EuGH Urteil v. - C-185/89

Leitsatz

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Artikel 15 Nr. 4 der Sechsten Richtlinie ( 77/388 ), der eine Steuerbefreiung für Lieferungen von Gegenständen zur Versorgung von Schiffen vorsieht, ist dahin auszulegen, daß als solche nur Lieferungen an einen Betreiber von Schiffen angesehen werden können, der diese Gegenstände zur Versorgung der Schiffe verwendet, und nicht Lieferungen dieser Gegenstände, die auf einer vorhergehenden Handelsstufe erfolgen. Es ist jedoch nicht erforderlich, daß die Verbringung der Gegenstände an Bord der Schiffe tatsächlich mit ihrer Lieferung an den Betreiber zusammenfallen muß, so daß die Lagerung der Gegenstände nach ihrer Lieferung und vor dem tatsächlichen Versorgungsvorgang nicht zum Verlust der Steuererleichterung führt.

Gesetze: VO Nr. 3626/82 Art. 10 Abs. 1 Buchst. b; Richtlinie 77/388 Art. 15 Nr. 4

Gründe

1 Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteil vom , beim Gerichtshof eingegangen am , gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 15 der Sechsten Richtlinie ( 77/388/EWG ) des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem : einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ( ABl. L 145, S. 1 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit des niederländischen Staatssecretaris van Financiën gegen die Velker International Oil Company Ltd NV, Rotterdam ( nachstehend : die Firma Velker ), in dem es um einen Bescheid über die Nacherhebung von Mehrwertsteuer geht, der gegen dieses Unternehmen erlassen wurde.

3 Nach den Akten verkaufte die Firma Velker an die Forsythe International BV, Den Haag ( nachstehend : Firma Forsythe ), zwei Partien Bunkeröl, für die am bzw. am Rechnungen ausgestellt wurden.

4 Die Partien Öl hatte die Firma Velker von der Handelsmaatschappij Verhöven BV, Rotterdam ( nachstehend : Firma Verhöven ), erworben; letztere hatte ihrerseits eine dieser Partien bei der Olie Verwerking Amsterdam BV ( nachstehend : OVA ) gekauft.

5 Auf Weisung der Firma Forsythe wurden diese beiden Partien von der Firma OVA am in Tanks eingelagert, die die Firma Forsythe bei dem Unternehmen De Nieuwe Matex angemietet hatte, und sodann am 6., 7. und sowie am 17. und auf Hochseeschiffe verbracht.

6 Die Rechnung, die die Firma OVA der Firma Verhöven ausstellte, wies keine Mehrwertsteuer aus. Die Rechnungen, die die Firma Verhöven der Firma Velker ausstellte, trugen den Vermerk "MWSt : 0-Satz ". Die Firma Velker wandte ihrerseits bei den beiden der Firma Forsythe in Rechnung gestellten Verkäufen den Nullsatz der Mehrwertsteuer an.

7 Die niederländische Steuerverwaltung vertrat die Ansicht, daß die Öllieferungen der Firma Velker an die Firma Forsythe nicht von der Mehrwertsteuer befreit werden könnten, und erließ gegen die Firma Velker einen Bescheid über die Nacherhebung von Mehrwertsteuer für das Jahr 1983.

8 Der von der Firma Velker angerufene Gerechtshof Den Haag hob den Nacherhebungsbescheid mit der Begründung auf, daß das von der Firma Velker gelieferte Öl zur Versorgung von auslaufenden Seeschiffen bestimmt gewesen sei und daß derartige Lieferungen gemäß Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b der Wet op de omzetbelasting ( niederländisches Umsatzsteuergesetz ) in Verbindung mit der Position a.4 der Tabelle II im Anhang dieses Gesetzes von der Steuer befreit seien.

9 Gegen dieses Urteil des Gerechtshof legte der niederländische Staatssecretaris van Financiën Kassationsbeschwerde zum Hoge Raad der Nederlanden ein. Zur Begründung führte er aus, daß nur eine Lieferung von Gegenständen, die mit der Versorung der Schiffe zusammenfalle und auf die die Ausfuhr dieser Gegenstände folge, als Lieferung von Gegenständen zur Versorgung von Schiffen im Sinne der genannten niederländischen Vorschriften angesehen werden könne.

