BFH Beschluss v. - VIII B 36/07

Auslegung einer Rücknahmeerklärung; Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung; keine Teilrücknahme einer Beschwerde

Gesetze: FGO § 72, FGO § 74, FGO § 128

Instanzenzug:

Gründe

I. Das Finanzgericht (FG) hat das Klageverfahren 2 K 196/06 wegen Einkommensteuer 1999 und gesonderter Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer zum im Hinblick auf den (BStBl II 2007, 167; Az. beim Bundesverfassungsgericht —BVerfG— 2 BvL 59/06) wegen verfassungswidriger mangelnder Normenklarheit des § 2 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 (StEntlG 1999/2000/2002) auf Antrag des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) mit Beschluss vom 2 K 196/06 ausgesetzt.

Der dagegen vom Kläger gleichwohl eingelegten Beschwerde hat das FG nicht abgeholfen.

Der Kläger begründete seine Beschwerde ursprünglich damit, er könne sich mit einem „Ruhen des Verfahrens” nur dann einverstanden erklären, wenn der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) die Aussetzung der Vollziehung (AdV) gewähre. Er werde letztlich rechtsschutzlos gestellt, wenn das FA während der Verfahrensaussetzung weiterhin vollstrecke.

Unter dem erließ das FA für das Streitjahr 1999 einen geänderten Einkommensteuerbescheid, in welchem die so genannte Mindestbesteuerung nach § 2 Abs. 3 Satz 2 EStG a.F. nicht mehr angewendet wird. Die Verluste der entsprechenden negativen Einkünfte sind nach Ansicht des FA —außer dem Verlust aus dem privaten Veräußerungsgeschäft gemäß § 23 Abs. 3 Satz 8 EStG— vollständig ausgeglichen, so dass die Voraussetzungen gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht mehr vorlägen.

Der Kläger erwidert, die Änderung des Einkommensteuerbescheides sei zu Unrecht erfolgt, weil die Einkünfte aus Kapitalvermögen erhöht worden seien. Nunmehr werde erstmals über diese Frage gestritten. Hingegen trete die Frage der Mindestbesteuerung in den Hintergrund.

Die Beschwerde werde „insoweit” zurückgenommen.

II. Das Verfahren ist nach wirksamer Rücknahme der Beschwerde durch den vertretenen Kläger entsprechend § 125 Abs. 1 FGO einzustellen.

1. Die Erklärung des Prozessvertreters im Schriftsatz vom bringt die Absicht des Klägers, das Rechtsmittel zurückzunehmen, hinreichend deutlich zum Ausdruck (vgl. zu diesem Erfordernis BFH–Beschlüsse vom III R 26/98, juris; vom VIII R 64/94, BFH/NV 1996, 218; vom VII R 13/95, BFH/NV 1996, 140).

Die Rücknahmeerklärung enthält zwar den Zusatz, die Beschwerde werde „insoweit” zurückgenommen. Der Senat versteht diesen Zusatz indes nicht als Einschränkung der Rücknahmeerklärung.

Ein Beschwerdeführer kann grundsätzlich seinen Antrag im Beschwerdeverfahren ändern. Das Beschwerdegericht ist nicht auf eine Nachprüfung in rechtlicher Hinsicht beschränkt. Es hat auch einen neuen Tatsachenvortrag zu berücksichtigen (, BFH/NV 1995, 680).

Jedoch darf dies nicht zu einer so wesentlichen Änderung führen, dass der Streitgegenstand des Beschwerdeverfahrens nicht mehr mit dem des erstinstanzlichen Verfahrens identisch ist; denn dann würde der auf Überprüfung einer bereits ergangenen Entscheidung des FG gerichtete Zweck des Beschwerdeverfahrens verfehlt (vgl. , BFHE 154, 29, BStBl II 1988, 952).

Die Entscheidung über die AdV nach § 74 FGO stellt eine Ermessensentscheidung dar (vgl. z.B. , BFH/NV 1995, 836), deren Rechtmäßigkeit sich nach dem im Zeitpunkt der Entscheidung durch das FG zu beurteilenden Sachverhalt richtet. Ergeht erst während des Beschwerdeverfahrens ein diesen Sachverhalt in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht verändernder Änderungsbescheid —wie im Streitfall— und entsteht nunmehr dadurch ein völlig neuer Streitpunkt, so liegt eine wesentliche Änderung des Verfahrensgegenstandes vor.

Eine nur teilweise Rücknahme der Beschwerde wäre zudem mangels eines teilbaren Streitgegenstandes nicht nur unwirksam (vgl. , BFH/NV 2004, 527; vom I R 81/66, BFHE 96, 510, BStBl II 1970, 15; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 72 Rz 13), sondern angesichts der vorstehend ausgeführten wesentlichen Änderung des Streitgegenstandes auch sinnlos.

Vor diesem Hintergrund wertet der Senat die Erklärung des vertretenen Klägers als umfassende und damit prozessual wirksame Rücknahme der Beschwerde.

2. Der Kläger wird in seinen Rechtschutzmöglichkeiten dadurch auch nicht unangemessen beschränkt; denn er kann zum einen die Aufhebung der Aussetzung des Verfahrens beantragen (, BFH/NV 2000, 213; Gräber/Koch, a.a.O., § 74 Rz 11), zum anderen kann er trotz rechtskräftig gewordener Ablehnung der ursprünglich beantragten AdV durch das FG bei einer wesentlichen Änderung des Sachverhaltes —hier durch eine vom Kläger behauptete Erhöhung der Einkünfte aus Kapitalvermögen durch den erst während des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ergangenen Einkommensteueränderungsbescheides für 1999— gegebenenfalls einen erneuten Antrag auf AdV gemäß §§ 361 Abs. 2 der Abgabenordnung, 69 Abs. 2 FGO beim FA stellen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1911 Nr. 10
FAAAC-52020