BFH Beschluss v. - X S 2/06

Wirkung der Aussetzung der Vollziehung; Geltung des § 96 FGO im vorläufigen Rechtsschutzverfahren

Gesetze: FGO § 69; FGO § 96

Instanzenzug:

Gründe

I. Der Antragsteller wohnte in den Streitjahren 1993 bis 1997 im Bezirk des Finanzamts A. Nach den vom Finanzgericht (FG) getroffenen Feststellungen erwarb er im Jahr 1993 ein Grundstück in B, das zum Bezirk des Antragsgegners (Finanzamt —FA—) gehört. Auf dem Grundstück befand sich ein „Privatclub”. Dieses Anwesen hatte die inzwischen verstorbene Ehefrau des Antragstellers vom Voreigentümer gepachtet und als Dirnenunterkunft genutzt. Den Dirnen war es erlaubt, ihrem Gewerbe nachzugehen. Die gewerblichen Vermietungseinkünfte wurden von der Ehefrau des Antragstellers im Rahmen ihrer Steuererklärungen gegenüber dem Finanzamt A erklärt. Nach dem Grundstückserwerb durch den Antragsteller wurde das Grundstück weiterhin an dessen Ehefrau verpachtet. Ob der Antragsteller seither darin einen Bordellbetrieb unterhielt, ist zwischen den Beteiligten streitig. Hiervon geht das FA im Hinblick auf die Erkenntnisse in einem gegen den Antragsteller durchgeführten Strafverfahren vor dem Landgericht (LG) Z aus. In diesem Verfahren war der Antragsteller u.a. wegen Förderung der Prostitution rechtskräftig verurteilt worden. Das LG Z stellte fest, der Antragsteller habe (jedenfalls) in der Zeit von Anfang 1996 bis zu seiner am erfolgten Festnahme in dem Privatclub einen bordellartigen Barbetrieb unterhalten.

Nach Abschluss dieses Strafverfahrens wurde gegen den Antragsteller im April 2000 ein Ermittlungsverfahren wegen Hinterziehung von Einkommen-, Gewerbe- und Umsatzsteuer eingeleitet. Die Ermittlungsbehörden gelangten zu der Erkenntnis, der Antragsteller habe in dem Privatclub einen Bordellbetrieb unterhalten und daraus gewerbliche Einkünfte erzielt. Das FA schloss sich dem an. Es erließ gegen den Antragsteller für die Jahre 1993 bis 1997 gesonderte Gewinnfeststellungsbescheide und Gewerbesteuermessbescheide, in denen gewerbliche Einkünfte aus dem Betrieb in B im Schätzwege festgestellt wurden. In den Feststellungsbescheiden wurden Gewinne von ... DM festgestellt. In den angefochtenen Gewerbesteuermessbescheiden wurden Messbeträge von ... DM angesetzt.

Mit der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage machte der Antragsteller geltend, in den Streitjahren habe er keinen Bordellbetrieb unterhalten. Sein Grundstück sei lediglich von seiner Ehefrau als Dirnenwohnheim vermietet worden. Soweit er, der Antragsteller, die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe im Rahmen des Strafverfahrens teilweise eingeräumt habe, habe dies dem beschleunigten Abschluss des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens und insbesondere dazu gedient, seine schwer erkrankte Ehefrau zu schützen. Diese sei ebenfalls angeklagt gewesen. Ihr sei jedoch die Einstellung des Strafverfahrens in Aussicht gestellt worden.

Im Verlauf des Klageverfahrens setzte das FA die Vollziehung der angefochtenen Bescheide in vollem Umfang durch die Verfügungen vom bis zur Entscheidung über die Klage aus. Im Fall einer Klageabweisung endete danach die Aussetzung der Vollziehung (AdV) einen Monat nach dem Tag der Zustellung des Urteils.

Durch das dem Antragsteller am zugestellte Urteil vom hat das FG die Klage abgewiesen. Zur Überzeugung des Gerichts stehe fest, dass der Antragsteller in den Streitjahren einen Bordellbetrieb unterhalten habe. Diese Überzeugungsbildung stützte sich auf den Sachverhalt, den das LG Z festgestellt habe. Die in der dortigen Hauptverhandlung abgegebenen Einlassungen des Antragstellers seien zutreffend. Die Schlussfolgerungen der Strafkammer, der Antragsteller sei „Chef im Hause” gewesen, seien zutreffend. Die vor dem Senat durchgeführte Beweisaufnahme lasse hieran keinen Zweifel aufkommen. Die Einlassung des Antragstellers, er habe, um seine schwer kranke Frau zu schonen, „alle Schuld auf sich genommen”, sei angesichts dessen, dass das Verfahren gegen sie nach drei Verhandlungstagen eingestellt worden sei, nicht plausibel.

