BGH Beschluss v. - VI ZB 80/06

Leitsatz

[1] Zum Beweis des rechtzeitigen Eingangs mit Einwurf der Berufungsschrift in den Nachtbriefkasten durch den Prozessbevollmächtigten des Rechtsmittelführers.

Gesetze: ZPO § 519 Abs. 1

Instanzenzug: AG Pirna 4 C 3/06 vom LG Dresden 4 S 539/06 vom

Gründe

I.

Der Kläger nimmt die Beklagten auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden nach einem Verkehrsunfall vom in Anspruch. Das Amtsgericht P. hat die Klage zum Teil abgewiesen. Dieses Urteil ist den Prozessbevollmächtigten des Klägers am zugestellt worden. Mit Schriftsatz vom hat der Kläger Berufung eingelegt. Der Schriftsatz ist beim Berufungsgericht ausweislich des Eingangsstempels am eingegangen. Mit Verfügung des Vorsitzenden der 4. Zivilkammer des Landgerichts D. vom wurde der Kläger darauf hingewiesen, "dass die Berufung unzulässig sein dürfte, da ... die Berufungsfrist nicht eingehalten sein dürfte".

Mit Schriftsatz vom beantragte der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte dar, der Prozessbevollmächtigte des Klägers habe sich in Kenntnis der am ablaufenden Frist persönlich zum Landgericht D. begeben und die Berufungsschrift zusammen mit einem anderen Schriftsatz am zwischen 13.00 und 14.00 Uhr in den Nachtbriefkasten gesteckt. Auch auf dem anderen Schriftsatz sei als Eingangsstempel der vermerkt worden. Voraussetzung für eine Wiedereinsetzung sei die Versäumung einer Frist. Der Unterzeichner des Schriftsatzes trage ausdrücklich vor, dass keine Frist versäumt worden sei. Ob für eine Wiedereinsetzung Raum bleibe, möge das Gericht entscheiden. Der Unterzeichner sei sich sicher, die Schriftsätze bereits am in den Briefkasten des Landgerichts gesteckt und am , einem Feiertag, keine Post zum Landgericht gebracht zu haben. Er sei ohne weiteres bereit, dies gemäß § 236 Abs. 2 ZPO an Eides statt zu versichern.

Mit Verfügung vom ordnete der Vorsitzende des Berufungsgerichts eine Anfrage bei der Poststelle an, ob am 2. bzw. Probleme technischer Art beim Nachtbriefkasten bekannt seien. Nach Mitteilung der Poststelle (Herr H.) - so ein weiterer Vermerk in der Akte - seien an diesen Tagen keine Probleme aufgetreten. Eine Mitteilung der Nachfrage und ihrer Beantwortung an den Kläger erfolgte nicht.

Mit Schriftsatz vom , per Fax am selben Tag beim Landgericht eingegangen, beantragte der Kläger Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis und bat, zunächst über den Wiedereinsetzungsantrag zu entscheiden. Die Fristverlängerung hat der Vorsitzende des Berufungsgerichts antragsgemäß am gewährt.

Die Beklagten sind dem Antrag auf Wiedereinsetzung entgegengetreten. Der Schriftsatz des Klägers vom enthalte keine Beweisangebote. Die bloße Behauptung rechtzeitigen Eingangs genüge nicht. Die Rechtzeitigkeit müsse vielmehr zur vollen Überzeugung des Gerichts nachgewiesen werden.

Mit dem angefochtenen Beschluss vom hat das Landgericht die Berufung des Klägers und seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, ausweislich des Posteingangsstempels sei die Berufung erst nach Ablauf der Berufungsfrist am eingegangen. Der Eingangsstempel entfalte nach § 418 ZPO Beweiskraft. Der Gegenbeweis sei mit der Behauptung des Einwurfs am nicht angetreten. Eine Nachfrage habe im Übrigen ergeben, dass es am 2./ zu keinen technischen Problemen gekommen sei. Der Wiedereinsetzungsantrag sei unzulässig, weil nur die Einhaltung der Frist behauptet werde.

Mit seiner Rechtsbeschwerde vom begehrt der Kläger, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

II.

Der angefochtene Beschluss hält den Angriffen der Rechtsbeschwerde nicht stand.

1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (vgl. BVerfGE 79, 372, 376 f.; BVerfG NJW-RR 2002, 1004).

2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.

