BVerfG Beschluss v. - 2 BvR 2012/05

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 6 Abs. 1

Instanzenzug: OLG Nürnberg 2 Ws 283/05 vom LG Regensburg StVK 387/05 vom

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob das Rechtsschutzinteresse für einen auf Vollzugslockerungen im Maßregelvollzug gerichteten Antrag nach § 109 Abs. 1 StVollzG verneint werden kann, wenn dem Kläger solche Lockerungen unter der Voraussetzung in Aussicht gestellt worden sind, dass er vorheriger Verlegung in eine andere Einrichtung zustimmt.

1. Der Beschwerdeführer ist gemäß § 63 StGB im Bezirkskrankenhaus Straubing untergebracht.

Im Jahre 2005 beantragte er, ihm regelmäßig begleitete Einzelausgänge zu gewähren, damit er seine 80-jährige, nicht reisefähige Mutter in München besuchen könne. Das Bezirkskrankenhaus lehnte den Antrag unter Hinweis auf die Konzeption der Klinik, die keinerlei Patientenausgänge vorsehe, ab. Hiergegen wandte der Beschwerdeführer sich mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 109 Abs. 1 StVollzG). Zur Begründung trug er vor, das Bezirkskrankenhaus führe keine Missbrauchs- oder Fluchtgefahr als Versagungsgründe an, sondern allein die Konzeption der Klinik. Lägen aber die gesetzlich vorgesehenen Versagungsgründe nicht vor, so habe der Patient auf die Gewährung vertretbarer Lockerungsmaßnahmen einen Rechtsanspruch. Die Anstalt sei zudem verpflichtet, Besuche zwischen Angehörigen zum Schutz von Ehe und Familie zu unterstützen.

Das Bezirkskrankenhaus führte aus, wenn ein Patient therapeutische Fortschritte mache und sich auf diese Weise das Recht auf Lockerungen erwerbe, so werde er in eine weiterführende Klinik verlegt, wo er nach einer Bewährungsphase und nach Durchlaufen sogenannter Stufenpläne schrittweise in die Freiheit entlassen werde. Diese Voraussetzungen seien beim Beschwerdeführer bislang nicht erfüllt. Da der Wunsch des Beschwerdeführers jedoch in Anbetracht seiner langen Unterbringungsdauer verständlich erscheine, sei mit der ärztlichen Leitung des - näher bei München gelegenen - Bezirkskrankenhauses Haar vereinbart worden, ihn, unter Umständen auch kurzfristig, dort unterzubringen, um auf diese Weise Besuche bei der Mutter zu ermöglichen. Der Beschwerdeführer habe den Vorschlag jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass er einen aufreibenden Aufenthalt im Mehrbettzimmer unter Einhaltung des Stufenplanes scheue.

Der Beschwerdeführer machte demgegenüber geltend, das Bezirkskrankenhaus widerlege sich selbst, wenn es feststelle, er erfülle die Voraussetzungen für den dargestellten Weg zu Vollzugslockerungen derzeit nicht, solle aber dennoch im Hinblick auf solche Lockerungen verlegt werden. Die angebotene Verlegung lehne er wegen der im bayerischen Maßregelvollzug - mit Ausnahme der neuen Kliniken in Parsberg und Straubing - unzumutbaren räumlichen Enge ab. Es liege auf der Hand, welche negativen Auswirkungen die unzumutbaren Bedingungen der Unterbringung gerade für Forensikpatienten angesichts deren regelmäßig langer Unterbringungsdauer hätten. Er wolle auch nicht, wie es anderen Patienten geschehe, ständig vom Bezirkskrankenhaus Straubing in andere Kliniken und wieder zurück verlegt werden.

2. Mit Beschluss vom wies das Landgericht den Antrag als unzulässig zurück. Dem Beschwerdeführer fehle das Rechtsschutzbedürfnis für eine gerichtliche Entscheidung, da er die Konzeption des Bezirkskrankenhauses Straubing als Hochsicherheitseinrichtung ohne Patientenausgänge kenne und eine Verlegung ins Bezirkskrankenhaus Haar gleichwohl wegen der befürchteten Zimmerbelegung abgelehnt habe.

3. Die gegen diese Entscheidung erhobene Rechtsbeschwerde verwarf das als unzulässig, weil es die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG als nicht gegeben ansah.

II.

1. Mit seiner rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer in erster Linie eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Seine Kontakte zur Außenwelt beschränkten sich im Wesentlichen auf Besuche seiner Mutter, die alters- und krankheitsbedingt nicht mehr zu ihm reisen könne. Das Bezirkskrankenhaus Straubing verweigere ihm den beantragten begleiteten Ausgang unter Hinweis auf die Konzeption der Klinik, ohne konkrete Flucht- oder Missbrauchsbefürchtungen anzuführen.

Die Konzeption, auf die die Klinik sich berufe, verstoße gegen § 63 StGB, da die Unterbringung primär auf Heilung des Straftäters gerichtet sein müsse. Eine Versagung von Vollzugslockerungen aus anderen als den gesetzlich fixierten Versagungsgründen sei nicht zulässig; lägen gesetzliche Versagungsgründe nicht vor, so bestehe auf die beantragte Lockerung ein Rechtsanspruch. Zudem gebe es zwei Prognosegutachten aus den Jahren 2001 und 2005, die Vollzugslockerungen befürworteten. Da er nach der Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses Straubing vom die Voraussetzungen für Lockerungen derzeit nicht erfülle, sei mit einer Lockerung auch nach Verlegung in das Bezirkskrankenhaus Haar nicht zu rechnen.

2. Nach Auffassung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, jedenfalls aber unbegründet. Das Bezirkskrankenhaus Straubing sei als Hochsicherheitsforensik konzipiert und sehe daher keine Patientenausgänge vor. Patienten mit begründetem Lockerungsbedürfnis könnten in andere forensische Einrichtungen verlegt werden, um die angestrebten Lockerungen von dort aus durchzuführen. Dies sei im Jahr 2005 dem Beschwerdeführer angeboten worden, von diesem jedoch aus unzutreffenden Gründen abgelehnt worden. Die vom Beschwerdeführer gegebene Beschreibung des Unterbringungsstandards im bayerischen Maßregelvollzug widerspreche den aktuellen Gegebenheiten. Dem stetigen Belegungsanstieg habe durch Neubau oder Sanierung begegnet werden können. Bettensäle existierten - von wenigen Provisorien abgesehen - nicht mehr. Der Beschwerdeführer habe die Bemühungen, seinem Wunsch nach Vollzugslockerungen Rechnung zu tragen, in nicht nachvollziehbarer Weise zurückgewiesen. Im Falle seiner Zustimmung zu einer Verlegung wären Vollzugslockerungen sehr wohl möglich gewesen. Es liege ausschließlich im Verantwortungsbereich des Beschwerdeführers, dass diese Möglichkeit bislang nicht bestanden habe. Daher fehle für seine Verfassungsbeschwerde das Rechtsschutzbedürfnis. Darüber hinaus sei die Verfassungsbeschwerde auch unbegründet. Dass die Strafvollstreckungskammer das Rechtsschutzinteresse aufgrund der unberechtigten Ablehnung einer Verlegung verneint habe, sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen die Pflicht, den Sachverhalt umfassend aufzuklären, seien nicht ersichtlich.

3. Die Verfahrensakte StVK 387/2005 hat der Kammer vorgelegen.

III.

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung der Kammer liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (siehe unter 3.). Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 BVerfGG. Der angegriffene Beschluss des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Ein Rechtsschutzbedürfnis kann dem Beschwerdeführer nicht mit der Begründung abgesprochen werden, dass es bei ihm liege, die begehrten Vollzugslockerungen durch Zustimmung zu seiner Verlegung zu ermöglichen; vielmehr hat das Landgericht gerade dadurch, dass es ein Rechtsschutzbedürfnis mit dieser Begründung verneint hat, das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt (dazu im Einzelnen unter 4.).

Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde scheitert auch nicht daran, dass der Beschwerdeführer Art. 19 Abs. 4 GG nicht ausdrücklich als verletzt bezeichnet hat (vgl. BVerfGE 47, 182 <187>; 102, 370 <384>).

3. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 67, 43 <58>; stRspr). Zwar ist es mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem vorhandenen und fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>; 104, 220 <232>).

Der Zugang zu einer gerichtlichen Sachentscheidung darf jedoch durch die Auslegung und Anwendung des Prozessrechts nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>; 110, 339 <342>). Die Auslegung und Anwendung prozessualer Regeln darf gesetzlich vorgesehene Rechtsbehelfe nicht für den, der davon Gebrauch machen will, leerlaufen lassen (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des -, NJW 2002, S. 2700). Dies gilt auch für die Anforderungen an das Bestehen eines Rechtsschutzinteresses. Von einem solchen Interesse ist auszugehen, solange der Rechtsschutzsuchende gegenwärtig betroffen ist und mit seinem Rechtsmittel ein konkretes praktisches Ziel erreichen kann (Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des -, NVwZ 2006, S. 579 <582>).

4. Den daraus sich ergebenden Anforderungen wird der angegriffene Beschluss des Landgerichts, der dem Beschwerdeführer "jegliches Rechtsschutzbedürfnis" für seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung abspricht, nicht gerecht. Das Landgericht hat ein Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers mit offensichtlich unhaltbarer Begründung verneint.

Klageziel des Beschwerdeführers war die Gewährung begleiteter Ausgänge aus dem Bezirkskrankenhaus Straubing. Gegen die diesbezüglich ablehnende Entscheidung hatte er sich mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung gewandt, und sein Vortrag im fachgerichtlichen Verfahren ging dahin, dass die Gewährung der beantragten Ausgänge gerade nicht von vorgängiger Verlegung in eine andere Klinik abhängig gemacht werden dürfe.

Für das auf Ausgänge aus dem Bezirkskrankenhaus Straubing gerichtete Klagebegehren entfiel das Rechtsschutzbedürfnis nicht dadurch, dass dem Beschwerdeführer Ausgänge aus dem Bezirkskrankenhaus Haar für den Fall seiner Zustimmung zur Verlegung dorthin in Aussicht gestellt worden waren. Weder war damit seinem Begehren schon Rechnung getragen, noch ist der Unterschied zwischen dem, was der Beschwerdeführer begehrte - Ausgänge aus der Straubinger Klinik -, und dem, was ihm in Aussicht gestellt worden war - eventuelle Gewährung von Ausgängen nach einer Verlegung -, in rechtlicher Hinsicht derart offensichtlich irrelevant, dass es angehen könnte, schon das Interesse an der Klärung der Berechtigung des weitergehenden Begehrens zu verneinen. Ob der Beschwerdeführer sich, um begehrte Vollzugslockerungen erreichen zu können, zunächst auf die Verlegung in eine andere Klinik einlassen muss, ist im Gegenteil eine Frage, die seine Rechtssphäre in erheblicher Weise berührt (vgl. zur Grundrechtsrelevanz ungewollter Verlegungen BVerfGK 6, 260 <264> m.w.N.). Wird eine die Rechtssphäre des Antragstellers berührende behördliche Entscheidung, wie im vorliegenden Fall die Entscheidung über Vollzugslockerungen, an Bedingungen - hier insbesondere die Bedingung einer vorgängigen Verlegung - geknüpft, die ihrerseits die Rechtssphäre des Antragstellers berühren oder möglicherweise berühren, dann kann weder das Interesse des Antragstellers an gerichtlichem Rechtsschutz gegen diese Verknüpfung verneint noch der gebotenen Sachprüfung dadurch ausgewichen werden, dass das Begehren des Antragstellers so behandelt wird, als beziehe es sich nicht auf die Verknüpfung, sondern nur auf eines ihrer Elemente.

Das Landgericht hätte sich daher mit dem Begehren des Beschwerdeführers in der Sache befassen und der Frage nachgehen müssen, ob die vom Beschwerdeführer beantragten Ausgänge allein unter Hinweis auf die Klinikkonzeption des Bezirkskrankenhauses Straubing abgelehnt werden durften.

Ob der Beschluss den Beschwerdeführer in weiteren Grundrechten verletzt, kann wegen des bereits festgestellten Grundrechtsverstoßes offen bleiben.

5. Die Entscheidung beruht auf diesem Grundrechtsverstoß. Sie ist daher aufzuheben und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG). Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird damit gegenstandslos.

6. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Fundstelle(n):
CAAAC-48675