Weiter heißt es im angefochtenen Urteil: „Das Gericht geht ferner davon aus, dass der Sachverhalt, den die Strafkammer nur für einen Teil der Jahre festgestellt hat, die Gegenstand dieses Feststellungszeitraums sind, für den gesamten streitbefangenen Zeitraum vorgelegen haben. Anhaltspunkte dafür, dass eine Änderung in den Geschäftsgepflogenheiten in dem Privatclub stattgefunden haben könnte, liegen nicht vor”.

Gegen dieses Urteil legte der Antragsteller Beschwerde wegen der Nichtzulassung der Revision ein. Dieses Verfahren wird beim Bundesfinanzhof (BFH) unter dem Az. X B 160/05 geführt. Mit Schreiben vom beantragte der Antragsteller beim FA, die Vollziehung der angefochtenen Bescheide weiterhin auszusetzen. Diesen AdV-Antrag lehnte das FA durch Verfügung vom ab. Hierauf hat der Antragsteller mit Schreiben vom beim BFH beantragt, die Vollziehung der angefochtenen Bescheide auszusetzen. Zur Begründung seines AdV-Antrags rügt der Antragsteller unter Hinweis auf die Begründung seiner Nichtzulassungsbeschwerde Verfahrensfehler. Er trägt u.a. vor:

Zu Unrecht habe das FG seine Annahme, er, der Antragsteller, habe in den Streitjahren einen Bordellbetrieb unterhalten, auf das Ergebnis der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme gestützt. Überwiegend hätten die vernommenen Zeuginnen angegeben, er, der Antragsteller, sei nicht der „Chef” gewesen. Lediglich die Zeugin S habe das Gegenteil bekundet. Wer aber im Innenverhältnis zwischen ihm und seiner damaligen Ehefrau Betriebsinhaber gewesen sei, könne von der Zeugin nicht beurteilt werden. Ebenfalls nicht aussagekräftig sei die Aussage der Zeugin T. Deren Aussage betreffe lediglich einen Zeitraum von einer Woche. Die Beweiswürdigung durch das FG sei zudem willkürlich. Deshalb sei die Revision auch aus diesem Grund zuzulassen.

Das angefochtene Urteil sei auch teilweise nicht mit Gründen versehen (§ 119 Nr. 6 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

Der Antragsteller beantragt, die Vollziehung der Gewinnfeststellungsbescheide 1993 bis 1997 (jeweils) vom und der Gewerbesteuermessbescheide 1993 bis 1997 (jeweils) vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde auszusetzen.

Das FA beantragt den AdV-Antrag abzulehnen.

II. Der AdV-Antrag ist zum Teil begründet. Denn es bestehen aus tatsächlichen Gründen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der die Streitjahre 1993 bis 1995 betreffenden Gewinnfeststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide.

1. Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen, wenn in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen. Wird der Antrag auf AdV —wie im vorliegenden Fall— während der Anhängigkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde beim BFH gestellt, so können ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Steuerbescheids nur dann bestehen, wenn ernstlich mit einer Zulassung der Revision zu rechnen ist (Senatsbeschluss vom X S 3/06, BFH/NV 2006, 1138). Dies trifft im Streitfall hinsichtlich der Streitjahre 1996 und 1997 nicht zu, weil die Nichtzulassungsbeschwerde des Antragstellers insoweit unzulässig ist. Hierzu wird auf den Beschluss des angerufenen Senats vom heutigen Tag X B 160/05 verwiesen.

Im Übrigen kann der die Streitjahre 1996 und 1997 betreffende Antrag auf AdV auch deswegen keinen Erfolg haben, weil das Urteil des FG, soweit es diese Jahre betrifft, durch die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde rechtskräftig geworden ist (§ 116 Abs. 5 Satz 3 FGO). Damit sind auch die für die Streitjahre 1996 und 1997 ergangenen Gewinnfeststellungs- und Gewerbesteuermessbescheide unanfechtbar geworden. Infolgedessen können ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Bescheide nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden ( und XI S 3/01, BFH/NV 2002, 67).

