BVerfG Urteil v. - 2 BvR 1613/07

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 103 Abs. 1

Instanzenzug: VG Koblenz 5 L 1305/07 .KO vom VG Koblenz 5 K 282/07 .KO vom

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anforderungen, die an die Abweisung einer Verpflichtungsklage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG als offensichtlich unbegründet zu stellen sind.

1. Der Beschwerdeführer ist ein 37 Jahre alter algerischer Staatsangehöriger. Er reiste 2002 in das Bundesgebiet ein und führte unter Berufung auf politische Verfolgung erfolglos ein Asylverfahren durch. Er gab unter anderem an, zunächst aus dem Staatsdienst entlassen worden zu sein. Als er mit anderen für seine Wiedereinstellung demonstriert habe, sei er verhaftet worden. In der Haft sei er misshandelt worden. Seine Klage wurde durch das Verwaltungsgericht als offensichtlich unbegründet abgewiesen; den Vortrag des Beschwerdeführers sah es nicht als glaubhaft an.

2. Ein erster Asylfolgeantrag blieb im Jahr 2003 erfolglos. Eine Klage gegen den ablehnenden Bescheid wurde erneut als offensichtlich unbegründet abgewiesen. Der Asylfolgeantrag war im Wesentlichen auf ein psychologisches Gutachten gestützt worden, das dem Beschwerdeführer das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung attestierte und annahm, diese sei in Algerien aufgrund der Störungsgeschichte und der schweren Symptomatik nicht behandelbar. Die Erkrankung erkläre widersprüchliche Einlassungen aus dem ersten Verfahren. Das Verwaltungsgericht begründete die Klageabweisung erneut mit der fehlenden Glaubhaftigkeit der Schilderungen des Beschwerdeführers. Aufgrund der voneinander abweichenden Schilderungen könne ihm schon nicht geglaubt werden, dass er ein traumatisierendes Ereignis erlebt habe. Im Übrigen seien psychische Erkrankungen in Algerien prinzipiell behandelbar.

3. Im Juli 2006 stellte der Beschwerdeführer beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Antrag auf Abänderung der Entscheidung zu § 53 AuslG, den er mit einem neuen, fachärztlichen Gutachten begründete: Das Gutachten basiere auf einer vierstündigen Anamneseerhebung, Exploration und Untersuchung sowie der Verwertung älterer Gutachten und Bescheinigungen. Die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Verfolgungsschicksal deckten sich erneut in den Grundzügen mit seinen Angaben aus den vorangegangenen Verfahren, wiesen aber erneut abweichende Angaben im Detail auf. Aufgrund dieser Angaben, der Schilderungen des Beschwerdeführers über seine Befindlichkeit und der bei der Befragung erfolgten und schriftlich festgehaltenen Verhaltensbeobachtung kommt das Gutachten zur Diagnose einer schweren reaktiven Depression und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Aufgrund des beobachteten Verhaltens bei der Befragung sei auf einen "hohen Wahrheitsgehalt" zu schließen. Daher bestehe für den Fall der erzwungenen Rückkehr eine hohe Wahrscheinlichkeit der Retraumatisierung.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Antrag auf Abänderung der Entscheidung zu § 53 AuslG mit Bescheid vom ab: Die Einschätzung der Retraumatisierungsgefahr sei ebenso wie die Frage der Behandelbarkeit der geltend gemachten Erkrankung im vorangegangenen Verfahren - auch durch das Verwaltungsgericht - erörtert worden. Es seien auch keine Gründe dafür ersichtlich, im Wege des freien Aufgreifens - § 51 Abs. 5, § 48, § 49 VwVfG - die Entscheidung abzuändern.

