Leitsatz
1. "Altausweisungen" von Unionsbürgern und die daran anknüpfenden gesetzlichen Sperrwirkungen bleiben auch nach dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU am wirksam.
2. Die Befristung der Sperrwirkungen von Ausweisungen bemisst sich für Unionsbürger nunmehr nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU in sinngemäßer Anwendung.
Gesetze: AufenthG § 1 Abs. 2 Nr. 1; AufenthG § 11 Abs. 1; AufenthG § 102 Abs. 1; AuslG § 8 Abs. 2; FreizügG/EU § 1; FreizügG/EU § 6; FreizügG/EU § 7 Abs. 2; FreizügG/EU § 11; LVwVfG RhPf § 1; VwVfG § 48; VwVfG § 49; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; VwGO § 75; Richtlinie 2004/38/EG Art. 32
Instanzenzug: VG Trier VG 5 K 268/06 .TR vom OVG Koblenz OVG 7 A 11318/06 vom Fachpresse: ja BVerwGE: ja
Gründe
I
Der 1959 geborene Kläger, ein französischer Staatsangehöriger, erstrebt die Verpflichtung der Beklagten, seine unbefristete Ausweisung aufzuheben oder ihre Wirkungen zumindest zu befristen.
Der Kläger wuchs bei seiner Mutter in Deutschland auf. Wegen Vermögensdelikten wurde er erstmals 1982 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat verurteilt. Aus der 1983 geschlossenen Ehe des Klägers mit einer Deutschen gingen zwei mittlerweile volljährige Kinder hervor; die Ehe wurde 1992 geschieden.
Nachdem der Kläger auch nach 1982 wiederholt wegen unterschiedlicher Straftaten verurteilt wurde, wies ihn die Beklagte mit Bescheid vom unbefristet aus Deutschland aus. Im Anschluss an ein erfolgloses Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wurde der Kläger nach Frankreich abgeschoben. Die Klage gegen die Ausweisung wies das Verwaltungsgericht rechtskräftig ab. In der Folgezeit hielt sich der Kläger immer wieder unerlaubt im Bundesgebiet auf und verbüßte eine Haftstrafe von einem Jahr und sechs Monaten wegen Diebstahls.
Einen Antrag auf nachträgliche Befristung der Wirkungen der Ausweisung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom bestandskräftig ab. Auch danach wurde der Kläger mehrfach im Bundesgebiet aufgegriffen und verbüßte zwischen Mai und August 2005 eine Haftstrafe von drei Monaten wegen unerlaubter Einreise und Aufenthalts.
Am beantragte der Kläger gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG die Aufhebung der Ausweisungsverfügung. Er machte geltend, eine Ausweisung von Unionsbürgern sei seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am nicht mehr möglich. Die Beklagte teilte ihm mit, das Aufhebungsbegehren sei unbegründet, aber das Schreiben vom könne auch als Antrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung ausgelegt werden. Sie forderte den Kläger deshalb zur Vorlage einer Meldebestätigung, eines Führungszeugnisses sowie von Lohn- und Gehaltsnachweisen auf und wies darauf hin, dass der Eintritt der Befristung von der Rückzahlung der angefallenen Rückführungskosten abhängig gemacht werde.