10 Der Hoge Raad führt in seinem Vorlageurteil aus, daß der niederländische Gesetzgeber beim Erlaß der genannten Vorschriften Artikel 15 Nr. 4 der Sechsten Richtlinie habe umsetzen wollen und daß infolgedessen der Ausdruck "zur Versorgung" in der niederländischen Rechtsvorschrift im gleichen Sinn zu verstehen sei wie der Ausdruck in der Gemeinschaftsrichtlinie.

11 Deshalb hat der Hoge Raad das Verfahren ausgesetzt, bis der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung über folgende Fragen entschieden hat :

"1 ) Ist Artikel 15 Nr. 4 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, daß als Lieferungen von Gegenständen zur Versorgung der in dieser Vorschrift umschriebenen Schiffe nur Lieferungen angesehen werden können, die mit der Versorgung zusammenfallen?

2 ) Falls die genannte Bestimmung der Sechsten Richtlinie nicht so eng auszulegen ist, wie in der ersten Frage dargestellt, sind dann als Lieferungen im Sinne der Bestimmung

nur die Lieferungen an den Unternehmer anzusehen, der die Gegenstände später zur Versorgung von Schiffen verwendet,

oder auch die Lieferungen auf einer vorhergehenden Handelsstufe, also an einen Unternehmer, der die Gegenstände nicht selbst zur Versorgung von Schiffen verwendet, sie jedoch an einen anderen Unternehmer liefert, der sie in diesem Sinne verwendet?"

12 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

13 In Artikel 15 der Sechsten Richtlinie ist bestimmt :

"Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsbestimmungen befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen festsetzen, von der Steuer :

1 ) Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer oder für dessen Rechnung nach Orten ausserhalb des in Artikel 3 bezeichneten Gebietes versandt oder befördert werden;

2 )...

3 )...

4 ) Lieferungen von Gegenständen zur Versorgung von Schiffen, die

a ) auf hoher See im entgeltlichen Passagierverkehr, zur Ausübung einer Handelstätigkeit, für gewerbliche Zwecke oder zur Fischerei eingesetzt sind,

..."

14 Um die strittigen Vorschriften der Sechsten Richtlinie auszulegen, ist zuerst die zweite Frage des vorlegenden Gerichts zu untersuchen.

15 Mit dieser Frage will das vorlegende Gericht wissen, ob die in den genannten Vorschriften vorgesehene Steuerbefreiung nur für Lieferungen von Gegenständen an einen Betreiber von Schiffen gilt, der diese zur Versorgung der Schiffe verwendet, oder ob sie sich auch auf Lieferungen auf vorhergehenden Handelsstufen erstreckt, sofern die Gegenstände letztlich zur Versorgung von Schiffen verwendet werden.

16 Der Ausdruck "Lieferungen von Gegenständen zur Versorgung von Schiffen" kann wörtlich unterschiedlich ausgelegt werden. Er kann nämlich Lieferungen bezeichnen, deren Adressat die Gegenstände zur Versorgung seiner Schiffe verwendet, oder Lieferungen von Gegenständen, die später in dieser Weise verwendet werden, unabhängig davon, auf welcher Stufe sie erfolgen.

17 Dieser Ausdruck ist somit in seinem Kontext auszulegen, wobei Zweck und System der Sechsten Richtlinie zu berücksichtigen sind.

18 Wie der Gerichtshof in zahlreichen Entscheidungen ausgeführt hat ( beispielsweise im Urteil vom in der Rechtssache 348/87, Stichting Uitvöring Financiële Acties, Slg. 1989, 1737 ), fasst die Sechste Richtlinie den Anwendungsbereich für die Mehrwertsteuer sehr weit und bezieht alle wirtschaftlichen Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden darin ein.

19 Die Bestimmungen der Richtlinie über Steuerbefreiungen sind eng auszulegen, da sie Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, daß jede Dienstleistung oder jede Lieferung von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt oder ausführt, der Umsatzsteuer unterliegt.

20 Diese enge Auslegung ist insbesondere geboten, wenn es um Vorschriften geht, die eine Ausnahme von der Regel der Steuerpflichtigkeit "im Inland" getätigter Umsätze enthalten.

21 Zu Artikel 15 Nr. 4 ist festzustellen, daß die dort aufgeführten Umsätze zur Versorgung von Schiffen deshalb von der Steuer befreit sind, weil sie Ausfuhrumsätzen gleichgestellt sind.

22 Ebenso wie bei Ausfuhrumsätzen die in Artikel 15 Nr. 1 von Rechts wegen vorgesehene Steuerbefreiung nur für endgültige Lieferungen ausgeführter Gegenstände durch den Verkäufer oder für dessen Rechnung gilt, kann die in Artikel 15 Nr. 4 vorgesehene Steuerbefreiung nur für Lieferungen von Gegenständen an einen Betreiber von Schiffen gelten, der diese Gegenstände zur Versorgung der Schiffe verwendet, und kann sich deshalb nicht auf Lieferungen dieser Gegenstände erstrecken, die auf einer vorhergehenden Handelsstufe erfolgen.

23 Die Bundesregierung macht jedoch in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen geltend, daß eine derartige Auslegung der streitigen Vorschriften gegen deren Zweck verstieße. Die fragliche Steuerbefreiung solle eine verwaltungsmässige Vereinfachung ermöglichen und keinen Steuervorteil gewähren. Unter Berücksichtigung des auf diese Weise verfolgten Ziels müsse diese Steuerbefreiung auf alle Handelsstufen erstreckt werden.

24 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Die Erstreckung der Steuerbefreiung auf die der endgültigen Lieferung der Gegenstände an den Betreiber der Schiffe vorausgehenden Handelsstufen würde von den Mitgliedstaaten verlangen, daß sie Kontroll - und Überwachungsmechanismen einführten, um sich der endgültigen Bestimmung der unter Steuerbefreiung gelieferten Gegenstände zu vergewissern. Diese Mechanismen würden keineswegs zu einer verwaltungsmässigen Vereinfachung führen, sondern für die Mitgliedstaaten und für die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer Zwänge schaffen, die mit einer "korrekten und einfachen Anwendung der... Befreiungen" im Sinne von Artikel 15 Satz 1 der Sechsten Richtlinie unvereinbar wären.

25 Angesichts der auf die zweite Vorabentscheidungsfrage zu gebenden Antwort bleibt die erste Frage des vorlegenden Gerichts zu prüfen, die dahin geht, ob für die Eröffnung des Anspruchs auf Steuerbefreiung die Verbringung der Gegenstände an Bord der Schiffe materiell mit den Lieferungen an den Betreiber der Schiffe zusammenfallen muß.

26 In Artikel 5 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie wird die Lieferung eines Gegenstands als "Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen", definiert.

27 Angesichts dieser Definition genügt die Feststellung, daß weder der Wortlaut der fraglichen Bestimmungen des Artikels 15 Nr. 4 noch der Zusammenhang, in den sie sich einfügen, noch das Ziel, das mit ihnen verfolgt wird, eine Auslegung in dem Sinne rechtfertigen, daß die Lagerung von Gegenständen nach ihrer Lieferung und vor dem tatsächlichen Versorgungsvorgang zum Verlust der Steuererleichterung führt.

28 Zwar ließe sich, wie die Regierung des Vereinigten Königreichs in ihren vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärungen ausgeführt hat, durch diese Auslegung gewährleisten, daß die Wirtschaftsteilnehmer die unter Steuerbefreiung gelieferten Gegenstände später nicht zu anderen Zwecken als zur Versorgung von Schiffen verwenden.

29 Dies allein kann jedoch eine derartige Auslegung nicht rechtfertigen, zumal es gemäß Artikel 15 Satz 1 der Sechsten Richtlinie Sache der Mitgliedstaaten ist, "zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen" geeignete Bedingungen für die Steuerbefreiungen festzusetzen.

30 Deshalb ist auf die vom Hoge Raad der Nederlanden zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zu antworten, daß Artikel 15 Nr. 4 der Sechsten Richtlinie des Rates vom dahin auszulegen ist, daß als Lieferungen von Gegenständen zur Versorgung von Schiffen nur Lieferungen an einen Betreiber von Schiffen angesehen werden können, der diese Gegenstände zur Versorgung der Schiffe verwendet, ohne daß die Verbringung der Gegenstände an Bord der Schiffe tatsächlich mit den Lieferungen an den Betreiber zusammenfallen muß.

Kostenentscheidung:

Kosten

31 Die Auslagen der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, des Königreichs der Niederlande, der Portugiesischen Republik, des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Fundstelle(n):
MAAAC-42610

1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg