OFD-Hannover - S 0223 - 19 - StO 143

Tatsächliche Verständigung über den der Steuerfestsetzung zugrunde liegenden Sachverhalt

In Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung dient es unter bestimmten Voraussetzungen der Effektivität der Besteuerung und allgemein dem Rechtsfrieden, wenn sich die Beteiligten über die Annahme eines bestimmten Sachverhalts und über eine bestimmte Sachbehandlung einigen können (Nr. 1 Abs. 2 letzter Satz des Anwendungserlasses zu § 88 AO).

Diese tatsächliche Verständigung kann nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (, BStBl 1985 II S. 354, , BStBl 1991 II S. 45 und , BStBl 1991 II S. 673) in jedem Stadium des Veranlagungsverfahrens, insbesondere auch anlässlich einer Außenprüfung und während eines anhängigen Rechtsbehelfs- bzw. Rechtsmittelverfahrens getroffen werden. Von ihr kann auch bei Steuerfahndungsprüfungen bzw. nach Einleitung eines Steuerstrafverfahrens Gebrauch gemacht werden (vgl. Tz. 7.1). Beabsichtigen die Beteiligten, sich auf diese Weise über eine bestimmte Sachbehandlung zu verständigen, so sind die folgenden Grundsätze zu beachten:

1 Zulässigkeit

1.1. Die tatsächliche Verständigung ist ausschließlich im Bereich der Sachverhaltsermittlung zulässig.

1.2 Die tatsächliche Verständigung ist nicht zulässig


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zur Klärung zweifelhafter Rechtsfragen,
über den Eintritt bestimmter Rechtsfolgen,
über die Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften und
wenn sie zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt.

Eine tatsächliche Verständigung ist aber insoweit möglich, als im Rahmen einer rechtlichen Beurteilung über eine Vorfrage zum Sachverhalt zu entscheiden ist (vgl. , BFH/NV 1998 S. 498 und , BStBI II 2001 S. 520).

2 Voraussetzung

Voraussetzung für eine tatsächliche Verständigung ist das Vorliegen eines Sachverhalts, der nur unter erschwerten Umständen ermittelt werden kann. Das ist z. B. der Fall, wenn sich einzelne Sachverhalte nur

  • mit überdurchschnittlichem Arbeits- und Zeitaufwand und/oder

  • mit überdurchschnittlicher Zeitdauer ermitteln lassen.

Bei der Frage, ob eine erschwerte Sachverhaltsermittlung vorliegt, kann auch auf das Verhältnis zwischen voraussichtlichem Arbeitsaufwand und steuerlichem Erfolg abgestellt und ferner berücksichtigt werden, in welchem Maß das Finanzamt durch ein zu erwartendes finanzgerichtliches Verfahren belastet wird, sofern es bei vorhandenen tatsächlichen Zweifeln dem Begehren des Steuerpflichtigen nicht entspricht und zu seinem Nachteil entscheidet.

3 Anwendungsbereich

3.1 Eine tatsächliche Verständigung kommt insbesondere in Fällen in Betracht, in denen ein


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Schätzungsspielraum
Bewertungsspielraum
Beurteilungsspielraum oder
Beweiswürdigungsspielraum

besteht.

3.2 Die tatsächliche Verständigung unterscheidet sich von der verbindlichen Auskunft dadurch, dass sie sich ausschließlich auf abgeschlossene Sachverhalte bezieht. Wirkt sich der in der tatsächlichen Verständigung festgelegte Sachverhalt auch in der Zukunft aus, tritt insoweit ebenfalls eine Bindung ein. Das ist z. B. der Fall bei der Festlegung der Nutzungsdauer eines Wirtschaftsgutes ( EFG 1992 S. 706) oder der Abgrenzung von Erhaltungs- und Herstellungsaufwendungen ( EFG 1991 S. 59).

4 Durchführung

Die tatsächliche Verständigung dient der Herstellung des Rechtsfriedens bei gleichzeitiger Beschränkung des Arbeits- und Zeitaufwands auf ein vertretbares Maß. Sie ist nur bei gewichtigen, nicht (weiter) aufklärbaren Sachverhalten vorzunehmen. Die Abgrenzung zu nicht gewichtigen Sachverhalten hat sich nach der Bedeutung des Gesamtsteuerfalles zu orientieren, wobei nicht kleinlich zu verfahren ist.

Folgendes ist zu beachten:

4.1 Die Beteiligten müssen zu einer abschließenden Regelung befugt sein.

4.1.1 Auf Seiten der Steuerpflichtigen sind dies die Steuerpflichtigen selbst (§ 33 AO) und die in den §§ 34 und 35 AO genannten Personen. Bei Vertretung durch einen Bevollmächtigten (§ 80 Abs. 1 Satz 1 AO) muss eine entsprechende Vollmacht vorliegen. Eine uneingeschränkte Vollmacht gem. § 80 Abs. 1 Satz 2 AO umfasst auch die Befugnis zu einer tatsächlichen Verständigung.