Das Berufungsgericht durfte die Berufung nicht mit der Begründung als unzulässig verwerfen, der Kläger habe nicht unter Beweis gestellt, dass die Berufungsschrift rechtzeitig bei Gericht eingegangen sei. Ausgehend vom Vorbringen des Klägers hat der Einwurf der Berufungsschrift in den Nachtbriefkasten am die Berufungsfrist gewahrt (§ 517 ZPO). Mit diesem Vortrag setzt sich das Berufungsgericht nicht in der erforderlichen Weise auseinander.

a) Richtig ist zwar, dass der Eingangsstempel des Landgerichts gemäß § 418 Abs. 1 ZPO Beweis für den Zeitpunkt des Eingangs eines Schriftsatzes bei Gericht erbringt. Nach § 418 Abs. 2 ZPO ist jedoch ein Beweis der Unrichtigkeit der darin bezeugten Tatsachen - zur vollen Überzeugung des Gerichts - zulässig. Allein die kaum jemals völlig auszuschließende Möglichkeit, dass ein Nachtbriefkasten aus technischen Gründen nicht funktioniert oder bei der Abstempelung Fehler unterlaufen, reicht zur Führung dieses Beweises jedoch nicht aus. Andererseits dürfen wegen der Beweisnot der betroffenen Partei an den Gegenbeweis nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keine überspannten Anforderungen gestellt werden (vgl. - BGHR-ZPO § 519 Abs. 2 Satz 2 Fristablauf 1; Urteil vom - VII ZR 33/04 - NJW-RR 2005, 75; Beschluss vom - III ZB 81/04 - VersR 2005, 1750, 1751; Urteil vom - III ZR 10/06 - NJW 2007, 603). Da der Außenstehende in der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des gerichtlichen Nachtbriefkastens sowie das Verfahren bei dessen Leerung und damit keinen Anhaltspunkt für etwaige Fehlerquellen hat, ist es zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Aufklärung nötigen Maßnahmen zu ergreifen (vgl. - aaO). Dem entspricht es nur zum Teil, dass das Berufungsgericht eine formlose dienstliche Äußerung lediglich mittelbar eingeholt hat, nicht aber die für die Leerung des Nachtbriefkastens zuständigen Personen selbst näher zur Bearbeitung der Post vor und nach Feiertagen im Einzelnen befragt hat. Das wird es nachzuholen haben. Dabei wird zu beachten sein, dass - wie bei jeder Beweisaufnahme - den Parteien des Rechtsstreits Gelegenheit zur Kenntnisnahme und zur eigenen Würdigung zu geben ist (vgl. §§ 355 Abs. 1 Satz 1, 357 Abs. 1, 358 ZPO; Art. 103 Abs. 1 GG).

Die Rechtsbeschwerde weist darauf hin, dass der Kläger bei Möglichkeit einer Stellungnahme zu der Auskunft der Poststelle seinerseits zum Beweis für seine Darstellung die Vernehmung seines Prozessbevollmächtigten, Rechtsanwalt D., als Zeugen angeboten hätte.

b) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet im Übrigen das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die von den Fachgerichten zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. den Grundsätzen der ZPO die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge (vgl. BVerfG NJW-RR 2001, 1006, 1007). Nach diesen Maßstäben hat das Berufungsgericht Art. 103 Abs.1 GG verletzt.

Der Kläger hatte im Schriftsatz vom vorgetragen, dass die Berufungsschrift rechtzeitig durch Einwurf in den Briefkasten des Landgerichts bei dem Berufungsgericht eingegangen sei; in diesem Schriftsatz hatte der Prozessbevollmächtigte des Klägers zudem seine Bereitschaft erklärt, seinen Vortrag zur Fristwahrung an Eides Statt zu versichern. Ein solches Angebot, eine eidesstattliche Versicherung des Anwalts beizubringen, hätte das Berufungsgericht unbedenklich als Benennung des Rechtsanwalts als Zeugen werten können. Zumindest aber hätte es beim Kläger anfragen müssen, ob Rechtsanwalt D. als Zeuge benannt werde (vgl. Beschluss vom - XII ZB 100/92 - aaO).

Nach § 139 Abs. 2 ZPO hat der Vorsitzende des Prozessgerichts nämlich die Parteien auf die Bedenken aufmerksam zu machen, die in Ansehung der von Amts wegen zu berücksichtigenden Punkte bestehen. Genügte dem Berufungsgericht die angekündigte Bereitschaft zur eidesstattlichen Versicherung des Rechtsanwalts D. nicht als Beweisangebot, hätte der Vorsitzende da-rauf hinwirken müssen, dass Zeugenbeweis angetreten wird (vgl. Senat, Urteil vom - VI ZR 306/93 - EzFamR ZPO § 418 Nr. 2; - VersR 1984, 442, 443). Der Prozessbevollmächtigte einer Partei kann auch bei Fortdauer seiner Funktion als Zeuge vernommen werden (vgl. Senat, Urteil vom - VI ZR 306/93 - EzFamR ZPO § 418 Nr. 2; Zöller/Greger, ZPO, 26. Aufl., § 373 Rn. 5).

Hätte das Berufungsgericht seiner Aufklärungspflicht aus § 139 ZPO genügt, hätte der Kläger nach dem Vortrag der Rechtsbeschwerde den näher bezeichneten Zeugen benannt.

3. Nach allem ist der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 574 Abs. 4 ZPO).

Fundstelle(n):
NJW 2007 S. 3069 Nr. 42
MAAAC-47383

1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja