EuGH Urteil v. - C-33/93

Leitsatz

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Die Gegenleistung für eine Lieferung von Gegenständen und demzufolge ihre Besteuerungsgrundlage im Sinne von Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 77/388 kann aus einer Dienstleistung bestehen, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Lieferung von Gegenständen und der Dienstleistung besteht und wenn der Wert der Dienstleistung in Geld ausgedrückt werden kann. Dieser Wert, bei dem es sich um einen subjektiven Wert und nicht um einen nach objektiven Maßstäben geschätzten Wert handelt, muß ° da er nicht aus einem zwischen den Beteiligten vereinbarten Geldbetrag besteht ° derjenige Wert sein, den der Empfänger der Dienstleistung, die als Gegenleistung für die Lieferung von Gegenständen erbracht wird, den Dienstleistungen beimisst, die er sich verschaffen will, und dem Betrag entsprechen, den er zu diesem Zweck aufzuwenden bereit ist.

Die Besteuerungsgrundlage für einen Artikel, den ein Lieferer einer Person, die sich selbst oder eine andere Person als potentielle neue Kundin vorstellt, ohne Zuzahlung als Gegenleistung nicht für den getätigten Kauf, sondern für die Vorstellung einer neuen Kundin liefert, ist daher nach Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a nicht die Besteuerungsgrundlage für diejenigen Gegenstände, die von der neuen Kundin bei demselben Lieferer gekauft werden, sondern entspricht dem Kaufpreis, den der Lieferer für den Erwerb dieses Artikels gezahlt hat.

Gesetze: EWG-Vertrag Art. 177 ; 6. Richtlinie 77/388/EWG vom Art. 11 Teil A Abs. 1 a

Gründe

1 Die Valü Added Tax Tribunals, Manchester Tribunal Centre, haben mit Beschluß vom , beim Gerichtshof eingegangen am , gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung des Artikels 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen der Empire Stores Ltd (im folgenden: Klägerin) und den Commissioners of Customs and Excise (im folgenden: Beklagte) wegen zweier Steuerbescheide über die Festsetzung der Mehrwertsteuer, die die Klägerin für Gegenstände schuldet, die sie Personen geschenkt hatte, die entweder sich selbst als potentielle neue Kundinnen oder die der Klägerin andere Personen als solche Kundinnen vorgestellt hatten.

3 Die Klägerin ist ein Versandhandelsunternehmen. Ihre Kundschaft besteht im wesentlichen aus Frauen. Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich, daß die Klägerin während der Zeiträume, auf die sich die Steuerbescheide beziehen, zwei Verfahren anwandte, um neue Kundinnen zu werben.

4 Bei dem ersten, "self-introduction scheme" genannten Verfahren bot die Klägerin potentiellen Kundinnen einen Artikel an, den diese auf einer Liste aus mehreren Artikeln auswählen konnten und der ihnen ohne Zuzahlung geliefert wurde, sobald sie zum Nachweis ihrer Zahlungsfähigkeit ein Formblatt ausgefuellt hatten, in dem ihnen Fragen nach ihrer persönlichen Situation gestellt wurden, von der Klägerin zugelassen waren und Artikel aus dem Verkaufskatalog der Klägerin bestellt oder zumindest eine erste Zahlung in bezug auf eine solche Bestellung vorgenommen hatten. Bei dem zweiten, "introduce-a-friend scheme" genannten Verfahren bot die Klägerin vorhandenen Kundinnen, die eine Freundin als potentielle Kundin vorstellten, einen solchen Artikel an, der den Kundinnen geliefert wurde, sobald die Freundin das Formular ausgefuellt hatte, von der Klägerin zugelassen war und eine erste Zahlung in bezug auf eine von ihr vorgenommene Bestellung getätigt hatte.

5 Unabhängig von dem angewandten Verfahren verbuchte die Klägerin die für die gelieferten Artikel geschuldete Mehrwertsteuer auf der Grundlage des Selbstkostenpreises dieser Artikel. Die Beklagten waren der Auffassung, die Mehrwertsteuer müsse auf der Grundlage des Selbstkostenpreises vor Steuern, zuzueglich 50 %, berechnet werden, was nach ihrer Schätzung den Preisen entsprach, die die Klägerin für die betreffenden Artikel berechnet hätte, wenn diese in ihrem Verkaufskatalog angeboten worden wären, und erließen entsprechende Steuerbescheide.

6 Die Klägerin erhob gegen diese Steuerbescheide Klage bei den Valü Added Tax Tribunals, Manchester Tribunal Centre; diese führten in einer Entscheidung vom aus, daß den Klagen stattzugeben und die streitigen Steuerbescheide aufzuheben seien, wobei sie folgendes hinzufügten: "In diesem Verfahrensstadium mag jedoch eine Partei oder mögen beide Parteien den Wunsch haben, daß eine oder mehrere der in der vorliegenden Entscheidung behandelten Fragen dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vorgelegt wird. Diese Entscheidung ergeht daher vorläufig. Für den Fall, daß eine der Parteien binnen einer Frist von zwei Monaten von Verkündung der Entscheidung an den Antrag stellt, eine oder mehrere Fragen dem Gerichtshof vorzulegen, ordnen wir an, daß ein Vorsitzender als Einzelrichter über diesen Antrag entscheidet und daß das Verfahren in der Hauptsache bis zum Erlaß einer weiteren Anordnung ausgesetzt wird, wobei es den Parteien freisteht, seine Wiedereröffnung zu beantragen. Stellen die Parteien binnen der oben genannten Frist keinen Antrag auf ein Vorabentscheidungsersuchen, so wird unsere Entscheidung mit Ablauf dieser Frist endgültig."

7 Nachdem die Klägerin am einen solchen Antrag eingereicht und das vorlegende Gericht entschieden hatte, daß es sich bei den vorgeschlagenen Fragen um solche handele, deren Beantwortung "das erkennende Gericht zum Erlaß seines Urteils... für erforderlich hält", haben die Valü Added Tax Tribunals, Manchester Tribunal Centre, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Wendet ein Lieferer von Waren, die per Post aus einem Katalog bestellt werden ("Katalog-Waren") ° in allen Einzelheiten in der als Anlage beigefügten Entscheidung beschriebene ° Verfahren an, in deren Rahmen

i) der Lieferer dann, wenn eine potentielle Kundin zufriedenstellende Angaben über sich selbst (insbesondere hinsichtlich ihrer Kreditwürdigkeit) macht, verspricht, dieser, wenn und sobald sie zugelassen ist und entweder Katalog-Waren bestellt oder ° je nach Lage des Falles ° Katalog-Waren bestellt und ordnungsgemäß eine Zahlung für diese Waren vornimmt, ohne Zuzahlung einen von ihr aus einem von dem Lieferer angebotenen Warensortiment ausgewählten Artikel zu liefern, der auch aus seinem Katalog bestellbar sein kann, und

ii) der Lieferer dann, wenn eine schon vorhandene Kundin eine neue potentielle Kundin, die zufriedenstellende Angaben über sich selbst (insbesondere hinsichtlich ihrer Kreditwürdigkeit) macht, findet und für den Lieferer wirbt, verspricht, dieser bereits vorhandenen Kundin, wenn und sobald die geworbene Person zugelassen ist und entweder Katalog-Waren bestellt oder ° je nach Lage des Falles ° Katalog-Waren bestellt und ordnungsgemäß eine Zahlung für diese Waren vornimmt, ohne Zuzahlung einen von der schon vorhandenen Kundin aus einem von dem Lieferer angebotenen Warensortiment ausgewählten Artikel zu liefern, der auch aus seinem Katalog bestellbar sein kann,

und sind die nicht auf diese Weise bestellbaren Artikel ("Nicht-Katalog-Waren"), die wie vorstehend beschrieben geliefert werden, nicht auf andere Weise Gegenstand von Lieferungen durch den Lieferer und nicht mit einem normalen Verkaufspreis versehen, wie sind dann im Rahmen der Anwendung des Artikels 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG vom ; ABl. L 145, S. 1) folgende Fragen ° in bezug auf die beiden Verfahren ° zu beantworten:

1) Erfolgt die Lieferung von Nicht-Katalog-Waren für eine andere Gegenleistung als den Geldbetrag, der dem Lieferer für die bei ihm bestellten Katalog-Waren zu zahlen ist?

2) Wenn die Frage 1) zu bejahen ist, wie ist dann die Besteuerungsgrundlage zu bestimmen? Ist die Besteuerungsgrundlage

i) der vom Lieferer gezahlte Einkaufspreis oder

ii) der (im Einklang mit den Preisfestsetzungsverfahren des Lieferers berechnete) Preis, zu dem der Lieferer die Waren verkaufen würde, wenn sie auch in seinem Katalog angeboten würden, oder

iii) irgendein anderer, und wenn ja, welcher Betrag?

8 Die Kommission bezweifelt die Zulässigkeit der Vorabentscheidungsfragen. Sie ist der Auffassung, eine Beantwortung dieser Fragen durch den Gerichtshof sei nicht "erforderlich" im Sinne von Artikel 177 Absatz 2 EWG-Vertrag, da das vorlegende Gericht in seiner Entscheidung vom ausdrücklich festgestellt habe, daß den von der Klägerin erhobenen Klagen stattzugeben sei und die streitigen Steuerbescheide aufzuheben seien.

9 Wie sich aus den Randnummern 6 und 7 dieses Urteils ergibt, hat das vorlegende Gericht jedoch die Entscheidung vom selbst als "vorläufig" bezeichnet und in seinem Vorlagebeschluß vom festgestellt, daß die vorgelegten Fragen beantwortet werden müssten, damit es in der Sache entscheiden könne.

10 Die erste Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob die Besteuerungsgrundlage für einen Artikel, den ein Lieferer unter den in der Vorabentscheidungsfrage beschriebenen Voraussetzungen ohne Zuzahlung an eine Person liefert, die sich selbst oder eine andere Person als potentielle neue Kundin vorstellt, nach Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie eine andere als die Besteuerungsgrundlage für diejenigen Gegenstände ist, die von der neuen Kundin bei demselben Lieferer gekauft werden; die zweite Frage geht dahin, wie die Besteuerungsgrundlage der ohne Zuzahlung gelieferten Artikel bei Bejahung der ersten Frage zu bestimmen ist.

11 Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie bestimmt:

"Die Besteuerungsgrundlage ist:

a) bei Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter den Buchstaben b, c und d genannt sind, alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen;

..."

12 Nach dem Urteil vom in der Rechtssache 230/87 (Naturally Yours Cosmetics, Slg. 1988, 6365, Randnrn. 11, 12 und 16) kann die Gegenleistung für eine Lieferung von Gegenständen aus einer Dienstleistung bestehen und deren Besteuerungsgrundlage im Sinne von Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie sein, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Lieferung von Gegenständen und der Dienstleistung besteht und wenn der Wert der Dienstleistung in Geld ausgedrückt werden kann.

13 Hierzu ergibt sich aus der im Vorlagebeschluß wiedergegebenen und in den Vorabentscheidungsfragen zusammengefassten Beschreibung der von der Klägerin zur Anwerbung neuer Kundinnen angewandten Verfahren, daß die Lieferung des ohne Zuzahlung zugesandten Artikels unter Voraussetzungen, wie sie im Ausgangsverfahren vorliegen, als Gegenleistung für die Vorstellung einer potentiellen Kundin und nicht für den Kauf von im Verkaufskatalog der Klägerin angebotenen Waren durch diese Kundin erfolgt.

14 Dem entspricht es, daß ein solcher Artikel nicht bei jeder Bestellung und daß er bei dem als "introduce-a-friend scheme" bezeichneten Verfahren nicht an die Kundin geliefert wird, die eine Bestellung aufgegeben und die entsprechende Zahlung vorgenommen hat, sondern an die Person, die der Klägerin die Kundin vorgestellt hat.

15 Daran ändert sich nichts dadurch, daß die Lieferung des Artikels von der Zulassung der neuen Kundin durch die Klägerin, der Bestellung und der entsprechenden Zahlung durch diese Kundin abhängt. Wie der Generalanwalt in Nummer 15 seiner Schlussanträge hervorhebt, verliert die Lieferung des Artikels nämlich dadurch, daß sie von zusätzlichen Bedingungen abhängig ist, nicht ihren Charakter als Vergütung für die von der Klägerin empfangenen Dienstleistungen. Ausserdem müssen diese zusätzlichen Bedingungen in dem als "introduce-a-friend scheme" bezeichneten Verfahren bei der neuen Kundin und nicht bei der Person erfuellt sein, deren Dienstleistung durch die Lieferung des Artikels vergütet wird.

16 Der Zusammenhang zwischen der Lieferung des ohne Zuzahlung zugesandten Artikels und der Vorstellung einer potentiellen Kundin ist als unmittelbar zu qualifizieren: Wird diese Dienstleistung nicht erbracht, so wird ein Artikel ohne Zuzahlung von der Klägerin weder geschuldet noch geliefert.

17 Da die gegenüber der Klägerin erbrachten Dienstleistungen durch die Lieferung eines Gegenstands vergütet werden, kann ihr Wert darüber hinaus unbestreitbar in Geld ausgedrückt werden.

18 Was die Bestimmung dieses Wertes angeht, die Gegenstand der zweiten Frage ist, so hat der Gerichtshof im Urteil Naturally Yours Cosmetics (a. a. O., Randnr. 16) festgestellt, daß der als Besteuerungsgrundlage dienende Gegenwert einer Lieferung von Gegenständen ein subjektiver Wert ist, da die Besteuerungsgrundlage die tatsächlich erhaltene Gegenleistung ist, nicht aber ein nach objektiven Maßstäben geschätzter Wert.

19 Da dieser Wert nicht aus einem zwischen den Beteiligten vereinbarten Geldbetrag besteht, muß er als subjektiver Wert derjenige Wert sein, den der Empfänger der Dienstleistung, die die Gegenleistung für die Lieferung von Gegenständen darstellt, den Dienstleistungen beimisst, die er sich verschaffen will, und dem Betrag entsprechen, den er zu diesem Zweck aufzuwenden bereit ist. Wenn es sich wie im Ausgangsverfahren um die Lieferung eines Gegenstands handelt, kann dieser Wert nur der Kaufpreis sein, den der Lieferer für den Erwerb des Artikels gezahlt hat, den er als Gegenleistung für die betreffenden Dienstleistungen ohne Zuzahlung liefert.

20 Auf die Fragen des vorlegenden Gerichts ist daher zu antworten, daß die Besteuerungsgrundlage für einen Artikel, den ein Lieferer ohne Zuzahlung an eine Person liefert, die sich selbst oder eine andere Person als potentielle neue Kundin vorstellt, nach Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie eine andere als die Besteuerungsgrundlage für diejenigen Gegenstände ist, die von der neuen Kundin bei demselben Lieferer gekauft werden, und daß sie dem Kaufpreis entspricht, den der Lieferer für den Erwerb dieses Artikels gezahlt hat.

Kostenentscheidung:

Kosten

21 Die Auslagen der portugiesischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit ; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Fundstelle(n):
VAAAC-43255

1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg