einer Verantwortung, die ihm im Außenverhältnis obliegt, dadurch entledigen kann, dass er eigene Aufgaben einem anderen zur Erledigung überträgt. Der Klägerin wird deshalb ein Verschulden ihres Ehemannes zuzurechnen sein, wenn sie von ihm "funktional" vertreten worden ist, indem sie es - bis auf ihre eigenhändige Unterschrift - ihm überlassen hat, die Erziehungsgeldangelegenheiten der Familie zu erledigen (vgl dazu auch BFH/NF 1991, 502 f).
Soweit ihr Ehemann nicht in dieser Weise für sie tätig gewesen ist, trifft die Klägerin kein Verschulden an der Fristversäumnis, wenn sie selbst diejenige Sorgfalt angewendet hat, die einem im Verwaltungsverfahren gewissenhaft Handelnden nach den gesamten Umständen vernünftigerweise zuzumuten ist. Zu diesen Sorgfaltspflichten gehört es, dass ein rechtsunkundiger Beteiligter sich bei einem Rechtskundigen Rat holt ( -KOV 1966, 93 f). Das hat die Klägerin getan. Sie hat zunächst die naheliegende Überlegung angestellt, der Anspruch auf Erzg könne fristabhängig sein und hat sich sodann bei ihrem Ehemann nach einer etwaigen Frist erkundigt.
Das LSG hat der Klägerin zu Unrecht vorgeworfen, die fehlende Kompetenz ihres Ehemannes zur Beantwortung der hier maßgeblichen Frage nicht erkannt und deshalb die Frist nicht unverschuldet versäumt zu haben. Diese Auffassung stützt das LSG auf die Erwägung, die Klägerin hätte wissen und bedenken müssen, dass auch ein ausgebildeter und in seinem Beruf mit Verwaltungsangelegenheiten befasster Jurist nicht in der Lage sei, "jegliche Rechtsfrage mit der zu Gebote stehenden Fachkompetenz" zu beantworten. Damit hat das LSG die Sorgfaltspflichten eines Auskunftssuchenden überspannt. Denn es ist nicht Sache des auskunftsuchenden Laien, die Fachkompetenz eines nicht von vornherein erkennbar mit der Frage überforderten Juristen abschließend zu beurteilen, sondern es obliegt vielmehr diesem, eine solche Fragen nur und erst dann zu beantworten, wenn er - ggf nach entsprechenden Nachforschungen - über entsprechende Rechtskenntnisse verfügt. Die Klägerin durfte grundsätzlich schon deshalb darauf vertrauen, dass ihr für die gestellte Frage nicht offensichtlich inkompetenter Ehemann sich in der beschriebenen Weise verantwortungsvoll verhalten würde, weil er ihr gegenüber besonders verpflichtet und zudem an der Gewährung von Erzg als Beitrag zum Familieneinkommen finanziell selbst interessiert war.
Die eheliche Verbundenheit gibt andererseits aber auch Anlass, die näheren Umstände zu ermitteln, unter denen die Auskunft hier erteilt worden ist. Denn mit einer beiläufigen Frage und einer eben solchen Antwort am Rande eines Alltagsgesprächs über andere Dinge genügt der Rechtsunkundige seiner Sorgfaltspflicht beim Einholen von Rechtsrat nicht. Es muss deutlich werden, dass es um eine wichtige Information geht, von der das weitere Verhalten des Auskunftsuchenden bei der Verfolgung von Erzg-Ansprüchen abhängt. Dies gilt um so mehr, wenn sich weder die Klägerin selbst, noch - für diese erkennbar - ihr Ehemann mit dem genauen Inhalt des Antragsformulars (einschließlich eines darin enthaltenen Hinweises auf ein Merkblatt) befasst hat und diese Unterlagen ausreichend klare Informationen über die Regelung des § 4 Abs 2 Satz 3 BErzGG enthielten (vgl allg dazu BSGE 44, 264, 273 = SozR 5870 § 13 Nr 2 S 13; BFHE 168, 221, 224; BFH/NV 2004, 910, 912).
Da der Senat die danach erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst durchführen kann, ist das angegriffene Urteil deshalb aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
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Fundstelle(n):
PAAAC-75178