Leitsatz
Behauptet die Behörde eine dem Prozessgegner nachteilige Verwaltungspraxis, die nicht Gegenstand dessen eigener Wahrnehmung gewesen ist, darf das Verwaltungsgericht diese Behauptung jedenfalls dann nicht ungeprüft zur Grundlage seiner Entscheidung machen, wenn der Prozessgegner die Verwaltungspraxis anzweifelt und dafür nachvollziehbare Gründe benennt.
Gesetze: VwGO § 86 Abs. 1; VwGO § 108 Abs. 2
Instanzenzug: VG Dresden VG 1 K 3761/99 vom OVG Bautzen OVG 3 B 782/05 vom Fachpresse: ja BVerwGE: nein
Gründe
Der Kläger begehrt Fördermittel nach dem "Programm zur Förderung einer umweltgerechten Landwirtschaft", Kulturlandschaftsprogramm Teil I (KULAP I), des beklagten Freistaats für das Förderjahr 1997. Im Förderantrag hat er mehrere Flurstücke als Förderfläche benannt, hinsichtlich einiger von ihm gepachteter Flächen jedoch hinzugefügt, dass der Verpächter das Pachtverhältnis fristlos gekündigt habe und dass über die Berechtigung der Kündigung ein Zivilrechtsstreit anhängig sei; die Flächen würden unverändert von ihm bewirtschaftet. Der Beklagte lehnte den Förderantrag ab, weil der Kläger den Nachweis seiner Nutzungsberechtigung hinsichtlich einiger Flurstücke nicht geführt habe und deshalb insgesamt keine Förderung beanspruchen könne. Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben, soweit der Beklagte die Förderung auch der nachgewiesenen Flächen abgelehnt hatte, sie im Übrigen aber abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung des Beklagten teilweise stattgegeben; die Anschlussberufung des Klägers hat es zurückgewiesen. Es hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde greift der Kläger das Berufungsurteil nur an, soweit seine Anschlussberufung hinsichtlich der Flurstücke lfd. Nr. ..., ... und ... (... der Gemarkung D.) zurückgewiesen worden ist (Seite 5 der Beschwerdebegründung). Diese Rechtsmittelbeschränkung ist zulässig, weil der Streitgegenstand nach Flurstücken teilbar ist.
Die Beschwerde ist begründet; sie führt in dem angegebenen Umfang zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), nämlich auf einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) und auf einer Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO). Ob das Urteil obendrein auf einer Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes beruht (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), muss offen bleiben; denn darauf wird die Beschwerde nicht gestützt.
1. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs wird verletzt, wenn ein Gericht tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten, obwohl es für seine Entscheidung erheblich ist, nicht zur Kenntnis nimmt oder bei seiner Entscheidung nicht in Erwägung zieht (stRspr; vgl. BVerwG 9 B 6.06 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 66 Rn. 24 m.w.N.). Hiernach ist es auch fehlerhaft, wenn das Gericht tatsächliches Vorbringen zwar zur Kenntnis nimmt, aber bei seiner Entscheidung aus Gründen unberücksichtigt lässt, die im Prozessrecht keine Stütze finden. So liegt der Fall hier.
Das Berufungsgericht hat angenommen, der mit der Klage geltend gemachte Förderanspruch lasse sich nur aus dem rechtlichen Gesichtspunkt einer Selbstbindung des Beklagten an seine ständige bisherige Förderpraxis herleiten. Es hat den Klaganspruch in dem hier noch streitbefangenen Umfang mit der Begründung abgewiesen, der Beklagte habe dargetan, dass eine Förderung im Falle der "Übernutzung", d.h. der gleichzeitigen Vorlage einander widersprechender Förderanträge mehrerer Anspruchsteller für dasselbe Flurstück, nach seiner ständigen Praxis nur erfolge, wenn die alleinige Nutzungsberechtigung und tatsächliche Nutzung durch einen Antragsteller bis zum Bewilligungszeitpunkt des jeweiligen Förderjahres, den es mit dem allgemeinen Auszahlungstermin jeweils am 18. November gleichgesetzt hat, nachgewiesen sei; ein späterer Nachweis genüge nicht, die Versäumung der Nachweisfrist führe also zum Anspruchsverlust. Das Bestehen einer derartigen Verwaltungspraxis konnte das Berufungsgericht nicht schon den einschlägigen Verwaltungsvorschriften des Beklagten entnehmen; weder das "Programm zur Förderung einer umweltgerechten Landwirtschaft in Sachsen" - Richtlinie für die Förderung von Maßnahmen der Kulturlandschaft (Kulturlandschaftsprogramm Teil I - KULAP I) - des Sächsischen Staatsministeriums für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, in Kraft seit dem , noch die Allgemeinen Verfahrensbestimmungen hierzu (VbUL) oder die Verwaltungsvorschrift zur Kontrolle der Einhaltung dieser Richtlinie, die beiden letztgenannten in der Fassung vom , sehen eine Nachweisfrist und einen Anspruchsverlust bei nicht fristgerechtem Nachweis vor. Das Berufungsgericht stützt seine Feststellung deshalb allein auf die Darstellungen der Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung.
Dabei hat das Berufungsgericht das Vorbringen des Klägers, der die Richtigkeit der Darstellungen der Vertreterin des Beklagten bestritten hatte, aus Gründen übergangen, die im Prozessrecht keine Stütze finden. Das Berufungsgericht hat das Bestreiten des Klägers zwar zur Kenntnis genommen, jedoch unberücksichtigt gelassen, weil es lediglich "pauschal" und "mit Nichtwissen" erfolgt sei. Das war nicht prozessordnungsgemäß. Zwar ergibt sich dies entgegen der Ansicht des Klägers nicht bereits aus § 138 Abs. 4 ZPO, wonach eine Erklärung mit Nichtwissen nur - aber immerhin - über Tatsachen zulässig ist, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen sind. § 138 Abs. 4 ZPO findet im Verwaltungsprozess wegen der gerichtlichen Amtsermittlungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO keine Anwendung ( BVerwG 7 C 2.01 - Buchholz 428 § 6 VermG Nr. 45 S. 58; BVerwG 6 BN 9.02 - GewArch 2003, 262). Dies bedeutet aber nicht, dass das Bestreiten einer gegnerischen Behauptung "mit Nichtwissen" im Verwaltungsprozess unbeachtlich oder nur dann beachtlich wäre, wenn es mit einem Beweisantrag für das Gegenteil verbunden wird. Gerade wenn tatsächliche Umstände aus dem Bereich des Gegners in Rede stehen, kann ein Beteiligter auch im Verwaltungsprozess verlangen, dass das Gericht seine Entscheidung nicht ohne eigene Überprüfung auf die Darstellung des gegnerischen Prozessvertreters im Termin stützt. In solchen Fällen ist dem Beteiligten mangels eigener Kenntnis die bestimmte Behauptung des Gegenteils oder ein Beweisantritt für das Gegenteil gar nicht möglich. Allerdings kann das Gericht verlangen, dass der Kläger sein Bestreiten substantiiert, also Gründe für seine Zweifel anführt. Das ist hier aber geschehen. Der Kläger hatte dargelegt, dass der Beklagte in seinem eigenen Verwaltungsverfahren offenbar anders als nunmehr behauptet verfahren war. Er hatte als Beleg das Schreiben des Beklagten vom vorgelegt, in welchem dieser ihm eine erneute Prüfung seines Förderantrags nach der endgültigen Entscheidung eines Zivilrechtsstreits mit einem Dritten, in welchem über die Nutzungsberechtigung gestritten wurde, in Aussicht gestellt hatte. Dieses Schreiben war in Antwort auf eine Anfrage des Klägers ergangen, die zweifelsfrei das laufende Förderjahr 1997 betraf. Angesichts dessen hat der Kläger sein Bestreiten so weit substantiiert, wie es ihm überhaupt möglich war. Dann aber durfte das Berufungsgericht sein Vorbringen nicht als unsubstantiiert ansehen und übergehen.
2. Das Berufungsgericht hat zugleich seine Pflicht verletzt, den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 86 Abs. 1 VwGO). Sind keine Beweisanträge gestellt, so bestimmt das Gericht den Umfang seiner Aufklärung zwar nach seinem pflichtgemäßen Ermessen. Es überschreitet die Grenzen dieses Ermessens jedoch, wenn es eine Ermittlung unterlässt, die sich nach den Umständen des Falles - auch nach dem Vorbringen der Beteiligten - aufdrängen musste (stRspr; vgl. BVerwG 8 B 57.03 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 330 m.w.N.). Im vorliegenden Falle musste sich dem Berufungsgericht aufdrängen, die Darstellung der Prozessvertreterin des Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung - auch auf mögliche Missverständnisse hin - zu überprüfen. Denn es bestanden erhebliche Zweifel, ob diese Darstellung zutreffend war und ob das Gericht sie richtig verstanden hatte.
Das Berufungsgericht hat der Darlegung der Prozessvertreterin des Beklagten die Behauptung einer Verwaltungspraxis entnommen, derzufolge einem Antragsteller eine bestimmte Nachweisfrist gesetzt sei, verbunden mit einem Anspruchsverlust bei Fristversäumnis, also einer sog. materiellen Präklusion. Dieses Verständnis begegnet jedoch Bedenken, schon weil eine derart einschneidende Wirkung der Versäumung einer Verfahrensfrist - zumal aus Gründen, auf die der Antragsteller wie hier keinen Einfluss hat - kaum zu rechtfertigen sein dürfte. Näher hätte gelegen, der Darlegung der Beklagtenvertreterin lediglich zu entnehmen, dass bei Nichtvorlage der geforderten Nachweise bis zu dem vorgesehenen Entscheidungstermin nicht weiter zugewartet, sondern der Antrag abgelehnt werde, dass aber ein nachträglicher Nachweis in einem Rechtsbehelfsverfahren unbenommen sei, also eine sog. formelle Präklusion. Das Berufungsgericht hätte deshalb nur nach sorgsamer Prüfung annehmen dürfen, dass der Beklagte in seiner Verwaltungspraxis von der Geltung einer materiellen Präklusion ausgeht.
Zweifel hieran mussten sich dem Berufungsgericht umso mehr aufdrängen, als der Beklagte jedenfalls im Verwaltungsverfahren des Klägers selbst keine materielle Präklusion behauptet hatte. Wie erwähnt, war der Beklagte vielmehr im Schreiben vom von der Möglichkeit einer nachträglichen Bewilligung bei nachträglichem Nachweis ausgegangen. Auch in seinem Widerspruchsbescheid vom hatte er nicht darauf abgestellt, dass der Kläger seine Nutzungsberechtigung hinsichtlich der hier in Rede stehenden Grundstücke nicht fristgerecht nachgewiesen habe; das blieb vielmehr offen. Schließlich und vor allem mussten sich Zweifel vor allem deshalb aufdrängen, weil sich für eine materielle Präklusion keinerlei Stütze in den einschlägigen Verwaltungsvorschriften findet.
3. Das angefochtene Urteil beruht in dem hier noch umstrittenen Teil auf dem Verfahrensfehler. Hätte sich die behauptete Verwaltungspraxis nicht erweisen lassen, so kam ein Erfolg der Anschlussberufung in Betracht. Dies liegt schon deshalb nahe, weil der Beklagte dem Kläger für die hier in Rede stehenden Flurstücke im nachfolgenden Förderjahr die erneut begehrte Förderung bewilligt hat, nachdem dieser seinen Zivilrechtsstreit mit dem Verpächter zwischenzeitlich gewonnen hatte.
Die Kostenentscheidung ist der Schlussentscheidung vorzubehalten. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG und geht von einer Antragsfläche von 86,3 ha (Berufungsurteil S. 14 oben) und einem Fördersatz von 570 DM aus.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
NJW 2008 S. 1465 Nr. 20
RAAAC-66049