4. Mit seiner Klage machte der Beschwerdeführer geltend, dass aus dem vorgelegten Gutachten ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots folge.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung stellte er einen Antrag auf Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsachen, dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, dass diese durch Ereignisse, die vor der Flucht nach Deutschland stattgefunden hätten, ausgelöst worden sei und dass eine Rückkehr nach Algerien unmittelbar zu einer Retraumatisierung und mithin zu schweren gesundheitlichen Schäden führen würde. Das Verwaltungsgericht lehnte die Beweisanträge ab: Der Beweisantrag sei hinsichtlich der Vorfluchtereignisse ein unzulässiger Ausforschungsbeweisantrag. Im Übrigen sei der Beweisantrag unerheblich. Der Beschwerdeführer hätte mit dem Antrag nur dann Erfolg haben können, wenn er ein valides Gutachten vorgelegt hätte, aus dem sich ergeben hätte, dass die Vorfluchtgeschichte zutreffend sei. Auch sei der Beweisantrag deshalb unerheblich, weil das Gericht die Fluchtgeschichte nicht glaube und daher selbst in dem Falle, dass eine posttraumatische Belastungsstörung vorliege, diese nicht auf den angeblichen Vorfluchtereignissen beruhen könne.

5. Mit Urteil vom - dem Beschwerdeführer zugestellt am - wies das Verwaltungsgericht die Klage als offensichtlich unbegründet ab: Der geltend gemachte Anspruch stehe dem Beschwerdeführer mit der ein Offensichtlichkeitsurteil rechtfertigenden Eindeutigkeit nicht zu, was sich schon aus den Gründen des angegriffenen Bescheids ergebe. Die Voraussetzungen für das Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG seien nicht erfüllt. Die psychischen Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers seien bereits Gegenstand des vorangegangenen Asylverfahrens gewesen. Auch die dort vom Beschwerdeführer bemühte Stellungnahme sei von einer posttraumatischen Belastungsstörung ausgegangen, auch wenn diese nicht von der jetzt beauftragten Gutachterin stamme. Bereits im Vorverfahren sei dem Beschwerdeführer sein Verfolgungsschicksal nicht geglaubt worden. Nunmehr habe er erneut andere Angaben zu seinem Lebenslauf gemacht. Es sei ferner zu berücksichtigen, dass psychische Erkrankungen in Algerien generell behandelbar seien. Aspekte, weshalb diese Behandlungsmöglichkeiten für den Beschwerdeführer unzureichend sein sollten, seien nicht vorgetragen worden. Da die Fluchtgeschichte erfunden sei, könne sie auch nicht Ursache einer angeblichen Traumatisierung sein, so dass auch keine Retraumatisierung zu befürchten sei. Das vorgelegte Gutachten gebe auch keine Veranlassung, von Amts wegen weiter zu ermitteln. Die Bescheinigung sei schon deswegen unverwertbar, weil nach nur vierstündiger Exploration der Verdacht auf eine komplexe Erkrankung attestiert werde. Es fehle an einer inhaltlichen Analyse der Glaubhaftigkeit der Aussagen.

6. Der Beschwerdeführer erhob eine Anhörungsrüge nach § 152a VwGO: Das Urteil sei überraschend ergangen. Das Verwaltungsgericht habe nicht darauf hingewiesen, dass eine Abweisung der Klage als offensichtlich unbegründet in Betracht komme. Da Gegenstand der Klage nicht die Anerkennung als Asylberechtigter, sondern nur ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG gewesen sei, habe er damit nicht rechnen können, da die Norm des § 30 AsylVfG nur auf Asylanträge, nicht aber auf Schutzgesuche anwendbar sei. Auch die Ablehnung der Beweisanträge verletze Art. 103 Abs. 1 GG. Weiter beantragte der Beschwerdeführer den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufzugeben, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung einstweilig nicht erfolgen dürfe.

Mit Beschluss vom wies das Verwaltungsgericht die Anhörungsrüge zurück: Es bestehe kein Anspruch darauf, dass das Gericht eine beabsichtigte Entscheidung oder die sie tragende Rechtsauffassung vorab zur Erörterung stelle. Darüber hinaus könne eine Klage, gerichtet auf Feststellung eines Abschiebungsverbots, nach § 78 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG durch das Verwaltungsgericht als offensichtlich unbegründet abgewiesen werden. Die Ablehnung des Beweisantrags verletze nicht das rechtliche Gehör, weil das neu vorgebrachte Gutachten weder auf neuen noch auf nachträglich gefundenen Erkenntnissen beruhe, so dass kein Wiederaufgreifensgrund vorliege.

7. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wurde mit Beschluss vom gleichen Tage ebenfalls abgelehnt: Nach dem rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens sei für den Erlass einer einstweiligen Anordnung kein Raum mehr.

8. Mit seiner am erhobenen Verfassungsbeschwerde beruft sich der Beschwerdeführer auf die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG durch den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, das Urteil des Verwaltungsgerichts und den ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts im Eilverfahren.

Sein Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt, weil das Urteil überraschend sei. Mit einer Abweisung der Klage als offensichtlich unbegründet habe er nicht rechnen können. Auch verstoße die Ablehnung der Beweisanträge gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Das Verwaltungsgericht habe sich nicht in angemessener Form inhaltlich mit dem fachärztlichen Gutachten aus-einandergesetzt. Dem Gericht fehle die Fachkompetenz für die Bewertung des Gutachtens. Im Falle der Anhörung der Gutachterin hätte sich das Gericht von ihrer Qualifikation ebenso überzeugen können wie von der inhaltlichen Richtigkeit der Ausführungen.

Das Verwaltungsgericht bleibe darüber hinaus jede Erklärung dafür schuldig, weshalb der Antrag auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden durfte. Dies verletze auch Art. 19 Abs. 4 GG.

9. Das Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz sowie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme, von der sie keinen Gebrauch gemacht haben.

II.

Die Kammer ist für die Entscheidung zuständig, da das Bundesverfassungsgericht die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Sie nimmt die Verfassungsbeschwerde hinsichtlich des Urteils des Verwaltungsgerichts vom zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzt die Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet - mit der Folge des Ausschlusses weiterer gerichtlicher Nachprüfung (vgl. § 78 Abs. 1 AsylVfG) - voraus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG) an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Abweisung der Klage geradezu aufdrängt. Aus den Entscheidungsgründen muss sich klar ergeben, weshalb das Gericht zu einem Urteil nach § 78 Abs. 1 AsylVfG kommt, warum also die Klage nicht nur als schlicht unbegründet, sondern als offensichtlich unbegründet abgewiesen worden ist (vgl. BVerfGE 65, 76 <95 f.>; 71, 276 <293 f.>; BVerfGK 1, 298 <302>). Die schlichte Behauptung, die Klage sei offensichtlich unbegründet, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1869/92 -, InfAuslR 1993, S. 146 <149> und vom - 2 BvR 2075/92 -, juris).

2. Diese Grundsätze gelten nicht nur für das Asylgrundrecht und für Verfahren, die auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG (ehemals § 51 Abs. 1 AuslG) gerichtet sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1392/00 -, InfAuslR 2002, S. 146 <148> m.w.N.), sondern auch für die Abweisung der Klage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG als offensichtlich unbegründet (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2063/06 -, NVwZ 2007, S. 1046), wobei die grundsätzliche Anwendbarkeit von § 78 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf Folgeschutzgesuche keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet und von den Gerichten und der herrschenden Lehre anerkannt ist (vgl. dazu 9 B 714.95 -, NVwZ-RR 1997, S. 255; Marx, AsylVfG, 6. Aufl. 2005, § 78 Rn. 11; Gemeinschaftskommentar zum AsylVfG, Stand: April 1998, § 78 AsylVfG Rn. 32). Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die unanfechtbare Abweisung der Klage als offensichtlich unbegründet ergeben sich insoweit aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Auch im Anwendungsbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG muss den schutzwürdigen Interessen des Betroffenen wirksam Rechnung getragen werden. Die auf der Hand liegende Aussichtslosigkeit der Klage muss sich eindeutig aus der Entscheidung selbst ergeben und die diesbezüglichen Annahmen müssen auf einer hinreichend verlässlichen Grundlage beruhen (vgl. zu den Anforderungen an einen wirkungsvollen Rechtsschutz im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 GG den Beschluss des Zweiten Senats des und 2 BvR 796/02 -, NJW 2007, S. 1933 <1944>).

