Verwertung nicht protokollierter Ausführungen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung; Bestimmung des Mittelpunktes der Lebensinteressen im abkommensrechtlichen Sinne
Gesetze: FGO § 94; FGO § 96; DBA-Ungarn Art. 4 Abs. 2
Instanzenzug:
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob bestimmte Einkünfte und Gewerbeerträge einer in Ungarn bestehenden Betriebsstätte im Sinne des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ungarischen Volksrepublik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen, Ertrag und Vermögen vom —DBA-Ungarn— (BGBl II 1979, 627) zuzurechnen sind.
Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sind Eheleute, die für die Streitjahre (1991 bis 1995) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Sie sind ungarische Staatsangehörige und im Jahr 1988 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. In den Streitjahren wohnten sie mit ihren zwei Kindern zunächst in einer angemieteten Wohnung in B und seit April 1994 in einem in R angemieteten Haus. Ihr Sohn besuchte seit Anfang 1994 ein Internat in der Schweiz, während die Tochter in B sowie später in R zur Schule ging. Im November 1995 erwarben die Kläger eine Eigentumswohnung in Ungarn; im März 1997 verzogen sie zunächst nach Großbritannien und später nach Ungarn.
Die Klägerin hatte zu Anfang der 90er Jahre einen Vertrag mit der X geschlossen, die Lebensmittel vertreibt. Der Vertrag berechtigte die Klägerin, für X als „Beraterin” tätig zu sein. Nach dem Vertriebskonzept der X erzielt ein „Berater” zum einen Gewinne aus der Veräußerung der X-Produkte an Endverbraucher; zum anderen erhält er Provisionen auf Umsätze, die von ihm angeworbene andere X-Berater („nachgeordnete Berater”) erzielen. Das Modell der X ist nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) so ausgestaltet, dass ein erfolgreicher Berater im Wesentlichen nicht an Gewinnen von selbst getätigten Umsätzen, sondern auf die Vereinnahmung von Provisionen aus Geschäften „nachgeordneter Berater” interessiert ist.
Vor diesem Hintergrund beabsichtigte die Klägerin seit 1992, ihre Tätigkeit für X auf den ungarischen Markt auszudehnen und in Ungarn X-Berater anzuwerben. Dazu bedurfte es einer lebensmittelrechtlichen Zulassung der X-Produkte in Ungarn. Da solche Zulassungen nur an ungarische Personen vergeben wurden, gründeten die Kläger im April 1992 in Ungarn eine Kapitalgesellschaft, die V. Diese erhielt in der Folge die notwendige Zulassung und war nach dem Vortrag der Kläger allein berechtigt, die nach Ungarn eingeführten X-Produkte mit den für den Verkauf notwendigen neuen Etiketten zu versehen.
X akzeptiert indessen nur natürliche Personen als „Berater” und gibt ihre Produkte nicht an Kapitalgesellschaften ab. Da V deshalb nicht als von der Klägerin angeworbene Beraterin auftreten konnte, wurden im Verhältnis zu X alle in Ungarn angeworbenen Berater als von der Klägerin angeworben behandelt. Auf dieser Basis gestaltete sich der Vertrieb der X-Produkte in Ungarn wie folgt: Die Bestellungen der dortigen nachgeordneten Berater wurden bei V gesammelt, die sie sodann an X weiterleitete und einen Spediteur oder Fahrer mit der Abholung der Waren bei X in Deutschland beauftragte. Die Abholperson erhielt einen von V ausgestellten Scheck, mit dem die abzuholende Ware bezahlt wurde; ebenso wandte sich X bei auftretenden Problemen per Telefax an V, wobei nach den Feststellungen des FG ihre tatsächliche Ansprechpartnerin wohl die Klägerin war. Zum Zweck der Ausfuhr der Produkte nach Ungarn stellten die Kläger jeweils Ausfuhrpapiere aus, die sie selbst unter ihrer deutschen Anschrift als Absender und V als Empfänger auswiesen; die Ware wurde sodann nach Ungarn verbracht, anschließend dort umetikettiert und schließlich an die dortigen „nachgeordneten Berater” verteilt. Im Jahr 1994 veräußerte die Klägerin ihren Vertrag mit X an die Y-Ltd., die dafür ab Oktober 1994 monatlich 15 000 DM entrichtete.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) besteuerte die Kläger für die Streitjahre zunächst erklärungsgemäß, wobei er die Einkommensteuer jeweils auf 0 DM festsetzte und für die Stichtage bis zum verbleibende Verlustabzüge feststellte. Im Anschluss an eine Außenprüfung bei X erhielt er jedoch Kenntnis davon, dass die Klägerin bislang nicht erklärte Provisionsgutschriften erhalten hatte. Daraufhin fand bei den Klägern ebenfalls eine Betriebsprüfung statt, in deren Gefolge die zuvor ergangenen Steuerbescheide geändert wurden. In den Änderungsbescheiden berücksichtigte das FA sowohl die zusätzlichen Provisionszahlungen der X als auch die Zahlungen der Y-Ltd. als steuerpflichtige Einnahmen der Klägerin. Die gegen diese Bescheide gerichtete Klage hat das FG abgewiesen, ohne die Revision gegen sein Urteil zuzulassen.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde machen die Kläger geltend, dass die Revision nach § 115 Abs. 2 Nrn. 1, 2 und 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zuzulassen sei.