4.1.2 Auf Seiten des Finanzamts muss ein für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständiger Amtsträger beteiligt sein. Das ist regelmäßig der Vorsteher, daneben der zuständige Sachgebietsleiter des Veranlagungsbereichs oder der für die Außenprüfung zuständige Sachgebietsleiter, wenn diese Stelle die Prüfungsfeststellungen selbst auswertet; unter Umständen kommt auch der Sachgebietsleiter der Rechtsbehelfsstelle in Betracht, soweit die Verständigung im Rahmen eines Rechtsbehelfsverfahrens getroffen wird (vgl. u. a. und sowie , BFH/NV 1994 S. 290).

War an einer Besprechung zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Finanzamt ein für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständiger Amtsträger nicht beteiligt, kommt eine wirksame tatsächliche Verständigung nicht zustande. Denn eine Vertretung kommt nicht in Betracht. Eine ohne Teilnahme eines entscheidungsbefugten Amtsträgers getroffene Vereinbarung kann auch nicht nachträglich genehmigt werden ().

Zur Notwendigkeit der Schriftform der Vereinbarung und deren Gestaltung vgl. unten Tnr. 4.3.

4.2 Eine tatsächliche Verständigung soll sich nach Möglichkeit nur auf einen einzelnen Sachverhalt beziehen. Sollen tatsächliche Verständigungen über mehrere Sachverhalte herbeigeführt werden, sind i. d. R. auch mehrere, voneinander unabhängige tatsächliche Verständigungen anzustreben. Im Hinblick auf den denkbaren Einwand des Wegfalls der Geschäftsgrundlage sollten „Paketlösungen” – d. h. Einzelregelungen, die in ihrem Bestand voneinander abhängig gemacht werden – nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn eine Klärung der offenen Sachverhaltsfragen nur auf diesem Wege erreicht werden kann.

4.3 Der Inhalt der tatsächlichen Verständigung ist in einfacher, aber beweissicherer Form unter Darstellung der Sachlage schriftlich festzuhalten und von den Beteiligten zu unterschreiben. In dieser Niederschrift sind die Beteiligten auf die Bindungswirkung der tatsächlichen Verständigung hinzuweisen. Ihnen ist eine Ausfertigung der Vereinbarung auszuhändigen.

Für die Erstellung einer Niederschrift steht in StarOffice im Bereich Abgabenordnung_OFD die Vorlage „Niederschrift_tatsaechliche_Verstaendigung” zur Verfügung.

4.4 „Absprachen” im Rahmen der Schlussbesprechung nach einer Außenprüfung erfüllen dann nicht die Voraussetzungen einer tatsächlichen Verständigung im eigentlichen Sinne, wenn keine erschwerte Sachverhaltsermittlung vorliegt. Gleichwohl kann es im Hinblick auf eine Beweisvorsorge sinnvoll sein festzuhalten, bei welchen Streitpunkten das Finanzamt im Interesse eines einvernehmlichen Abschlusses der Außenprüfung auf weitere Ermittlungen verzichtet hat. Ein entsprechender Vermerk sollte vom Steuerpflichtigen oder seinem Bevollmächtigten gegengezeichnet werden. So kann eine Verböserung angedroht werden, falls der Steuerpflichtige im Rechtsbehelfsverfahren die „Absprache” bestreitet und für ihn günstige Nachverhandlungen begehrt.

5 Rechtsfolgen

5.1 Mit dem Abschluss der tatsächlichen Verständigung sind die Beteiligten an die vereinbarte Tatsachenbehandlung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gebunden, wenn sie wirksam und unanfechtbar zustande gekommen ist. Insoweit ist das Rechtsschutzbedürfnis für einen Rechtsbehelf bzw. ein Rechtsmittel gegen die entsprechende Steuerfestsetzung entfallen. Die Bindungswirkung tritt bereits vor Erlass der darauf beruhenden Verwaltungsakte ein (, BStBl 1996 II S. 625).

5.2 Die Vereinbarung ist dem Verwaltungsakt zugrunde zu legen, für den die tatsächliche Verständigung bestimmt ist (Verwirklichung der tatsächlichen Verständigung). Ihre Bindungswirkung bleibt auch dann bestehen, wenn dieser Verwaltungsakt nach § 164 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder nach § 165 AO vorläufig ergangen ist. Wegen des Sachverhaltes, der Gegenstand einer tatsächlichen Verständigung ist, kann die Steuerfestsetzung nicht vorläufig nach § 165 AO durchgeführt werden. Insoweit sind Ungewissheiten beseitigt.

5.3 Eine Änderung des die tatsächliche Verständigung enthaltenden Verwaltungsakts lässt die Bindungswirkung der Vereinbarung grundsätzlich unberührt. Der geänderte Verwaltungsakt muss daher insoweit regelmäßig von denselben Tatumständen ausgehen.

5.4 Eine tatsächliche Verständigung zwischen einem Steuerpflichtigen und der für seine Besteuerung zuständigen Finanzbehörde, deren Gegenstand die Übernahme von Steuerschulden Dritter ist, bindet die für die Besteuerung der Begünstigten zuständigen Finanzbehörden nicht, wenn diese am Zustandekommen der tatsächlichen Verständigung nicht beteiligt waren (, BStBl 2004 II S. 975).