Die Verfahrensgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG beschränkt sich nicht auf die Einräumung der Möglichkeit, die Gerichte gegen Akte der öffentlichen Gewalt anzurufen; sie gibt dem Bürger darüber hinaus einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes verlangt nicht nur, dass jeder potentiell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der richterlichen Prüfung unterstellt ist; vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>; stRspr). Das Maß dessen, was wirkungsvoller Rechtsschutz ist, bestimmt sich entscheidend auch nach dem sachlichen Gehalt des als verletzt behaupteten Rechts - hier des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit - (vgl. BVerfGE 60, 253 <297>). Ein Instanzenzug kann zwar nicht beansprucht werden; steht aber, wie im Falle der Abweisung der Klage als offensichtlich unbegründet (§ 78 Abs. 1 AsylVfG), nur eine Instanz zur Verfügung, so verstärkt dies die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Verfahrens im Hinblick auf die Wahrheitserforschung (vgl. BVerfGE 83, 24 <31>; 87, 48 <61 f.>).

3. Das Verwaltungsgericht verkennt vor diesem Hintergrund die Bedeutung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und die damit einhergehenden Anforderungen an die Effektivität des Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Es legt seiner Entscheidung keinen verfassungsrechtlich tragfähigen Prüfungsmaßstab zugrunde.

a) Die einzige ausdrückliche Begründung für die Anwendung von § 78 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils findet sich in der Wendung, dass der geltend gemachte Anspruch mit der "ein Offensichtlichkeitsurteil tragenden Eindeutigkeit" fehle. Eine solche formelhafte Begründung genügt der gerichtlichen Darlegungslast, welche die Gewähr für die materielle Richtigkeit der Entscheidung verstärkt, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade nicht (vgl. BVerfGE 71, 276 <293>).

b) Auch aus den weiteren Ausführungen in der angegriffenen Entscheidung ergibt sich eine nachvollziehbare Begründung für das Offensichtlichkeitsurteil nicht. In dem Verweis auf den ablehnenden Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nach § 77 Abs. 2 AsylVfG kann eine solche Begründung nicht gesehen werden; denn ein Antrag auf Abänderung einer Entscheidung zu § 53 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) kann durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht qualifiziert abgelehnt werden. § 30 AsylVfG ist - im Unterschied zu § 78 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG - nur auf Asylanträge anwendbar. Auch die weiteren Entscheidungsgründe enthalten keine geeignete Begründung für das Offensichtlichkeitsurteil.

aa) Im Asylfolgeverfahren kommt ein Wiederaufgreifen des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG unter den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG oder aber des § 51 Abs. 5 VwVfG in Verbindung mit § 48, § 49 VwVfG in Betracht. Hinsichtlich dieser behördlichen Ermächtigung zum Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne, welche die Korrektur inhaltlich unrichtiger oder inhaltlich unrichtig gewordener Entscheidungen ermöglicht (vgl. 1 C 6.99 -, NVwZ 2000, S. 204 <206>), besteht für den Betroffenen ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung (vgl. BVerwGE 111, 77 <82>; stRspr).

bb) Es kann dahinstehen, ob das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass die Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens zur negativen Feststellung zu § 53 Abs. 6 AuslG offensichtlich nicht vorliegen. Insoweit ist es denkbar, dass die Vorlage einer weiteren sachverständigen Äußerung so offensichtlich kein neues Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG darstellt, dass sich die Erfolglosigkeit der Klage nach allgemeiner Rechtsauffassung geradezu aufdrängt, weil die der Begutachtung zugrunde liegenden Tatsachen nicht neu im Sinne des § 51 VwVfG gewesen sind (vgl. zum Sachverständigengutachten als neues Beweismittel BVerwGE 82, 272 <275 ff.>).

cc) Jedenfalls fehlt es aber derzeit hinsichtlich der Überprüfung der Ermessensentscheidung nach § 51 Abs. 5 VwVfG in Verbindung mit § 48, § 49 VwVfG an einer hinreichend verlässlichen Grundlage für die Annahme einer auf der Hand liegenden Aussichtslosigkeit der Klage und damit für die Rechtfertigung der Klageabweisung als offensichtlich unbegründet.

