BFH Urteil v. - III R 86/06

Keine Korrektur eines bestandskräftigen Kindergeldbescheides aufgrund geänderter Rechtauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG

Gesetze: EStG § 32 Abs. 4; EStG § 70 Abs. 4; AO § 173

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) hat u.a. einen im Jahr 1981 geborenen Sohn, der sich in der Zeit vom bis in Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann befand.

Mit Bescheid vom hob die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes für den Sohn ab Januar 2003 auf, da dieser nach ihren Berechnungen Einkünfte und Bezüge von mehr als 7 188 € habe (§ 32 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2003 geltenden Fassung —EStG—). Der Bescheid wurde nicht angefochten.

Mit Schreiben vom beantragte der Kläger für seinen Sohn erneut Kindergeld für die Jahre 2003 und 2004. Die Familienkasse habe in ihrem Bescheid vom nicht berücksichtigt, dass nach dem (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) die Sozialversicherungsbeiträge nicht in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einbezogen werden dürften. Mit Bescheid vom setzte die Familienkasse daraufhin Kindergeld für den Zeitraum Januar 2004 bis Januar 2005 fest. Die Festsetzung von Kindergeld für das Jahr 2003 lehnte die Familienkasse unter Hinweis auf die Bestandskraft des Bescheids vom ab. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es führte im Wesentlichen aus, einer Kindergeldfestsetzung für das Jahr 2003 stehe der Aufhebungsbescheid vom entgegen, dessen Bestandskraft im Streitfall mangels einer einschlägigen Korrekturvorschrift nicht durchbrochen werden könne.

Der Kläger rügt mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts.

Er beantragt, den Bescheid der Familienkasse vom aufzuheben und Kindergeld für seinen Sohn für das Jahr 2003 festzusetzen.

Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.

Das FG hat zutreffend entschieden, dass der vom Kläger begehrten Festsetzung von Kindergeld für das Jahr 2003 die Bestandskraft des Bescheids vom entgegensteht und dieser Bescheid nicht nach § 70 Abs. 2 bis 4 EStG oder nach §§ 172 ff. der Abgabenordnung (AO) zu ändern ist.

1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7 188 € im Kalenderjahr (2003) hat.

2. Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom die Kindergeldfestsetzung rückwirkend für das Jahr 2003 aufgehoben, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2003 den Jahresgrenzbetrag überstiegen. Da der Kläger nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO Einspruch eingelegt hat, ist der Bescheid bestandskräftig geworden.

Die Auffassung des Klägers, der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 sei im Streitfall verfassungsrechtlich zwingend umzusetzen, ist unzutreffend. Die Bestandskraft des Aufhebungsbescheids vom wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG —wie im Streitfall— lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz (GG) erklärt hat (Senatsurteil vom III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).

Das BVerfG hat § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG wiederholt im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens für verfassungsmäßig erklärt (vgl. u.a., BVerfGE 20, 230, m.w.N.). Es versteht § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG darüber hinaus als Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens, dass nachteilige Wirkungen, die von fehlerhaften Akten der öffentlichen Gewalt in der Vergangenheit ausgegangen sind, nicht beseitigt werden müssen ( u.a., BVerfGE 37, 217, m.w.N.).

Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.). Der Bescheid vom stand zum Zeitpunkt seines Ergehens im Einklang mit der Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG durch den Bundesfinanzhof (BFH), nach welcher der Arbeitslohn nicht um die gesetzlichen Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung zu kürzen ist (vgl. , BFHE 204, 126, BStBl II 2004, 584, m.w.N.). Eine —wie der Kläger meint— systematische Diskriminierung der Familien vermag der Senat darin nicht zu erkennen.

3. Der Senat hat mit seinem Urteil in BFH/NV 2006, 2204 bereits entschieden, dass ein bestandskräftiger Bescheid, mit welchem die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für das abgelaufene Kalenderjahr wegen Überschreitens des Grenzbetrages nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG abgelehnt hat, nicht aufgrund der Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260, nach § 70 Abs. 2 bis 4 EStG oder §§ 172 ff. AO korrigiert werden kann. Nichts anderes gilt für Bescheide, mit welchen die Familienkasse —wie im Streitfall— die Kindergeldfestsetzung für ein abgelaufenes Kalenderjahr rückwirkend aufgehoben hat (Senatsurteil vom III R 41/06, BFH/NV 2007, 419). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf das Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204 verwiesen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1485 Nr. 8
CAAAC-48516