Kein Besetzungsmangel bei vorhersehbarer Vakanz; Zweifel an einem Postaufgabevermerk des Finanzamts
Gesetze: FGO § 76 Abs. 1, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, FGO § 119 Nr. 1, GVG § 21f, AO § 122
Instanzenzug:
Gründe
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wendet sich gegen einen gegen ihn als Geschäftsführer einer GmbH erlassenen Haftungsbescheid, den der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) ausweislich eines Postaufgabevermerks am mit einfachem Brief zur Post gegeben hat. Der Kläger hat gegen den Bescheid mit am eingegangenem Schreiben Einspruch eingelegt und vorgetragen, der Haftungsbescheid sei ihm erst am zugestellt worden. Das FA hat den Einspruch wegen Versäumung der Einspruchsfrist als unzulässig verworfen. Die hiergegen gerichtete Klage hat das Sächsische zurückgewiesen. Der Kläger begehrt mit seiner Beschwerde die Zulassung der Revision gegen das Urteil.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist als unbegründet zurückzuweisen, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe gemäß § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) —soweit sie vom Kläger überhaupt substantiiert dargelegt worden sind— nicht vorliegen.
1. Ein Besetzungsmangel des erstinstanzlichen Spruchkörpers gemäß § 119 Nr. 1 FGO liegt nicht vor.
a) Die auf den (BFH/NV 2006, 1873) gestützte Rüge der Fehlerhaftigkeit des finanzgerichtlichen Geschäftsverteilungsplans geht fehl. Dem Vorbringen des Klägers lässt sich nicht entnehmen, dass die Zuständigkeit des 4. Senats des FG im Streitfall durch eine mit dem Beschlussfall vergleichbare, das Abstraktionsprinzip verletzende Änderung der Geschäftsverteilung begründet worden sein könnte.
b) Der 4. Senat des FG war zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am , aufgrund derer das angefochtene Urteil ergangen ist, ordnungsgemäß besetzt. Die drei an der Entscheidung mitwirkenden Richter waren ausweislich des Geschäftsverteilungsplans als Mitglieder des 4. Senats zur Entscheidung berufen.
Dem steht nicht entgegen, dass der zu diesem Zeitpunkt im Geschäftsverteilungsplan noch angegebene Senatsvorsitzende laut Mitteilung des FG an den Senat aufgrund Altersteilzeit seit dem vollständig vom Dienst freigestellt war und das Präsidium des FG bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Streitfalls noch keinen neuen Senatsvorsitzenden bestimmt hatte. Denn nach § 21f des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) führt bei Verhinderung des Vorsitzenden das vom Präsidium bestimmte Mitglied des Spruchkörpers den Vorsitz. Diese Vorschrift gilt entsprechend, wenn die Stelle des Vorsitzenden Richters nicht besetzt ist, und zwar selbst dann, wenn die Stelle vorhersehbar vakant und nicht rechtzeitig wieder besetzt wurde. Die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts ist insofern nicht davon abhängig, ob eine vorübergehende Vakanz im Vorsitz des Spruchkörpers unvermeidbar war. Entsprechend anwendbar ist § 21f Abs. 2 Satz 1 GVG nach dem endgültigen Ausscheiden eines Vorsitzenden Richters aus dem Spruchkörper vielmehr solange, wie durch die Vakanz im Vorsitz keine wesentlich gewichtigere Beeinträchtigung der bei ordnungsgemäßer Besetzung des Spruchkörpers zu erwartenden Arbeitsweise zu erwarten ist als bei einem längeren Urlaub oder einer länger dauernden Krankheit (, BFHE 190, 47, BStBl II 2000, 88; , juris).
Der im Streitfall verstrichene Zeitraum zwischen dem Eintritt der Stellenvakanz zum und dem maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am von zwei Monaten und zwölf Tagen hindert nicht die entsprechende Anwendung des § 21f Abs. 2 Satz 1 GVG (so für den Zeitraum von 50 Tagen: BFH-Urteil in BFHE 190, 47, BStBl II 2000, 88; für zwei Monate: , juris). Ob die äußerste Grenze für den Fall einer vorhersehbaren Vakanz bei einem Zeitraum von drei Monaten liegt (so Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, 4. Aufl., § 59 Rz 3) bedarf hier keiner Entscheidung.
c) Entgegen der Darstellung des Klägers ist der Rechtsstreit in der Vorinstanz weder in unzulässiger Weise —nämlich unter Verletzung des Grundsatzes rechtlichen Gehörs— vom Senat auf den Einzelrichter noch vom Einzelrichter zurück auf den Senat übertragen worden. Eine Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter gemäß § 6 FGO hat ausweislich der Akten nicht stattgefunden. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang auf den Gerichtsbescheid vom verweist, so beruht dessen Erlass durch den damaligen Senatsvorsitzenden auf der Bestimmung des § 79a Abs. 2 Satz 1 FGO. Die Gewährung rechtlichen Gehörs war insoweit nicht geboten.
2. Das FG hat nicht gegen das aus § 76 Abs. 1 FGO folgende Aufklärungsgebot verstoßen, indem es die vom Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung benannte Zeugin nicht vernommen und den Kläger nicht persönlich angehört hat.
Das FG hat das Beweisangebot zu Recht als unsubstantiiert bewertet. Es bezog sich ausweislich der Sitzungsniederschrift auf das gänzlich unkonkrete Beweisthema, die Zeugin solle dazu gehört werden, „wann der Kläger den Bescheid erhalten hat”. Dem lässt sich weder entnehmen, ob die Zeugin im hier relevanten Zeitraum den Briefkasten des Klägers geleert noch welche konkreten Wahrnehmungen sie dabei gemacht haben soll. Die nachfolgend in der Sitzungsniederschrift wiedergegebene Äußerung des Prozessbevollmächtigten des Klägers, er wisse nicht, ob sich die Zeugin daran erinnern könne, wann der Haftungsbescheid in den Briefkasten des Klägers eingelegt worden sei, macht deutlich, dass es sich um einen ins Blaue hinein gestellten Ausforschungsbeweisantrag gehandelt hat. Einem solchen muss das FG nicht nachgehen (BFH-Beschlüsse vom VIII B 132/00, BFH/NV 2002, 661; vom VI B 275/00, BFH/NV 2003, 1052; vom IX B 134/02, BFH/NV 2003, 1086).
In Bezug auf die unterbliebene persönliche Anhörung des —ausweislich der Sitzungsniederschrift zur mündlichen Verhandlung nicht erschienenen— Klägers fehlt es schon deshalb an einer hinreichenden Darlegung des Zulassungsgrundes des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, weil sich aus dem Beschwerdevorbringen nicht ergibt, was der Kläger im Rahmen der persönlichen Anhörung erklärt hätte und aus welchen Gründen dies zu einer anderen Sachentscheidung des FG hätte führen können.
3. Ebenso wenig kann ein Verstoß gegen § 76 Abs. 1 FGO darin gesehen werden, dass das FG keine weiteren Ermittlungen zum Zeitpunkt der Aufgabe des Haftungsbescheides zur Post angestellt hat. Dem diesbezüglichen Vorbringen des Klägers lässt sich schon nicht entnehmen, ob der Zeitpunkt der Aufgabe zur Post erstinstanzlich überhaupt in Streit gestanden hat. Im Übrigen enthielt der Haftungsbescheid nach den Feststellungen des FG einen ausdrücklichen Postaufgabevermerk vom . Aus welchen Gründen das FG Anlass gehabt haben sollte, an der Richtigkeit des Vermerks zu zweifeln, ist nicht erkennbar.
Aus dem vom Kläger in Bezug genommenen (BFH/NV 2006, 1681) folgt nichts Gegenteiliges. Die im Beschlussfall für gegeben erachtete Pflicht zur weiteren Sachaufklärung betraf einen maschinell erteilten Steuerbescheid, der im Unterschied zum Streitfall offenkundig nicht mit einem Aufgabevermerk versehen worden war. Vergleichbares gilt für den (BFH/NV 2001, 1365), der einen Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht bejaht hat, weil im Beschlussfall das FG allein aufgrund des Datums des Bescheides auf den Absendezeitpunkt geschlossen hatte.
4. Soweit der Kläger eine unzutreffende Beweislastverteilung rügt, würde es sich hierbei —da im Streitfall keine Norm des Gerichtsverfahrensrechts betroffen wäre (vgl. zur Abgrenzung BFH-Beschluss in BFH/NV 2002, 661)— nicht um einen Verfahrensverstoß i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, sondern um einen materiell-rechtlichen Fehler handeln (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 82, m.w.N.). Dieser könnte nur unter den Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 FGO (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache bzw. Erforderlichkeit einer Entscheidung zur Rechtsfortbildung oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung) zur Revisionszulassung führen. Für deren Vorliegen ist im Streitfall nichts ersichtlich, weil sich das FG bei der Verteilung der Darlegungslast zum Zugang des Haftungsbescheids an der Rechtsprechung des BFH orientiert hat, wonach es zunächst dem Steuerpflichtigen obliegt, durch substantiiertes Vorbringen begründete Zweifel am Zugang innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung darzutun (BFH-Beschluss in BFH/NV 2001, 1365).
5. Schließlich liegen auch die gerügten Verfahrensfehler einer unzureichenden Urteilsbegründung und einer „Überraschungsentscheidung” nicht vor. Von einer Begründung sieht der Senat insoweit gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1686 Nr. 9
RAAAC-50782