BSG Urteil v. - B 8/9b SO 8/06 R

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: SGB X § 44

Instanzenzug: SG Aachen S 20 SO 26/06 vom

Gründe

I

Im Streit sind die nachträgliche Zahlung höherer Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (insgesamt in Höhe von jeweils 970,89 € für jeden Kläger) für die Zeit vom 1. Januar bis zum und die entsprechende rückwirkende Korrektur bestandskräftiger Bewilligungsbescheide über die monatlichen Leistungen.

Die 1985 geborenen Kläger sind schwerbehindert. Seit Februar 2004 beziehen sie Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, wobei der Beklagte im streitigen Zeitraum neben dem Regelsatz jeweils einen Mehrbedarf in Höhe von 46,92 € zu Grunde legte und das für die Kläger an einen Elternteil gezahlte Kindergeld (154 € monatlich für den Kläger zu 2 bzw 179 € monatlich für den Kläger zu 1) zunächst in Höhe von jeweils 154 €, ab in Höhe von jeweils 169,63 € (Durchschnittsbetrag des gesamten für die Kläger und weitere Kinder gezahlten Kindergelds) als Einkommen der Kläger bei der Berechnung der Leistung berücksichtigte (bestandskräftige Bescheide vom , und ). Die Anträge der Kläger vom auf Korrektur dieser Bescheide und Zahlung höherer Leistungen für den streitigen Zeitraum lehnte der Beklagte ab (zwei Bescheide vom ; zwei Widerspruchsbescheide vom ).

Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten nach Verbindung der beiden Klagen "unter Aufhebung der Bescheide vom in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom verurteilt, den Klägern unter entsprechender Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom , und für die Zeit vom 1.1. bis weitere Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung in Höhe von jeweils 970,89 €, zusammen 1941,78 € zu zahlen" (Urteil vom ). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt, das gezahlte Kindergeld sei kein Einkommen der Kläger, sondern des Elternteils, an den es ausgezahlt worden sei. Der Anspruch auf Korrektur der bestandskräftigen Bescheide ergebe sich aus § 44 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X). Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zur Nichtanwendbarkeit des § 44 SGB X im Sozialhilferecht sei auf das Recht der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht übertragbar.

Mit der Sprungrevision rügt der Beklagte, der Entscheidung des SG ständen der Grundsatz "Keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" und die Rechtsprechung des BVerwG zur Nichtanwendbarkeit des § 44 SGB X im Sozialhilferecht entgegen, die auch für das Recht der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gelten müsse. Hierfür spreche, dass das Grundsicherungsgesetz (GSiG) in das Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) inkorporiert worden sei, wodurch die Nähe der dort geregelten Leistungen zu den Leistungen der Sozialhilfe unterstrichen werde. Bei den Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung handele es sich nicht um eine rentengleiche Dauerleistung, sondern wie bei der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII um fürsorgeähnliche, steuerfinanzierte, bedürftigkeitsorientierte und am sozialhilferechtlichen Bedarfsdeckungsprinzip ausgerichtete Leistungen. Sie unterschieden sich von der Hilfe zum Lebensunterhalt lediglich insoweit, als durch die eingeschränkte Rückgriffsmöglichkeit auf Eltern und Kinder vor allem die so genannte "verschämte (Alters-)Armut" verhindert werden solle, um eine würdige und unabhängige Existenz zu ermöglichen. Auch wenn es sich bei dem Bewilligungsbescheid über Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung um einen Dauerverwaltungsakt handele, liege der Leistung das für das strukturelle Verständnis von Sozialhilfeleistungen maßgebende Monatsprinzip zu Grunde. Leistungen seien daher nicht rückwirkend zu erbringen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des SG aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie sind der Ansicht, die Entscheidung des SG sei nicht zu beanstanden.

II

Die Sprungrevision des Beklagten ist iS der Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Das SG ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass das an einen Elternteil ausgezahlte Kindergeld nicht Einkommen der Kläger ist; ob die die Zeit vom 1. Januar bis zum betreffenden Leistungsbescheide deshalb rechtswidrig sind, soweit sie den Klägern höhere als die bewilligten Leistungen versagen, und vom Beklagten nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X insoweit zurückzunehmen sind, kann jedoch nicht entschieden werden. Es fehlen ausreichende tatsächliche Feststellungen (§ 163 SGG) des SG, die es dem Senat ermöglichen, die Anspruchsvoraussetzungen für die Leistungen nach § 19 Abs 2 SGB XII iVm §§ 41 ff SGB XII und deren Höhe zu überprüfen.