6 Aufhebung/Änderung der tatsächlichen Verständigung

6.1 Die Vereinbarung kann von den Beteiligten einvernehmlich aufgehoben oder geändert werden. Im Hinblick auf den Zweck einer tatsächlichen Verständigung sollte dies jedoch auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben.

6.2 Eine Aufhebung oder Änderung des Verwaltungsakts, dem die tatsächliche Verständigung zugrunde liegt, kommt nur dann in Betracht, wenn dies nach den verfahrensrechtlichen Bestimmungen zulässig ist.

7 Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung

7.1 Eine tatsächliche Verständigung kann unwirksam sein, wenn sie unter unzulässigem Druck auf den Steuerpflichtigen oder durch dessen unzulässige Beeinflussung zustande gekommen ist. Eine unzulässige Beeinflussung ist insbesondere dann anzunehmen, wenn für den Fall des Nichtabschlusses einer Vereinbarung mit Konsequenzen für ein anhängiges Steuerstrafverfahren gedroht wird. Andererseits kann eine Willenserklärung des Steuerpflichtigen, die zu einer tatsächlichen Verständigung mit dem Finanzamt geführt hat, nicht deshalb angefochten werden, weil die Erklärung nur aus Sorge vor weiteren lästigen Ermittlungen und unter dem Druck eines laufenden Steuerstrafverfahrens abgegeben worden ist (rechtskräftiges , EFG 1987 S. 439).

Deshalb kann von der Möglichkeit der tatsächlichen Verständigung auch bei Steuerfahndungsprüfungen bzw. nach Einleitung eines Steuerstrafverfahrens Gebrauch gemacht werden. In solchen Fällen empfiehlt sich die frühzeitige Einschaltung der Bußgeld- und Strafsachenstelle bzw. der Staatsanwaltschaft. Zumindest partielle Verständigungen können zu einer Reduzierung des Streitumfangs führen, ohne dem Strafverfahren den Boden zu entziehen.

7.2 Neben unzulässigem Einwirken auf den Steuerpflichtigen kommen als weitere Gründe für die Unwirksamkeit einer tatsächlichen Verständigung in Betracht:


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Scheingeschäft, § 117 BGB;
Anfechtung, §§ 119, 120, 123 BGB;
offener Einigungsmangel, § 154 BGB;
Vertretungsmängel, z. B. nach §§ 164 ff. BGB;
Wegfall der Geschäftsgrundlage, § 242 BGB;
offensichtlich unzutreffendes Ergebnis (vgl. o. a. BFH-Urteile vom 11.
Dezember 1984 und vom ).

7.3 Macht einer der Beteiligten geltend, die tatsächliche Verständigung sei unwirksam, so ist für ihre weitere Behandlung von Bedeutung, ob sie bereits in einem Verwaltungsakt verwirklicht worden ist oder nicht.

7.3.1 Die tatsächliche Verständigung ist noch nicht in einem Verwaltungsakt verwirklicht:

Macht der Steuerpflichtige die Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung geltend und folgt das Finanzamt diesem Vorbringen, so teilt es dem Steuerpflichtigen mit, dass die Vereinbarung als einvernehmlich aufgehoben anzusehen ist. Folgt das Finanzamt dem Vorbringen des Steuerpflichtigen nicht, d. h. bestreitet es die Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung, so teilt es dies dem Steuerpflichtigen mit und berücksichtigt es die Vereinbarung bei der nachfolgenden Steuerfestsetzung.

Will das Finanzamt Unwirksamkeitsgründe geltend machen, so teilt es diese dem Steuerpflichtigen mit und gibt ihm Gelegenheit zur Stellungnahme (Gewährung rechtlichen Gehörs). Kann der Steuerpflichtige das Finanzamt von der Wirksamkeit der tatsächlichen Verständigung überzeugen, findet sie Eingang in die nachfolgende Steuerfestsetzung; ansonsten bleibt sie unberücksichtigt.

7.3.2 Die tatsächliche Verständigung ist bereits in einem Verwaltungsakt verwirklicht:

Die Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung kann sich nur dann steuerlich auswirken, wenn die betreffende Steuerfestsetzung verfahrensrechtlich noch geändert werden kann (z. B. gem. §§ 164, 172, 177,. 367 Abs. 2 Satz 2 AO)

Die nach Bestandskraft des Verwaltungsakt festgestellte Unwirksamkeit der tatsächlichen Verständigung ist – für sich betrachtet – weder eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache i. S. des § 173 Abs. 1 AO noch ein rückwirkendes Ereignis i. S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Sie wirkt sich deshalb nicht unmittelbar auf die Steuerfestsetzung aus.

7.4 Nach Wegfall der tatsächlichen Verständigung (Abschnitt 6.1, 7.1 und 7.2) sind jedoch regelmäßig weitere Ermittlungen zur Feststellung der Besteuerungsgrundlagen erforderlich. Soweit hierbei erstmalig rechtserhebliche Tatsachen und/oder Beweismittel bekannt werden, kann dies bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen eine Änderung der Steuerfestsetzung gem. § 173 AO zur Folge haben.

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Fundstelle(n):
IAAAC-69487