(1) Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Ausführungen des Beschwerdeführers seien unglaubhaft und das vorgelegte Gutachten sei auch nur als Anknüpfungstatsache für weitere Ermittlungen und Beweiserhebungen unverwertbar, ist verfassungsrechtlich auf der bisher ermittelten Tatsachengrundlage im Lichte von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht haltbar. Die angegriffene Entscheidung setzt sich mit den Ausführungen im Gutachten zur dort angenommenen Glaubhaftigkeit der Einlassungen des Beschwerdeführers nicht auseinander. Das Gericht stellt diesen Ausführungen lediglich die Behauptung entgegen, dass für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit eine umfassende Konstanz-, Kompetenz- und Motivationsanalyse und Vorkehrungen zur Verhinderung interessengeleiteter Aussagen getroffen werden müssten. Jedenfalls hätten die Ausführungen im Gutachten dem Verwaltungsgericht Anlass zu einer kritischen Überprüfung seiner eigenen Würdigung der Einlassungen des Beschwerdeführers - auch aus den vorangegangenen Klageverfahren - geben müssen. Vor dem Hintergrund der fachärztlichen Aussagen greifen die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zur fehlenden Glaubhaftigkeit der Einlassungen des Beschwerdeführers aufgrund von Widersprüchen, Steigerungen und abweichenden Angaben zu kurz, um ein Offensichtlichkeitsurteil zu rechtfertigen. Das Verwaltungsgericht hätte sich mit den Ausführungen im Gutachten zur Glaubhaftigkeit, namentlich zu den beobachteten vegetativen Reaktionen, der sprunghaften Schilderung und der Übereinstimmung zwischen Erlebnisschilderung und beobachtbaren affektiven Regungen und dem aus diesen Umständen gezogenen Schluss auf den hohen Wahrheitsgehalt der Einlassungen des Beschwerdeführers beschäftigen und darlegen müssen, weshalb dieser Ansatz entweder für sich betrachtet bereits nicht weiter führt oder es trotz dieser Ausführungen weiterhin von der Unglaubhaftigkeit des Vorbringens überzeugt ist. Dies ist jedoch nicht geschehen. Damit ist die Voraussetzung für die Abweisung der Klage als offensichtlich unbegründet, dass an den tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts vernünftigerweise keine Zweifel bestehen dürfen, hier nicht erfüllt.

(2) Auch die Feststellungen des Verwaltungsgerichts, wonach die psychischen Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers in Algerien behandelt werden könnten, vermögen das Offensichtlichkeitsurteil inhaltlich nicht zu tragen. Die unter Berufung auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom festgestellte generelle Behandelbarkeit psychischer Erkrankungen in Algerien, welche das Verwaltungsgericht auch in den vorangegangenen Klageverfahren unter Berufung auf den jeweils aktuellen Lagebericht angenommen hat, führt nicht zwingend dazu, dass der Beschwerdeführer sich wegen seiner psychischen Erkrankung nicht mit Erfolg auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berufen kann. Ausweislich des vorgelegten Gutachtens, mit dessen Inhalt sich das Verwaltungsgericht, wie dargestellt, nur unzureichend auseinandergesetzt hat, droht dem Beschwerdeführer im Falle der unfreiwilligen Rückkehr eine Retraumatisierung. Es erscheint daher nicht in einem das Offensichtlichkeitsurteil tragenden Sinne ausgeschlossen, dass die erhebliche und konkrete Gesundheitsgefährdung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bereits vor Erreichen der Behandlungsmöglichkeiten in Algerien eintreten kann.

4. Das angegriffene Urteil beruht auf der genannten Grundrechtsverletzung. Es ist nicht auszuschließen, dass das Verwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Darauf, ob der weiter gerügte Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vorliegt, kommt es nicht an.

Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG das angegriffene Urteil auf und verweist die Sache an das Verwaltungsgericht zurück. Es war angezeigt, die Sache an eine andere mit Verfahren nach dem Asylverfahrensgesetz betraute Kammer zu verweisen.

5. Damit wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom , mit welchem die Anhörungsrüge zurückgewiesen worden ist, gegenstandslos.

6. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes richtet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen; insoweit wird von einer Begründung abgesehen (§ 93a Abs. 2, § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

7. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




Fundstelle(n):
PAAAC-62921