Das FA ist der Nichtzulassungsbeschwerde entgegengetreten.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Die von den Klägern geltend gemachten Gründe für eine Zulassung der Revision liegen im Streitfall nicht vor.
1. Die Kläger rügen als Verfahrensmangel, dass das FG gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen habe. Es sei ausweislich des angefochtenen Urteils davon ausgegangen, dass die Klägerin in Ungarn nur für V tätig geworden sei und daneben keine ihr selbst zuzurechnende (Konkurrenz-)Tätigkeit ausgeübt habe. Dies widerspreche dem klaren Inhalt der Akten, da die Klägerseite stets vorgetragen habe, dass die Tätigkeit der V sich auf den körperlichen Import von Waren nach Ungarn beschränkt habe; hingegen sei nicht V, sondern nur die Klägerin selbst berechtigt gewesen, in Ungarn „nachgeordnete Berater” anzuwerben und die daraus erwachsenden Provisionen in Anspruch zu nehmen. Zudem widerspreche das FG sich selbst, wenn es an anderer Stelle ausführe, dass die Klägerin in den von V angemieteten Räumen „ihre X-Tätigkeit ausgeübt” habe und insoweit in den ungarischen Räumlichkeiten „geduldet” worden sei. Dieser Vortrag kann der Nichtzulassungsbeschwerde nicht zum Erfolg verhelfen.
a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das FG ist hiernach insbesondere verpflichtet, den Vortrag der Verfahrensbeteiligten vollständig zur Kenntnis zu nehmen und bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs —BFH— vom VIII B 251/05, BFH/NV 2007, 1521; vom VIII B 113/05, BFH/NV 2006, 803, m.w.N.). Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung ist ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (, BFH/NV 2007, 486, m.w.N.).
Zu dem hiernach zu verwertenden Verfahrensergebnis gehört nicht nur der Inhalt der dem FG vorliegenden Akten. Vielmehr zählt dazu auch der Vortrag der Beteiligten in einer mündlichen Verhandlung vor dem FG. Diesen kann und muss das FG in seine Überlegungen einbeziehen, und zwar unabhängig davon, ob er in die Sitzungsniederschrift aufgenommen wurde oder nicht. Denn das Sitzungsprotokoll entfaltet zwar nach § 94 FGO i.V.m. § 165 der Zivilprozessordnung (ZPO) sowie gemäß § 415 ZPO eine erhöhte Beweiskraft (vgl. dazu Stöcker in Beermann/Gosch, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 94 FGO Rz 2 f.). Das Gebot der Protokollierung erfasst aber nur den äußeren Hergang des Verfahrens, nicht jedoch die vom FG zu treffenden tatsächlichen Feststellungen (, BFH/NV 1997, 510), zu deren Bereich u.a. die Wahrnehmung des Beteiligtenvortrags gehört. Daraus folgt, dass auch die nicht protokollierten Äußerungen der Beteiligten vom FG verwertet werden dürfen.
b) Im Streitfall hat das FG die von den Klägern beanstandete Sachverhaltswürdigung darauf gestützt, dass die sachkundig vertretenen Kläger in einer mündlichen Verhandlung vom erklärt haben, die Klägerin habe in den Streitjahren in Ungarn ihre Tätigkeit für V ausüben wollen. Es hat daraus sowie aus ihm vorgelegten Unterlagen geschlossen, dass die Klägerin in den Räumen der V nicht zusätzlich eine eigene, von ihrer Tätigkeit für V zu unterscheidende Geschäftstätigkeit entfaltet habe. Dabei hat es den schriftsätzlichen Vortrag der Kläger zur Trennung der Aufgabenbereiche der Klägerin einerseits und der V andererseits berücksichtigt, was sich daran zeigt, dass dieser Vortrag im Tatbestand des angefochtenen Urteils erwähnt ist (vgl. dazu Senatsbeschluss vom I B 195/04, BFH/NV 2006, 72, m.w.N.). Schließlich hat das FG im Rahmen einer Entscheidung über einen Antrag der Kläger auf Berichtigung des Urteilstatbestands die genannte Würdigung ausdrücklich bestätigt und dazu ergänzend bemerkt, die Ausführungen der Kläger in einer weiteren mündlichen Verhandlung machten „die Aufnahme des ausdrücklichen Hinweises des Bevollmächtigten aus der Sitzung vom nicht unzutreffend” ( S. 2). Angesichts dessen beruht sein Urteil in diesem Punkt auf der Verwertung des erstinstanzlichen Streitstoffs; das FG hat weder ein tatsächlich nicht vorhandenes Vorbringen unterstellt noch den erstinstanzlichen Vortrag der Kläger vollständig oder teilweise nicht berücksichtigt. Damit ist den Anforderungen des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO genügt. Wie die Würdigung des Sachverhalts durch das FG inhaltlich zu bewerten ist, muss im Streitfall offenbleiben; selbst wenn sie gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen würde, könnte darauf keine Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensmangels gestützt werden (Senatsbeschluss in BFH/NV 2006, 72; Ruban in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 83, m.w.N.).
c) Die Kläger weisen allerdings zu Recht darauf hin, dass die Ausführungen des FG zum Fehlen einer der Klägerin persönlich zuzurechnenden Tätigkeit in Ungarn nicht vollends mit der im Urteil enthaltenen Aussage harmonieren, die Klägerin sei im Zusammenhang mit ihrer „X-Tätigkeit betreffend ihre ungarische Downline” in den ungarischen Wohnungen „lediglich geduldet” worden. Die letztgenannte Wendung könnte nämlich bei isolierter Betrachtung den Schluss nahelegen, dass nach der Überzeugung des FG die Klägerin in jenen Wohnungen sowohl in ihrer Eigenschaft als Geschäftsführerin der V als auch im eigenen Namen tätig geworden ist. Jedoch hat das FG das Vorliegen einer Betriebsstätte der Klägerin in Ungarn letztlich mit der eindeutigen Formulierung verneint, dass die Klägerin „ihre Tätigkeit durch V ausüben wollte” und dass „Hinweise für eine (Konkurrenz-)Tätigkeit der Klägerin persönlich in den Räumen des V…nicht ersichtlich” seien; das schließt die Annahme aus, dass es —dem Vortrag der Kläger entsprechend— von einem Tätigwerden der Klägerin im Rahmen ihres Einzelunternehmens ausgegangen ist. Soweit die dieser Feststellung vorausgehenden Passagen des angefochtenen Urteils dazu im Widerspruch stehen sollten, könnte daraus ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO nur dann abgeleitet werden, wenn der Gedankengang des FG insgesamt nicht nachvollziehbar wäre (vgl. dazu Senatsbeschluss vom I B 47/05, BFH/NV 2007, 831, 833, m.w.N.); das ist aber weder von den Klägern geltend gemacht worden noch tatsächlich der Fall.
2. Eine Revisionszulassung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO halten die Kläger deshalb für geboten, weil das angefochtene Urteil von der Rechtsprechung des Senats zur Bestimmung des „Mittelpunkts der Lebensinteressen” im abkommensrechtlichen Sinne (Senatsurteil vom I R 24/89, BFHE 163, 411, BStBl II 1991, 562) abweiche. Eine solche Abweichung liegt indessen nicht vor.
Die Kläger machen insoweit geltend, nach der genannten Entscheidung des Senats sei im Zusammenhang mit der Bestimmung des „Mittelpunkts der Lebensinteressen” bei der Abwägung der persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen ein zeitliches Moment zu berücksichtigen. Die Entscheidung enthalte dazu den Rechtssatz, „dass, wenn ein Steuerpflichtiger in beiden Vertragsstaaten über persönliche und wirtschaftliche Beziehungen verfügt und diese in einem Vertragsstaat nur gegenwärtig, d.h. vorübergehender Art sind, der Mittelpunkt der Lebensinteressen im anderen Vertragsstaat liegt”. Es erscheint schon zweifelhaft, ob dem von den Klägern bezeichneten Urteil dieser Rechtssatz entnommen werden kann; immerhin heißt es dort ausdrücklich, es bleibe unentschieden, ob generell „den persönlichen Beziehungen der Vorrang vor den wirtschaftlichen einzuräumen ist” (Senatsurteil in BFHE 163, 411, BStBl II 2001, 562, 563). Selbst wenn aber in diesem Punkt den Klägern zu folgen wäre, läge eine zur Revisionszulassung führende Divergenz im Streitfall deshalb nicht vor, weil das angefochtene Urteil nicht auf einem abweichenden Rechtssatz beruht.
Das FG ist von der von den Klägern bezeichneten Senatsentscheidung ausgegangen und hat auf dieser Basis ausgeführt, dass „Mittelpunkt der Lebensinteressen” das Gebiet sei, zu dem die betroffene Person die engeren persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen habe. Dabei sei den persönlichen Beziehungen zwar nicht allgemein der Vorrang vor den wirtschaftlichen einzuräumen; jedoch habe der BFH ausdrücklich ihre besondere Bedeutung betont. Sodann hat das FG den Streitfall dahin gewürdigt, dass die Klägerin in persönlicher Hinsicht stärker nach Deutschland als nach Ungarn orientiert gewesen sei, da sie hier ihre schulpflichtige Tochter betreut habe; dieser Umstand führe im Zusammenhang mit ihren ebenfalls bestehenden wirtschaftlichen Beziehungen dazu, dass der Lebensmittelpunkt der Klägerin im Inland gelegen habe. Entgegen dem Vortrag der Kläger hat das FG mithin nicht den Rechtssatz aufgestellt, dass bei der Abwägung der persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen ein zeitliches Moment nicht zu berücksichtigen sei; dazu hatte es zudem keine Veranlassung, da es nicht festgestellt hat, dass nach den Verhältnissen der Streitjahre mit einem Auslaufen der Beziehungen der Klägerin zum Inland zu rechnen war. Vielmehr beruht seine Entscheidung insoweit auf der Annahme, dass die persönliche Bindung der Klägerin zum Inland im Verein mit ihren hier weiterhin bestehenden wirtschaftlichen Interessen bei einer Gesamtschau der Verhältnisse gewichtiger sei als die ausschließlich im wirtschaftlichen Bereich anzusiedelnden Beziehungen der Klägerin zu Ungarn. Diese Annahme ist mit den vom Senat aufgestellten Rechtsgrundsätzen vereinbar; ob sie in tatsächlicher Hinsicht zutrifft, kann im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht geprüft werden.
3. Für grundsätzlich bedeutsam (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) erachten die Kläger die Frage, ob der alleinige Gesellschafter und Geschäftsführer einer Kapitalgesellschaft in von jener Gesellschaft angemieteten Räumen eine ihm selbst zuzurechnende Betriebsstätte i.S. des Art. 5 DBA-Ungarn begründet, wenn er die Räume zur Ausübung einer eigenen unternehmerischen Tätigkeit mitbenutzt. Diese Frage ist indessen im Streitfall nicht klärungsfähig. Sie könnte nur dann entscheidungserheblich sein, wenn die Klägerin die von V in Ungarn angemieteten Räume nicht nur in ihrer Eigenschaft als Geschäftsführerin der V, sondern auch im Rahmen einer ihr persönlich zuzurechnenden Geschäftstätigkeit genutzt hätte. Das aber hat das FG mit bindender Wirkung verneint. Auf weitere Ausführungen zu diesem Punkt verzichtet der Senat, da solche nicht geeignet wären, zur Klärung der Voraussetzungen für eine Revisionszulassung beizutragen (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).
Fundstelle(n):
JAAAC-66205