Der Kläger kam dieser Aufforderung nicht nach. Er erhob Untätigkeitsklage, die vom Verwaltungsgericht abgewiesen wurde. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Klägers durch das angefochtene Urteil vom (InfAuslR 2007, 226) zurückgewiesen. Es hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass die Ausweisung vom durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nicht unwirksam geworden sei. Eine unanfechtbare Ausweisung gelte kraft materieller Bestandskraft nach dem als freizügigkeitsbeschränkende Maßnahme fort. Für die Annahme, dass die Ausweisung gegenstandslos geworden sei, reiche es nicht aus, dass eine Ausweisung so nicht mehr erlassen werden dürfe. Anhaltspunkte für einen gesetzgeberischen Verzicht auf die Bestandskraft von Ausweisungen seien nicht ersichtlich. Aus der in § 6 FreizügG/EU geregelten Verlustfeststellung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt, die sich terminologisch an das Gemeinschaftsrecht anlehne, könne nicht auf die Gegenstandslosigkeit einer "Altausweisung" geschlossen werden. Schließlich stütze die fehlende Verweisung des Gesetzgebers in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU auf § 102 AufenthG nicht die Auffassung des Klägers; denn § 102 Abs. 1 AufenthG beziehe sich insbesondere auf am noch nicht unanfechtbar abgeschlossene Verwaltungsverfahren. Demzufolge habe sich die Rechtslage nicht zu Gunsten des Klägers geändert, so dass kein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens bestehe.
Der Kläger begründet die vom Oberverwaltungsgericht zugelassene Revision damit, dass der Gesetzgeber in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU die auf Unionsbürger anwendbaren Normen des Aufenthaltsgesetzes im Einzelnen aufgezählt habe. In diesem Katalog sei § 102 Abs. 1 AufenthG nicht enthalten. Sicherheitsbedenken gegen die Annahme des Unwirksamwerdens der "Altausweisungen" seien unbegründet; denn die Aufhebung einer früheren Ausweisung auf der Grundlage des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG erfolge auf Antrag in einem Verwaltungsverfahren, in dem auch geprüft werden könne, ob die Voraussetzungen einer Verlustfeststellung gemäß § 6 FreizügG/EU erfüllt seien.
Die Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht treten der Revision entgegen.
II
Die Revision ist nur teilweise begründet. Das Berufungsgericht hat in Übereinstimmung mit Bundesrecht entschieden, dass der Kläger keinen Anspruch auf Aufhebung der Ausweisung im Wege eines Wiederaufgreifens des Ausweisungsverfahrens hat. Insoweit bleibt die Revision ohne Erfolg. Soweit das Berufungsgericht dagegen über den von dem Begehren des Klägers hilfsweise mit umfassten Antrag auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung keine Entscheidung getroffen hat, ist die Revision begründet. Das Berufungsurteil beruht insoweit auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Da der Senat über den geltend gemachten Befristungsanspruch mangels notwendiger Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts nicht abschließend selbst entscheiden kann, ist die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Der Kläger erstrebt die Verpflichtung der Beklagten, die Ausweisung vom aufzuheben und hilfsweise deren Wirkungen zu befristen. Sein Vorbringen, das sich ausdrücklich auf das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am als nachträgliche Rechtsänderung im Sinne des § 1 Abs. 1 des Landesverwaltungsverfahrensgesetzes - LVwVfG - i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG bezieht, zielt auf einen ex nunc wirkenden Widerruf gemäß § 49 VwVfG. Die ursprüngliche Rechtswidrigkeit der Ausweisung und eine daran anknüpfende Rücknahme gemäß § 48 VwVfG mit ex-tunc-Wirkung macht er demgegenüber nicht geltend. Bei interessengerechter Auslegung enthielt der Antrag des Klägers aber von Anfang an - wie von der Beklagten richtig erkannt - auch ein Befristungsbegehren. Die Voraussetzungen des § 75 Satz 1 VwGO sind gegeben, denn die Beklagte darf die Nichtvorlage von ihr verlangter Unterlagen nicht zum Anlass nehmen, einen gestellten Antrag nicht zu bescheiden (vgl. Rennert in: Eyermann, VwGO, § 75 Rn. 8 a.E.).
Das Klagebegehren ist mangels einschlägiger Übergangsregelung am Maßstab des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom (BGBl I S. 1970) und der dadurch mit Wirkung vom geänderten Rechtslage zu beurteilen. Im Revisionsverfahren sind Änderungen der Rechtslage, die sich nach Erlass des Berufungsurteils ergeben haben, für die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts beachtlich, wenn das Oberverwaltungsgericht - entschiede es nunmehr anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - die Rechtsänderung zu beachten hätte (stRspr, vgl. BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 276 <279 f.>). Das Oberverwaltungsgericht müsste, wenn es nunmehr über die Verpflichtungsklage entschiede, für die Prüfung sowohl des Anspruchs auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG als auch der Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf die Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Gerichts abstellen.
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens gemäß § 1 LVwVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG mit dem Ziel eines ex nunc wirkenden Widerrufs der Ausweisung (§ 49 Abs. 1 VwVfG).
a) Zu dem Verhältnis des Widerrufs einer Ausweisung und der Befristung ihrer Wirkungen hat der Senat entschieden, dass ein Rückgriff auf die allgemeine Vorschrift des § 49 VwVfG jedenfalls dann ausscheidet, wenn es um die Berücksichtigung von Sachverhaltsänderungen geht, die für den Fortbestand des Ausweisungszwecks erheblich sind. In diesen Fällen kommt auch ein Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nicht in Betracht ( BVerwG 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140 <147 f.>). Ob und inwieweit neben der speziell geregelten Befristung überhaupt Bedarf und Raum für den Widerruf sowie das Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens im Hinblick auf nachträgliche Änderungen der Sach- und Rechtslage bleibt, bedarf auch hier keiner abschließenden Entscheidung. Selbst wenn man die Befristung der Wirkungen einer Ausweisung entweder gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 bis 6 AufenthG oder auf der vergleichbaren Rechtsgrundlage des § 7 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU nicht als abschließende Spezialregelungen ansehen wollte, greift der Anspruch jedenfalls in der Sache nicht durch.
b) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens; denn mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am hat sich die Rechtslage nicht zu seinen Gunsten geändert. Eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liegt nur vor, wenn die für den Verwaltungsakt maßgeblichen Rechtsnormen, also dessen entscheidungserhebliche rechtliche Grundlagen, nachträglich geändert werden ( BVerwG 7 C 18.01 - NVwZ-RR 2002, 548). Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung vom fortbestehen. Das ergibt sich aus der Übergangsvorschrift des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, wonach u.a. die vor dem getroffenen Ausweisungen einschließlich ihrer Rechtsfolgen wirksam bleiben. Die Materialien zu dieser Regelung belegen den Willen des Gesetzgebers, dass die durch eine "Altausweisung" ausgelösten gesetzlichen Verbote aus § 8 Abs. 2 AuslG 1990 fortwirken (so die Begründung des Regierungsentwurfs, BTDrucks 15/420 S. 100). Das gilt nicht nur für Ausländer aus Nicht-EU-Staaten (Drittstaater); denn § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU sieht im Anschluss an eine Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU, die an die Stelle der Ausweisung von Unionsbürgern getreten ist, ebenfalls ein Einreise- und Aufenthaltsverbot vor. Anders als bei der in § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU nicht genannten Abschiebung begegnet deshalb die Fortgeltung der an die Ausweisung eines Unionsbürgers geknüpften Sperrwirkungen unter dem Aspekt einer nicht gerechtfertigten intertemporalen Ungleichbehandlung keinen Bedenken.
Demgegenüber ist die Revision der Auffassung, § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG könne auf Unionsbürger nicht angewendet werden, weil die Vorschrift in dem als abschließend anzusehenden Katalog des § 11 Abs. 1 FreizügG/EU nicht genannt sei (so auch OVG Berlin-Brandenburg, InfAuslR 2006, 259; Gutmann, InfAuslR 2005, 125 <126>). Dem folgt der Senat nicht. Zwar findet das Aufenthaltsgesetz auf Unionsbürger grundsätzlich keine Anwendung; denn § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG verweist auf § 1 FreizügG/EU, der zur Bestimmung des Anwendungsbereichs des Freizügigkeitsgesetzes/EU allein an dem formalen Status des Unionsbürgers (und dessen Familienangehörigen) anknüpft. Indes greift an dieser Stelle die Rückverweisung des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU, nach der - mangels besonderer Regelung des Freizügigkeitsgesetzes/EU - das Aufenthaltsgesetz anzuwenden ist, wenn die Ausländerbehörde u.a. den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt festgestellt hat. Intertemporal steht der Verlustfeststellung gemäß § 6 FreizügG/EU der auf einer bestandskräftigen Ausweisung beruhende Verlust des Freizügigkeitsrechts gleich; denn die Rechtswirkungen der beiden Rechtsakte entsprechen sich. Demzufolge findet das Aufenthaltsgesetz einschließlich der Übergangsvorschrift des § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch auf zuvor ausgewiesene Unionsbürger Anwendung (so im Ergebnis auch OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 305; VGH Mannheim, InfAuslR 2007, 182; Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, II-§ 102 Rn. 2; Groß, ZAR 2005, 81 <86>; Lüdke, InfAuslR 2005, 177 <178>). Da sich die Rechtslage mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes nicht zugunsten des Klägers geändert hat, ist der geltend gemachte Anspruch auf Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens jedenfalls unbegründet.
3. Über den auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung gerichteten Hilfsantrag des Klägers hat das Berufungsgericht nicht entschieden. Von seinem Ansatz aus konsequent hat es keine tatsächlichen Feststellungen zum Verhalten des Klägers nach der Ausweisung sowie zu seiner aktuellen persönlichen und wirtschaftlichen Lage getroffen. Daher erweist sich der Rechtsstreit hinsichtlich der im Ermessen der Beklagten stehenden Fristbestimmung als nicht entscheidungsreif; denn der Senat kann nicht ausschließen, dass die Sache - über den in jedem Falle gegebenen Bescheidungsanspruch des Klägers hinaus - infolge einer Ermessensreduzierung auf Null mit dem Ziel sofortiger Befristung spruchreif ist (§ 113 Abs. 5 VwGO).
a) Grundlage des Befristungsanspruchs ist § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU. Danach wird das durch die Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU ausgelöste Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU) auf Antrag befristet. Mit Blick auf die in § 102 Abs. 1 Satz 1 AufenthG getroffene Übergangsregelung werden von dieser Anspruchsgrundlage in sinngemäßer Anwendung auch die fortwirkenden Rechtsfolgen der Ausweisung eines Unionsbürgers erfasst. § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU betrifft als Sonderregelung im Sinne des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU nicht (mehr) freizügigkeitsberechigte Unionsbürger, zu denen - wie bereits ausgeführt - auch der Kläger zählt.
Die Vorschrift gewährt Unionsbürgern - anders als die Regelbefristung des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG für Drittstaater - einen strikten Rechtsanspruch auf Befristung ("ob"); nur über die Länge der Frist ist nach Ermessen zu entscheiden. Damit geht § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU über die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben in Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG hinaus, die lediglich einen fristgebundenen Verbescheidungsanspruch vorsehen (umgesetzt in dem durch Gesetz vom angefügten Satz 4 des § 7 Abs. 2 FreizügG/EU). Mit der Ausgestaltung der Befristung als gebundener Entscheidung und einem damit korrespondierenden Anspruch bringt der Gesetzgeber den hohen Rang zum Ausdruck, den er dem gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrecht beimisst. Denn als Ausnahmen vom Grundprinzip der Freizügigkeit dürfen das an eine Verlustfeststellung bzw. Ausweisung anknüpfende Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht unbegrenzt gelten, sondern ein davon betroffener Unionsbürger hat nach angemessener Zeit Anspruch auf erneute Prüfung und Entscheidung nach Maßgabe der aktuellen Sachlage ( Shingara und Radiom, C-65/95 und C-111/95, Slg. 1997, I-3343 Rn. 40 ff.).