Die Sprungrevision ist zulässig. Insbesondere ist das Formerfordernis des § 161 Abs 1 Satz 1 und 3 SGG (Vorlage der schriftlichen Zustimmungserklärung innerhalb der Revisionsfrist) gewahrt. Hierzu ist es ausreichend, dass der Revisionskläger die ihm per Telefax zugegangene Zustimmung des Gegners zur Einlegung der Sprungrevision innerhalb der Frist des § 161 Abs 1 Satz 2 SGG dem Senat im Original vorgelegt hat (vgl dazu BSGE 79, 235, 236 = BSG SozR 3-1500 § 161 Nr 10 S 19).

Die Zulässigkeit der Revision scheitert auch nicht daran, dass sie nicht von einem "Bediensteten" der Stadt D. , sondern des Kreises eingelegt und begründet worden ist. Dies verstößt nicht gegen § 166 SGG; für Behörden gilt der Vertretungszwang durch zugelassene Prozessbevollmächtigte nicht. Für sie handeln vielmehr ihre gesetzlichen Vertreter, Vorstände oder besonders Beauftragte (§ 71 Abs 3 SGG), und zwar ohne dass regelmäßig eine Vollmacht vorgelegt und die Beauftragung nachgeprüft werden muss ( -, DVBl 1993, 884 f). Nach § 71 Abs 3 SGG können nicht nur bei der Behörde selbst Beschäftigte beauftragt werden, sondern auch Personen, die eine gleiche Sachnähe zu den streitigen Rechtsfragen aufweisen wie diese Beschäftigten (BSG SozR 4-4200 § 20 Nr 1 S 3; BVerwGE 107, 156, 157); diesen Anforderungen genügt der beauftragte "Vertreter" des Kreises D. . Denn nach § 4 Abs 3 der Satzung über die Durchführung der Sozialhilfe nach dem SGB XII im Kreis D. vom hat sich der Landkreis in Sozialhilfeverfahren die Vertretung der Städte, die er zur Durchführung seiner eigenen Aufgaben herangezogen hat, vorbehalten (näher dazu im Folgenden).

Der Beklagte ist insoweit als Behörde der vom zuständigen Leistungsträger herangezogenen Stadt auch beteiligtenfähig iS von § 70 Nr 3 SGG. Nach dieser Vorschrift sind Behörden beteiligtenfähig, sofern das Landesrecht dies bestimmt (Behördenprinzip). Gemäß § 3 des Gesetzes zur Ausführung des SGG im Land Nordrhein-Westfalen (NRW) vom (Gesetz- und Verordnungsblatt <GVBl> NRW 541, zuletzt geändert durch Gesetz vom - GVBl NRW 678) sind Behörden fähig, an Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit beteiligt zu sein. Behörden iS des SGG sind solche Stellen, die durch organisationsrechtliche Rechtssätze gebildet, vom Wechsel ihrer Amtsinhaber unabhängig und nach der einschlägigen Zuständigkeitsregelung berufen sind, unter eigenem Namen für den Staat oder einen Träger öffentlicher Verwaltung Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrzunehmen (vgl nur: Waschull in Lehr- und Praxiskommentar SGB X <LPK-SGB X>, 2. Aufl 2007, § 11 RdNr 7 mwN; Bier in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, § 61 RdNr 8, 14. Ergänzungslieferung).

Behörde in diesem Sinne ist der Bürgermeister der Stadt D. als Organ und Behörde der Stadt, die vom zuständigen Leistungsträger zur Durchführung der Aufgabe herangezogen worden ist. Träger der Grundsicherung ist nach § 3 Abs 2 SGB XII (hier in der Normfassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das SGB vom - BGBl I 3022 ff ) iVm § 97 (hier in der Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das SGB) und § 98 SGB XII (hier idF des Verwaltungsvereinfachungsgesetzes vom - BGBl I 818 ff) zwar der Kreis D. ; dieser hat allerdings nach § 99 Abs 1 SGB XII iVm Art 1 § 3 Abs 1 des Gesetzes zur Anpassung des Landesrechts an das SGB XII vom (GVBl NRW 816) zur Durchführung der ihm als Sozialhilfeträger obliegenden Aufgaben die Stadt D. durch Satzung herangezogen (§ 1 Abs 1 der Satzung über die Durchführung der Sozialhilfe nach dem SGB XII im Kreis D. vom ), die in eigenem Namen entscheidet.

Gegenstand des Verfahrens sind die Bescheide des Beklagten vom in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom (§ 95 SGG), mit denen der Beklagte die Korrektur der die Zeit vom 1. Januar bis betreffenden bestandskräftigen Bescheide abgelehnt hat. Gegen diese Ablehnungsbescheide wehren sich die Kläger mit kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklagen nach § 54 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 4, § 56 SGG.

Die Begründetheit der Revision misst sich an § 44 Abs 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit ua zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Wie vom SG angenommen, findet § 44 SGB X vorliegend Anwendung. Nach § 37 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) erfasst das SGB X alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs (SGB), also auch das SGB XII, hier insbesondere die in §§ 41 ff SGB XII aufgenommenen Regelungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Aus den anderen Büchern des SGB ergibt sich nichts Abweichendes.

Nach der Grundnorm des § 1 Abs 1 Satz 1 SGB X gelten die Vorschriften des Ersten Kapitels (§§ 1 - 66 SGB X) grundsätzlich für die gesamte öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden, die nach dem SGB ausgeführt wird. Eine Ausnahme hiervon macht § 1 Abs 1 Satz 2 SGB X für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden der Länder, der Gemeinden und Gemeindeverbände, der sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts zur Ausführung der besonderen Teile des SGB, die nach dem Inkrafttreten des Ersten Kapitels des SGB X, am , Bestandteil des SGB werden. § 1 Abs 1 Satz 1 SGB X gilt dann nur unter der Voraussetzung, dass diese besonderen Teile mit Zustimmung des Bundesrates die Vorschriften des Ersten Kapitels des SGB X für anwendbar erklären.

Zwar handelt es sich bei dem Beklagten um eine Behörde iS des § 1 Abs 1 Satz 2 SGB X, und das SGB XII ist nach dem in Kraft getreten; jedoch wurde mit der Normierung des SGB XII nur die von § 68 SGB I vorgesehene Einordnung des zuvor geltenden Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) in das SGB vorgenommen, und das BSHG galt seinerseits nach § 68 Nr 11 SGB I bereits vor dem bis zu der Einordnung des Sozialhilferechts in das SGB als Bestandteil des SGB. Das BSHG gehörte mithin kraft Fiktion - mit all seinen späteren Änderungen und Ergänzungen - schon zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des SGB X zum Sozialhilferecht im formellen Sinne, sodass es für das SGB XII als Folgegesetz zum BSHG keines besonderen Anwendungsbefehls bezogen auf das SGB X bedurfte (ebenso: Waibel, ZFSH/SGB 2004, 647, 648 f; Roos in von Wulffen, SGB X, 5. Aufl 2005, § 1 RdNr 5). Hieran ändert auch die mit dem SGB XII erfolgte umfassende Reform des Sozialhilferechts nichts, weil diese (nur) eine Weiterentwicklung des Sozialhilferechts darstellt (BT-Drucks 15/1514 S 1). Die formelle Einordnung des BSHG in das SGB ließ seinen Charakter als Sozialhilferecht unberührt und hat nicht zur Folge, dass das SGB XII zu einem neuen Bestandteil "des SGB iS vom § 1 Abs 1 Satz 2 SGB X" wird (Waibel aaO).

Ein besonderer Anwendungsbefehl, bezogen auf die §§ 41 - 46 SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung), ist deshalb nicht zu fordern (soweit ersichtlich, allgemeine Meinung; vgl etwa: Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 44 RdNr 1; Brühl/Schoch in Lehr- und Praxiskommentar SGB XII <LPK-SGB XII>, 7. Aufl 2005, § 44 RdNr 1; Wenzel in Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 3. Aufl 2005, § 44 RdNr 11; Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 17. Aufl 2006, § 44 RdNr 4; Falterbaum in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 44 RdNr 9, Stand Juni 2006; Gröschel-Gundermann in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/Asylbewerberleistungsgesetz, § 44 SGB XII RdNr 7, Stand April 2005; Gebhardt in Beck'scher Online-Kommentar, § 44 SGB XII, Stand September 2007). Zwar waren diese Leistungen vor Inkrafttreten des SGB XII im GSiG geregelt, für das die Anwendbarkeit des Ersten Kapitels des SGB X umstritten ist (dagegen: Linhart/Adolph, NDV 2003, 137, Waibel, aaO, S 647, 649 ff, Zeitler in Mergler/Zink, BSHG, Stand März 2004, Einführung in das GSiG, S 2, ; dafür: Kunkel, ZFSH/SGB 2003, 323, 331, Bayerischer Verwaltungsgerichtshof <VGH>, Beschluss vom - 12 ZB 05.26 -, SG Darmstadt, Urteil vom - S 16 SO 127/06 -, SG Aachen, Urteile vom - S 20 SO 26/06 -, vom - S 19 SO 14/06 und S 19 SO 25/06 - und vom - S 19 SO 4/06; für eine analoge Anwendung des § 44 SGB X: OVG NRW, Beschluss vom - 12 A 3301/05). Das GSiG war jedoch materiell ohnedies dem Leistungsbereich der Sozialhilfe zuzuordnen (so bereits zur Frage der Rechtswegzuständigkeit BSG SozR 4-1500 § 51 Nr 1) und wegen der in ihm enthaltenen Verweise auf das BSHG mittelbar als sozialhilferechtliche Verwaltungsaufgabe anerkannt (s zur Anwendung des § 1 Abs 1 S 1 SGB X in diesen Fällen Waschull in LPK-SGB X, 2. Aufl 2007, § 1 RdNr 3 mwN zur Rspr des BSG). Mit der Einordnung des GSiG in das SGB XII hat der Gesetzgeber (unter Anpassung der Terminologie, weitgehender Harmonisierung der Leistungsvoraussetzungen und der Leistungshöhe, Zuordnung zum selben Träger sowie begrifflich-systematischer Fassung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung als Sozialhilfe in § 8 Nr 2 SGB XII und in § 28 Abs 1a SGB I iVm § 9 SGB I) die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nur noch ausdrücklich und formell der Sozialhilfe zugeordnet.

Die Zugunstenregelung des § 44 SGB X selbst ist für die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ebenfalls anwendbar. Die vom BVerwG als Folge des von ihm entwickelten sozialhilferechtlichen Prinzips "Keine Hilfe für die Vergangenheit" vertretene Auffassung, wonach § 44 SGB X grundsätzlich im Sozialhilferecht nicht anwendbar sei, rechtfertigt kein anderes Ergebnis, weil die Rechtsprechung des BVerwG auf einer vom SGB XII und der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung abweichenden gesetzlichen Struktur aufbaut.

Das SGB XII sieht - anders als noch das BSHG, aber ebenso wie das GSiG - die Hilfe zum Lebensunterhalt und die hier streitigen Leistungen nach §§ 41 ff SGB XII nicht mehr in Form differenzierter einmaliger Leistungen, sondern weitgehend in Form von Pauschalen vor (s § 42 SGB XII). So kennt § 31 SGB XII Einmalbedarfe (nur noch) für die Erstausstattung der Wohnung, die Erstausstattung für Bekleidung und die Erstausstattung bei Schwangerschaft und Geburt sowie für mehrtägige Klassenfahrten. Nach dem Willen des Gesetzgebers beinhaltet diese Vorschrift eine abschließende Aufzählung, während die übrigen Einmalbedarfe pauschaliert in dem Regelsatz enthalten sind (BT-Drucks 15/1514 S 52 und S 60 zu § 32). Der Empfänger der Leistung muss also einmalige Bedarfe für die Beschaffung von Bekleidung, Wäsche, Schuhe, Lernmittel, Gebrauchsgüter von längerer Gebrauchsdauer und höherem Anschaffungswert, Bedarfe für besondere Anlässe, wie Hochzeiten oder Beerdigungen, aus der laufenden Leistung nach dem SGB XII befriedigen, dh, er hat die ihm gewährte Leistung (auch) anzusparen, um sie dann im Bedarfsfall einsetzen zu können. Die Leistung dient mithin nicht allein der Befriedigung eines aktuellen, sondern auch eines zukünftigen und vergangenen Bedarfs, wobei der Eintritt bzw der Zeitpunkt des Eintritts dieses Bedarfs ungewiss ist (vgl: Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 40 RdNr 3 f; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, Einführung RdNr 191 f; Wagner in juris PraxisKommentar SGB II, 2. Aufl 2007, § 40 RdNr 23).

Die Leistungen nach §§ 41 ff SGB X unterscheiden sich zudem strukturell von den übrigen Leistungen der Sozialhilfe (Rothkegel/Krieger in Rothkegel, Sozialhilferecht, 2005, Teil IV Kap 6 RdNr 8). Sie werden nur auf Antrag gewährt (§ 18 Abs 1 iVm § 44 Abs 1 S 1 SGB XII); der Beginn des Bewilligungszeitraums wird dabei - auch bei Änderung der Verhältnisse - auf den Ersten des Monats fixiert (§ 44 Abs 1 S 2 SGB XII). Im übrigen Sozialhilferecht gilt demgegenüber der Kenntnisgrundsatz (§ 18 Abs 1 SGB XII; vgl zum früheren Recht § 5 BSHG), wonach die Sozialhilfe (erst) einsetzt, wenn dem Träger der Sozialhilfe (oder einer von ihm beauftragten Stelle) bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Gewährung vorliegen. Gerade aus diesem Prinzip aber hatte die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung eine "Existenzschwäche" (Rothkegel, aaO, Teil II Kap 5 RdNr 6) des Sozialhilfeanspruchs hergeleitet, wonach Sozialhilfe nicht rückwirkend erbracht werden könne (BVerwGE 99, 149, 156). Bei Leistungen nach §§ 41 ff SGB XII ist es im Hinblick auf den für die Gewährung erforderlichen Antrag ohnedies nicht zweifelhaft, ab wann diese zu erbringen sind (Rothkegel, aaO, RdNr 1). Der Beginn des Bewilligungszeitraums (ab dem Monatsersten) und dessen Dauer (in der Regel zwölf Monate; vgl § 44 Abs 1 S 1 SGB XII) zeigen, dass Leistungen nach §§ 41 ff SGB XII abweichend vom Gegenwärtigkeitsprinzip des BVerwG (wonach die Hilfebedürftigkeit eine gegenwärtige Mittellosigkeit voraussetzt) nicht beschränkt auf die Deckung des gegenwärtig Notwendigen, sondern - wenn auch für einen begrenzten Zeitraum - abhängig von einem nur prognostischen Bedarf für einen längeren Zeitraum bewilligt und erbracht werden (ebenso: Bayerischer 12 ZB 05.262; Rothkegel, aaO, Teil II Kap 5 RdNr 16).

Der Gesetzgeber hat bei den Leistungen nach den §§ 41 ff SGB XII sogar bewusst weitgehend auf einen Unterhaltsrückgriff gegenüber Kindern und Eltern verzichtet, der die aktuelle Notlage beseitigen würde und damit einen aktuellen Bedarf entfallen ließe (§ 43 Abs 2 SGB XII; BT-Drucks 14/5146 S 3). Die Beschränkung auf die Deckung eines aktuellen Bedarfs war hingegen für das BVerwG mitbestimmend für die Anerkennung des Prinzips "Keine Hilfe für die Vergangenheit". Ob der Grundsatz "Keine Hilfe für die Vergangenheit" als Strukturprinzip der Sozialhilfe nach wie vor im Bereich der Hilfe zum Lebensunterhalt Anwendung finden kann, erscheint nach dem oben Gesagten zweifelhaft. Dies gilt umso mehr, als selbst das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), das gegenüber dem SGB XII (nur) eingeschränkte Leistungen unter grundsätzlichem Verzicht auf Pauschalierungen vorsieht, in § 9 Abs 3 AsylbLG eine entsprechende Anwendung des § 44 SGB X ausdrücklich anordnet. Im Ergebnis kann dies jedoch dahinstehen; für Leistungen nach §§ 41 ff SGB XII ist § 44 SGB X jedenfalls anzuwenden (so auch Rothkegel/Krieger in Rothkegel, aaO, Teil IV Kap 6 RdNr 12).

Zwar hat der Beklagte zu Unrecht das Kindergeld als Einkommen der Kläger gewertet und bei diesen leistungsmindernd berücksichtigt. Ob allerdings die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 44 SGB X vorliegen, kann nicht abschließend beurteilt werden. Die für die Zeit vom 1. Januar bis ergangenen bestandskräftigen Bescheide des Beklagten beruhen auf der fehlerhaften Annahme, das an einen Elternteil der volljährigen Kläger ausgezahlte Kindergeld sei deren Einkommen. Das Kindergeld ist sozialhilferechtlich vielmehr grundsätzlich eine Einnahme dessen, an den es (als Leistungs- oder Abzweigungsberechtigten) ausgezahlt wird (BVerwG Buchholz 436.0 § 76 BSHG Nr 38; B 9b SO 5/06 R, B 9b SO 6/06 R, B 9b SO 6/05 R und B 9b SO 5/05 R; -, NJW 2005, 2873 f). Davon gehen nicht zuletzt auch inzident die von diesem Grundsatz abweichenden ausdrücklichen Zuordnungsregelungen des § 82 Abs 1 Satz 2 SGB XII und des § 11 Abs 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - aus (vgl dazu BSG SozR 4-4200 § 22 Nr 3 RdNr 25 und SozR 4-4200 § 20 Nr 3 RdNr 33 f).

Wem die Kindergeldzahlung als solche sozialhilferechtlich als Einkommen (§ 82 SGB XII) zuzurechnen ist, ist allerdings von der Frage zu unterscheiden, welche Auswirkungen eine "Weiterleitung" des Kindergeldes, das ggf nach § 19 Abs 2 SGB XII iVm § 41 Abs 2 SGB XII (jeweils idF des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das SGB vom , aaO) zu berücksichtigen ist, oder eines Teils davon auf die Einkommenssituation des Elternteiles bei dessen Bedürftigkeit (etwa unter dem Stichwort "Faktizitätsprinzip") bzw auf die Bedarfssituation des Kindes hat. Ausdrückliche Feststellungen zu einer Zahlung der Eltern in diesem Sinne bzw überhaupt von Zahlungen an die Kläger fehlen jedenfalls. In Höhe des Betrages, der von dem kindergeldberechtigten Elternteil an das Kind geleistet wird, verringert sich ggf dessen Bedarf und Leistungsanspruch wegen Berücksichtigung von eigenem Einkommen (vgl im Ergebnis aaO). Dies gilt selbst dann, wenn die Zahlung der Erfüllung eines Unterhaltsanspruchs dienen sollte, auf den der Leistungsberechtigte nach § 43 Abs 2 S 1 und 2 SGB XII (hier in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz vom bzw das Verwaltungsvereinfachungsgesetz vom erhalten hat) - wegen der Vermutung, dass das jährliche Gesamteinkommen der Eltern unter 100.000 € liegt - eigentlich nicht verwiesen werden darf (vgl: Adolph in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/Asylbewerberleistungsgesetz, § 43 SGB XII RdNr 21, Stand April 2005; Zeitler in Mergler/Zink, BSHG, Stand März 2004, § 2 GSiG RdNr 8; Brühl in LPK-SGB XII, 7. Aufl 2005, § 43 RdNr 8). Denn § 43 Abs 2 S 1 SGB XII verbietet ausdrücklich und nach Sinn und Zweck der Regelung nur den Rückgriff auf Eltern oder Kinder wegen bestehender Unterhaltsansprüche, nicht aber die grundsätzliche Berücksichtigung tatsächlicher Unterhaltszahlungen. Falls Zahlungen der Eltern an diese vorgenommen worden sein sollten, ist aber § 84 Abs 2 SGB XII zu beachten und zu berücksichtigen, ob bei den Klägern im Streitzeitraum im Rahmen der Grundsicherungsleistungen eine Bedarfsunterdeckung vorhanden war, weil das Kindergeld bei ihnen zu Unrecht leistungsmindernd berücksichtigt wurde, während die Eltern diesen Bedarf ggf nur vorübergehend aus ihrem Einkommen befriedigt haben (dazu aaO; vgl auch Schoch in Rothkegel, Sozialhilferecht, 2005, Teil III Kap 5 RdNr 61).

