Leitsatz
[1] Hat die Nichteinhaltung des gebotenen Sicherheitsabstands den Unfall mitverursacht, ist der Verstoß gegen § 4 Abs. 1 StVO im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile grundsätzlich gegenüber jedem Mitverursacher zu berücksichtigen.
Gesetze: BGB § 254 Abs. 1 Cb; StVG § 17 Abs. 1; StVO § 4 Abs. 1
Instanzenzug: AG Vechta 11 C 193/05 vom LG Oldenburg 9 S 458/05 vom
Tatbestand
Der Kläger begehrt restlichen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom in S.. Der Kläger befuhr mit seinem PKW die D.-Straße aus Richtung S. kommend. Vor ihm fuhr Frau H. mit ihrem PKW. Der Beklagte zu 1 kam mit seinem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten PKW aus einer Grundstücksausfahrt. Er wollte vor dem herannahenden PKW von Frau H. nach links in die D.-Straße in Richtung S. einbiegen. Frau H. leitete eine Vollbremsung ein und lenkte ihr Fahrzeug nach links. Auf diese Weise gelang es ihr, einen Zusammenstoß mit dem PKW des Erstbeklagten zu vermeiden. Der Kläger bremste ebenfalls und versuchte nach links auszuweichen. Dabei kollidierte sein PKW mit dem von Frau H.. Den Schaden des Klägers hat die Zweitbeklagte in Höhe von 1.668,06 € ersetzt. Mit der Klage hat der Kläger Zahlung weiterer 1.668,04 € begehrt. Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Gründe
I.
Das Berufungsgericht ist der Auffassung, den Kläger treffe an dem Unfall ein hälftiges Mitverschulden. Es spreche der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass er den erforderlichen Mindestabstand (§ 4 StVO) zu dem vorausfahrenden Fahrzeug von Frau H. nicht eingehalten habe oder es an der gebotenen Aufmerksamkeit habe fehlen lassen. Der Berücksichtigung eines Mitverschuldens stehe entgegen der Auffassung des Amtsgerichts nicht entgegen, dass der Schutzbereich von § 4 StVO den verkehrswidrig auf eine Straße Auffahrenden nicht umfasse. Ein Mitverschulden des Auffahrenden gegenüber dem Unfallverursacher komme vielmehr auch dann in Betracht, wenn der Vorausfahrende ohne eigenes Verschulden durch einen unter Missachtung der Vorfahrt einbiegenden oder einen den Fahrstreifen wechselnden Unfallverursacher zum Abbremsen veranlasst werde.
II.
Das angefochtene Urteil hält den Angriffen der Revision stand.
1. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Erstbeklagte den Verkehrsunfall verschuldet hat, als er aus einer Grundstücksausfahrt in die D.-Straße einfuhr, ohne die herannahenden Fahrzeuge zu beachten. Diese Vorfahrtsverletzung veranlasste Frau H. zu dem Brems- und Ausweichmanöver, das zu der Kollision mit dem PKW des Klägers führte. Der Erstbeklagte hat damit gegen § 10 Satz 1 StVO verstoßen. Nach dieser Vorschrift hat sich derjenige, der aus einem Grundstück auf die Straße einfahren will, so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
2. Ohne Rechtsfehler nimmt das Berufungsgericht auch an, dass der Verkehrsunfall von dem Kläger mitverursacht worden ist. Wer im Straßenverkehr auf den Vorausfahrenden auffährt, war in der Regel unaufmerksam oder zu dicht hinter ihm. Dafür spricht der Beweis des ersten Anscheins ( - VersR 1982, 672; vom - VI ZR 188/86 - VersR 1987, 1241 und vom - VI ZR 223/87 - VersR 1989, 54). Dieser wird nach allgemeinen Grundsätzen nur dadurch erschüttert, dass ein atypischer Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Lichte erscheinen lässt, von dem Auffahrenden dargelegt und bewiesen wird (Senatsurteil vom - VI ZR 223/87 - aaO). Dies kommt nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats etwa dann in Betracht, wenn der Nachweis erbracht wird, dass ein Fahrzeug vorausgefahren ist, welches nach seiner Beschaffenheit geeignet war, dem Nachfahrenden die Sicht auf das Hindernis zu versperren, dieses Fahrzeug erst unmittelbar vor dem Hindernis die Fahrspur gewechselt hat und dem Nachfahrenden ein Ausweichen nicht mehr möglich oder erheblich erschwert war (Senatsurteil vom - VI ZR 138/85 - VersR 1987, 358, 359 f.). Von einem vergleichbaren Sachverhalt kann nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen vorliegend jedoch nicht ausgegangen werden.