b) Bei der im behördlichen Auswahlermessen verbleibenden Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung bzw. Ausweisung sowie der mit der Maßnahme verfolgte spezialpräventive Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der Prüfung im Einzelfall, ob die vorliegenden Umstände auch jetzt noch das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der gesetzlichen Sperrwirkungen als Dauereingriff in das Freizügigkeitsrecht mit Blick auf die hohen Anforderungen des § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU tragen. Die Behörde hat dazu auch das Verhalten des Betroffenen nach der Ausweisung zu würdigen und im Wege einer Prognose auf der Grundlage einer aktualisierten Tatsachenbasis die (Höchst-)Frist nach dem mutmaßlichen Eintritt der Zweckerreichung zu bemessen. Im Falle einer langfristig fortbestehenden Rückfall- bzw. Gefährdungsprognose ist nach der Vorstellung des Gesetzgebers aber auch bei Unionsbürgern ein langfristiger Ausschluss der Wiedereinreise nicht ausgeschlossen (BTDrucks 15/420 S. 105).
Die sich an der Erreichung des Zwecks der Verlustfeststellung bzw. Ausweisung orientierende äußerste Frist muss sich in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben und verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde ein rechtsstaatliches Mittel dafür, fortwirkende einschneidende Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BVerwG 1 C 5.00 - BVerwGE 111, 369 <373> zur Regelbefristung). Dabei sind insbesondere die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten schutzwürdigen Belange des Unionsbürgers in den Blick zu nehmen. Haben z.B. familiäre Belange des Betroffenen durch die Geburt eines Kindes im Bundesgebiet nach der Ausweisung an Gewicht gewonnen, folgt daraus eine Ermessensverdichtung in Richtung auf eine kürzere Frist. Die Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, die auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles nach Gewichtung der jeweiligen Belange vorzunehmen ist, kann im Extremfall bis zu einer Ermessensreduzierung auf Null mit dem Ergebnis einer Befristung auf den Jetzt-Zeitpunkt führen (vgl. BVerwG 1 C 13.99 - a.a.O. S. 150 f.).
Demzufolge ermöglicht die Befristung im Rahmen des § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU als Ausprägung des Übermaßverbots, die gegenläufigen öffentlichen und privaten Interessen zeitlich abgestuft auszutarieren. Die Befristungsentscheidung zwingt die Ausländerbehörde zu einer erneuten Rechtfertigung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf aktualisierter Tatsachengrundlage unter Berücksichtigung der Maßstäbe des § 6 FreizügG/EU. Sie verhindert, dass sich die Aufrechterhaltung der Sperrwirkungen als unverhältnismäßiger Dauereingriff u.a. in das Freizügigkeitsrecht des Betroffenen erweist.
c) In Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich ein Anspruch des Klägers auf "sofortige" Befristung nicht bereits aus dem Vorbringen der Revision, mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am dürften die gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung nicht länger aufrecht erhalten werden. Insoweit kann auf die Ausführungen zu § 102 Abs. 1 AufenthG verwiesen werden.
Das Berufungsgericht hat nicht geprüft, ob und wie weit sich der Befristungsanspruch des Klägers aus § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU mit Blick auf individuell seine Person betreffende tatsächliche Entwicklungen verdichtet hat. Derartige Sachverhaltsänderungen können die tatsächliche Gefahrenprognose betreffen oder auf den anzulegenden Beurteilungsmaßstab im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zielen. Diese Prüfung wird das Gericht auf der Grundlage aktualisierter Tatsachenfeststellungen nachzuholen haben. Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass sich die von der Beklagten angesprochene Begleichung angefallener Rückführungskosten durch den Kläger quasi als Vorbedingung einer Befristung mit den genannten Vorgaben schon im Ansatz als nicht vereinbar erweist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO.
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 € festgesetzt (§ 45 Abs. 1 Sätze 2 und 3, § 47 Abs. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG).
Fundstelle(n):
DAAAC-62348