Ob eine Berücksichtigung von fiktivem Einkommen - hier des Kindergeldes wegen fehlender Realisierung einer Abzweigung - überhaupt zulässig ist, ist zweifelhaft; jedenfalls lässt sie sich nicht aus § 74 Abs 1 Satz 1 Einkommensteuergesetz (EStG) iVm § 2 Abs 1 SGB XII (Selbsthilfegrundsatz) herleiten. Danach kann das nach § 66 EStG für ein Kind festgesetzte Kindergeld an das Kind ausbezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Nach § 74 Abs 1 Satz 3 EStG kann eine Abzweigung an das Kind auch erfolgen, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Die Voraussetzungen für eine solche Abzweigung bedürfen keiner Prüfung (in den Urteilen des 9b-Senats vom , aaO, waren Unterhaltsansprüche abgelehnt worden). Auf ein in § 74 Abs 1 EStG vorausgesetztes Unterhaltsdefizit des Kindes kann es schon deshalb nicht ankommen, weil die Grundsicherungsleistungen nach den §§ 41 ff SGB XII vorliegend unabhängig von etwaigen Unterhaltsansprüchen erbracht werden (siehe oben). Wollte man die Kläger auf die Abzweigungsmöglichkeit des § 74 Abs 1 EStG verweisen, würde dies den Zielen der §§ 41 ff SGB XII widersprechen, die Eltern unter Anwendung der Vermutungsregelung des § 43 Abs 2 SGB XII von Unterhaltsleistungen freizustellen, weil dann Unterhaltspflichten doch zu prüfen wären. Gleiches gilt für die denkbare und näher liegende Berücksichtigung von Abzweigungsansprüchen der Kläger als zumutbar verwertbares Vermögen (statt als fiktives Einkommen).

Eine abschließende Entscheidung war dem Senat - abgesehen von der genauen Einkommens- und Vermögenssituation der Kläger - auch deshalb verwehrt, weil Feststellungen zur vollen Erwerbsminderung der Kläger nach § 41 Abs 1 Nr 2 SGB XII (hier idF des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das SGB) iVm § 43 Abs 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) sowie zur Höhe der Leistungsansprüche insgesamt (etwa § 42 SGB XII iVm § 30 SGB XII) fehlen. Hiervon ist aber abhängig, in welchem Umfang die bestandskräftigen Bescheide des Beklagten rechtswidrig und zurückzunehmen und in welcher Höhe danach ggf Grundsicherungsleistungen nachzuzahlen sind. Bei seiner Entscheidung wird das SG auch auf eine korrekte Tenorierung zu achten haben. Im Tenor ist genau zu bezeichnen, in welcher Höhe die Leistungsbewilligungen bezogen auf den jeweiligen Monat vom Beklagten abzuändern sind. Im Übrigen ist der Beklagte ab April 2005 nicht von den tatsächlichen Kindergeldleistungen für die Kläger (154 € und 179 €), sondern für beide Kläger von einem Betrag von 169,63 € ausgegangen, der wohl dem Mittelwert aus dem insgesamt gezahlten Kindergeld auch für weitere Kinder entspricht (vgl dazu nur: Brühl in LPK-SGB XII, § 83 RdNr 49; Lücking in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 82 RdNr 25). Schließlich wird das SG bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der bestandskräftigen Bescheide darauf zu achten haben, ob bzw inwieweit es sich bei diesen selbst bereits um Änderungsbescheide früherer Bescheide handelt, die ihrerseits an den §§ 45 ff SGB X zu messen sind. Das SG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Fundstelle(n):
MAAAC-69344