2. Hinsichtlich der Streitjahre 1993 bis 1995 ist AdV in dem vom Antragsteller begehrten Umfang zu gewähren. Der angerufene Senat hat auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Antragstellers, soweit diese die Streitjahre 1993 bis 1995 betrifft, das angefochtene Urteil aufgehoben und zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen. Auf den Beschluss vom heutigen Tag X B 160/05 wird Bezug genommen. Bei der gebotenen summarischen Betrachtung bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der die Streitjahre 1993 bis 1995 betreffenden angefochtenen Bescheide.

a) Ernstliche Zweifel in tatsächlicher Hinsicht sind zu bejahen, wenn in Bezug auf die im Einzelfall entscheidungserheblichen Tatsachen Unklarheiten bestehen, die anhand der vorliegenden Unterlagen (insbesondere der Akten) und der präsenten Beweismittel nicht beseitigt werden können und wenn die vom Antragsteller behauptete Rechtsfolge unter den gegebenen Umständen als möglich erscheint (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 69 Rz 92, m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Antragsteller bestreitet, in den Streitjahren 1993 bis 1995 einen Bordellbetrieb im Privatclub in B unterhalten zu haben. Wie vom angerufenen Senat im Beschluss X B 160/05 ausgeführt, hat das FG keine nachvollziehbaren Gründe dargelegt, weshalb in diesen Jahren ein solcher Betrieb bestanden hat. Die Sachlage ist derzeit auch deshalb unklar, weil in dem den Antragsteller betreffenden Strafverfahren ausweislich der Gründe des Strafurteils keine Erkenntnisse gewonnen wurden, die den Schluss zulassen, der Antragsteller sei bereits ab dem Jahr 1993 Inhaber des in Frage stehenden Bordellbetriebs gewesen. Auch haben die vom FG vernommenen Zeuginnen, soweit diese Aussagen zu den Streitjahren 1993 bis 1995 gemacht haben, jeweils sinngemäß angegeben, nicht der Antragsteller, sondern dessen Ehefrau habe den Privatclub geleitet.

b) Da der Antragsteller seinen AdV-Antrag in zeitlicher Hinsicht darauf beschränkt hat, ihm AdV bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung im Beschwerdeverfahren X B 160/05 zu gewähren, konnte der erkennende Senat über dieses Begehren nicht hinausgehen. Denn die Vorschrift des § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO, wonach das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen darf, ist in Verfahren auf Erlangung von vorläufigem Rechtsschutz gemäß § 69 FGO sinngemäß anzuwenden (Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler —HHSP—, § 96 FGO Rz. 174).

c) Durch den erkennenden Senat war auszusprechen, dass die Vollziehung der angefochtenen Bescheide 1993 bis 1995 ab dem aufgehoben wird. Denn die Entscheidung über die Gewährung von AdV wirkt nur für die Zukunft. Sie ist deshalb nicht geeignet, Säumniszuschläge zu beseitigen, die in der Zeit zwischen der Fälligkeit der festgesetzten Steuer, die hier mit Ablauf der vom FA gewährten AdV eingetreten ist, und der Entscheidung über den AdV-Antrag entstanden sind. Dazu bedarf es der in § 69 Abs. 2 und 3 FGO ebenfalls vorgesehenen Aufhebung der Vollziehung (, BFH/NV 1994, 4).

Dem steht nicht entgegen, dass der vorliegende AdV-Antrag Bescheide über gesonderte Gewinnfeststellungen und Gewerbesteuermessbescheide und damit Grundlagenbescheide betrifft, Säumniszuschläge aber nur im Zusammenhang mit Steuerfestsetzungen in Folgebescheiden anfallen können. Denn gemäß § 69 Abs. 2 Satz 4 FGO ist die Vollziehung eines Folgebescheids von Amts wegen auszusetzen, wenn und soweit die Vollziehung eines Grundlagenbescheids ausgesetzt wird. An die Stelle einer solchen AdV tritt jedoch nach Satz 7 dieser Vorschrift die Aufhebung der Vollziehung, soweit der Verwaltungsakt bereits vollzogen ist (vgl. auch Birkenfeld in HHSp, § 69 FGO, Rz. 525).

Dieser Anordnung steht auch nicht entgegen, dass der Antragsteller eine solche Maßnahme nicht ausdrücklich beantragt hat. Denn ein Antrag auf AdV schließt im Allgemeinen das Begehren nach einer Aufhebung der Vollziehung ein (, BFHE 209, 204, BStBl II 2005, 351).

d) Da die angeordnete AdV jeweils Grundlagenbescheide i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 6 FGO betrifft, ordnet der erkennende Senat gemäß Satz 2 Halbsatz 2 der genannten Vorschrift ausdrücklich an, dass eine Sicherheitsleistung nicht zu erbringen ist. Da die antragsgemäß bewilligte AdV nur von kurzer Dauer ist, wäre die Anordnung einer Sicherheitsleistung unverhältnismäßig (zu diesem Gesichtspunkt vgl. Gräber/Koch, a.a.O., § 69 Rz. 158).

Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 484 Nr. 3
KÖSDI 2007 S. 15425 Nr. 2
DAAAC-36548