Der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann auch dann erschüttert werden, wenn der Vorausfahrende unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges "ruckartig" - etwa infolge einer Kollision - zum Stehen gekommen und der Nachfolgende deshalb aufgefahren ist (Senatsurteil vom - VI ZR 138/85 - aaO; vgl. Lepa, NZV 1992, 129, 132). Daran fehlt es aber, wenn das vorausfahrende Fahrzeug - wie hier der PKW von Frau H. - durch eine Vollbremsung oder Notbremsung zum Stillstand kommt, denn ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden muss ein Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren (BGHSt 17, 223, 225; - VersR 1968, 670, 672 und vom - VI ZR 138/85 - aaO, m.w.N.).
3. Ohne Erfolg wendet sich die Revision dagegen, dass das Berufungsgericht das Mitverschulden des Klägers im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile gemäß § 17 Abs. 1 StVG berücksichtigt hat.
a) Die Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 BGB oder des § 17 StVG ist grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (vgl. - VersR 1988, 1238 f.; vom - VI ZR 398/00 - VersR 2002, 613, 615 f.; vom - VI ZR 161/02 - VersR 2003, 783, 785 und vom - VI ZR 68/04 - VersR 2006, 369, 371, jeweils m.w.N.; - NJW 2000, 217, 219 m.w.N. und vom - X ZR 89/97 - NJW 2000, 280, 281 f.). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten Umstände des Einzelfalles vorzunehmen. In erster Linie ist hierbei nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (Senatsurteil vom - VI ZR 59/97 - VersR 1998, 474, 475 m.w.N.).
b) Diesen Grundsätzen wird die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung gerecht. Der Umstand, dass der Kläger nach den getroffenen Feststellungen entweder den gemäß § 4 Abs. 1 StVO erforderlichen Abstand zum vorausfahrenden PKW nicht eingehalten hat oder aber nicht aufmerksam genug war (vgl. § 1 Abs. 1 und 2 StVO), hat maßgeblich zu dem Unfallgeschehen beigetragen und ist deshalb im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile zu berücksichtigen. Dem steht nicht entgegen, dass die Einhaltung des Sicherheitsabstands Auffahrunfälle vermeiden soll und der Schutz des § 4 StVO deshalb in erster Linie dem Vorausfahrenden zugute kommt. Die Einhaltung des Abstandes dient nämlich nicht allein dem Schutz des Vorausfahrenden. Die Vorschriften der StVO haben den Zweck, die Gefahren des Straßenverkehrs abzuwehren und Verkehrsunfälle zu verhindern. Die hierfür aufgestellten Regeln beruhen auf der durch Erfahrung und Überlegung gewonnenen Erkenntnis, welche typischen Gefahren der Straßenverkehr mit sich bringt und welches Verkehrsverhalten diesen Gefahren am besten begegnet. Damit besagen die Verkehrsvorschriften zugleich, dass ihre Nichteinhaltung die Gefahr eines Unfalles in den Bereich des Möglichen rückt ( - VersR 1975, 37). Auch § 4 Abs. 1 StVO dient der Sicherheit des Straßenverkehrs. Die Vorschrift soll nicht nur Auffahrunfälle vermeiden, sondern bezweckt auch, die Übersicht des Kraftfahrers über die Fahrbahn zu verbessern und ihm eine ausreichende Reaktionszeit zur Begegnung von Gefahren zu ermöglichen (OLG München, VersR 1968, 480). Hat die Nichteinhaltung des gebotenen Sicherheitsabstands den Unfall mitverursacht, ist der Verstoß gegen § 4 Abs. 1 StVO im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile grundsätzlich zu berücksichtigen. Dies gilt entgegen der Auffassung der Revision unabhängig davon, ob der andere Unfallverursacher in den Schutzbereich dieser Vorschrift einbezogen ist.
c) Die Beurteilung des Berufungsgerichts, vorliegend sei eine hälftige Schadensteilung angemessen, weil die Verkehrsverstöße des Klägers und des Erstbeklagten in gleichem Maße den Unfall verursacht hätten, beruht auf einer tatrichterlichen Würdigung des konkreten Unfallgeschehens, die aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden ist und von der Revision auch nicht angegriffen wird.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
NJW-RR 2007 S. 680 Nr. 10
YAAAC-39402
1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: nein