Leitsatz
Windenergieanlagen können gegen das in § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB verankerte Gebot der Rücksichtnahme verstoßen, weil von den Drehbewegungen ihrer Rotoren eine "optisch bedrängende" Wirkung auf bewohnte Nachbargrundstücke im Außenbereich ausgeht. Ob eine derartige Wirkung anzunehmen ist, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalles (Bestätigung von OVG Münster, DVBl 2006, 1532).
Gesetze: BauGB § 35 Abs. 1 Nr. 5; BauGB § 35 Abs. 3 Satz 1
Instanzenzug: VG Münster VG 2 K 2264/01 vom OVG Münster OVG 8 A 3726/05 vom Fachpresse: ja BVerwGE: nein
Gründe
Die Beschwerden haben keinen Erfolg.
Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr der Beklagte und der Beigeladene beimessen.
1. Der Beklagte und der Beigeladene möchten rechtsgrundsätzlich geklärt wissen, ob eine Windenergieanlage wegen einer "optisch bedrängenden" Wirkung aufgrund der Drehbewegungen ihrer Rotoren gegen das in § 35 Abs. 3 BauGB verankerte Gebot der Rücksichtnahme verstoßen kann, ohne aufgrund ihrer Höhe und Breite eine "erdrückende" oder "erschlagende" Wirkung zu haben. Auf diese Frage lässt sich antworten, ohne dass es der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf. Sie ist auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen im Berufungsurteil ohne weiteres zu bejahen.
Nach seinem objektivrechtlichen Gehalt schützt das Gebot der Rücksichtnahme die Nachbarschaft vor unzumutbaren Einwirkungen, die von einem Vorhaben ausgehen ( BVerwG 4 C 1.78 - BRS 38 Nr. 186). Eine besondere gesetzliche Ausformung hat es in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB mit dem Begriff der schädlichen Umwelteinwirkungen gefunden. Es betrifft jedoch auch Fälle, in denen sonstige nachteilige Wirkungen in Rede stehen ( BVerwG 4 C 59.79 - BRS 40 Nr. 199 und vom - BVerwG 4 C 1.04 - UPR 2005, 150). Dazu zählt die Rechtsprechung "optisch bedrängende" Wirkungen, die von einem Bauvorhaben auf bewohnte Nachbargrundstücke ausgehen (vgl. BVerwG 4 C 1.78 - a.a.O. und vom - BVerwG 4 C 34.85 - BRS 46 Nr. 176).
Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist für die Frage der optisch bedrängenden Wirkung einer Windenergieanlage nicht die Baumasse ihres Turms, sondern die in der Höhe wahrzunehmende Drehbewegung des Rotors von entscheidender Bedeutung. Zum einen lenke der Rotor durch die Bewegung den Blick auf sich und schaffe eine Art "Unruheelement". Ein bewegtes Objekt errege die Aufmerksamkeit in höherem Maße als ein statisches; eine Bewegung werde selbst dann noch registriert, wenn sie sich nicht direkt in der Blickrichtung des Betroffenen, sondern seitwärts von dieser befinde. Eine nur durch Phasen relativer Windstille unterbrochene ständige, nach Windstärke in der Umdrehungsgeschwindigkeit differierende Bewegung im Blickfeld oder am Rande des Blickfeldes könne schon nach kurzer Zeit, erst recht auf Dauer unerträglich werden. Ein sich bewegendes Objekt ziehe den Blick nahezu zwangsläufig auf sich. Es könne Irritationen hervorrufen und die Konzentration auf andere Tätigkeiten wegen der steten, kaum vermeidbaren Ablenkung erschweren. Zum anderen vergrößere die Drehbewegung des Rotors die Windenergieanlage in ihren optischen Dimensionen deutlich und bestimme sie. Die Fläche, die der Rotor überstreiche, habe in der Regel gebäudegleiche Abmessungen. Die optischen Auswirkungen einer Windenergieanlage seien umso größer, je höher die Anlage sei und je höher deshalb der Rotor angebracht sei.
Das Berufungsgericht durfte die von ihm geschilderten Auswirkungen der Drehbewegungen der Rotoren als Nachteil und für den Fall der Unzumutbarkeit als Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot werten. Die Bedenken des OVG Koblenz gegen den berufungsgerichtlichen Ansatz teilt der Senat nicht.
Das OVG Koblenz hält es für zweifelhaft, ob der Gesichtspunkt der optisch bedrängenden Wirkung einer Windenergieanlage überhaupt im Rahmen des Gebots der Rücksichtnahme Berücksichtigung finden könne (Urteil vom - 1 A 11127/02 - NuR 2003, 768 <770>). Zu beachten sei, dass die optisch bedrängende Wirkung nicht auf stofflichen Einwirkungen durch die Anlage im Sinne von Immissionen, sondern auf psychischen Belastungen durch die Größe der Anlage und die Drehbewegung ihres Rotors beruhe. Diese Störung der Betroffenen entspringe also weniger den physischen Auswirkungen auf diese als vielmehr dem von ihnen als beeinträchtigend empfundenen Anblick der Anlage. Diese psychischen Einflüsse auf die Bewohner der in der Nähe liegenden Anwesen ließen sich jedoch nur unzureichend objektivieren. Ihre Auswirkungen seien verschieden, je nachdem, ob man der Windkraftnutzung positiv oder negativ gegenüberstehe und ob man entsprechend empfindlich auf optische Eindrücke reagiere.
Das OVG Koblenz leitet das Rücksichtnahmegebot aus § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB her, nimmt daher folgerichtig an, dass ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nur dann anzunehmen wäre, wenn die Windenergieanlage gegenüber der Nachbarschaft schädliche Umwelteinwirkungen i.S.d. § 3 Abs. 1 BImSchG, also Immissionen, hervorrufen würde (Urteil vom a.a.O. <769>), und zieht einen Verstoß mit der Begründung in Zweifel, dass sich die Drehbewegung von Rotoren nicht unter den Begriff der Immission subsumieren lasse. Es versteht das Gebot der Rücksichtnahme indes zu eng. Nach der Rechtsprechung des Senats ist das Rücksichtnahmegebot ein unbenannter öffentlicher Belang i.S.d. § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB, der sich über die gesetzliche Ausprägung in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB hinaus auch auf sonstige nachteilige Auswirkungen eines Vorhabens erstreckt. Zu diesen Auswirkungen gehören auch Belastungen psychischer Art, wie die Rechtsprechung des Senats zur "erdrückenden" oder "erschlagenden" Wirkung von Gebäuden auf Nachbargrundstücke zeigt (vgl. BVerwG 4 C 1.78 - a.a.O. und vom - BVerwG 4 C 34.85 - a.a.O.).
Eine mögliche Kontroverse zur Rechtsprechung des OVG Lüneburg (Beschluss vom - 1 LA 76/04 - NVwZ-RR 2005, 521) wäre lediglich sprachlicher Art. Das OVG Lüneburg hat den Rechtssatz aufgestellt, dass eine Windenergieanlage optisch bedrängend nur unter den Voraussetzungen sein könne, unter denen die Bauwerke zu Lasten dann abwehrbefugter Nachbarn als "erdrückend" einzustufen seien. Eine erdrückende Wirkung könne danach namentlich durch die Höhe und Breite eines hinzutretenden Gebäudes entstehen. Das anzunehmen komme allerdings erst dann in Betracht, wenn die genehmigte Anlage das Nachbargrundstück regelrecht abriegele, d.h. dort das Gefühl des Eingemauertseins oder eine Gefängnishofsituation hervorrufe. Dem Grundstück müsse gleichsam die Luft zum Atmen genommen werden. Dem wäre hier hinzuzufügen, so heißt es beim OVG Lüneburg weiter, dass eine Windenergieanlage zudem durch ihre Wirkungsweise - Drehmoment - belästigend wirken könne. Ob damit der Begriff der optischen Bedrängung in Bezug auf Windenergieanlagen erweitert worden ist oder die Belästigung durch die Drehbewegung der Rotoren als zusätzliches, zum Begriff der optisch bedrängenden Wirkung hinzutretendes nachteiliges Moment gemeint ist, bleibt offen. Eindeutig ist aber, dass auch das OVG Lüneburg die Drehbewegung der Rotoren als möglichen Nachteil zu Lasten benachbarter Grundstücke ansieht.
Der Senat muss nach § 137 Abs. 2 VwGO davon ausgehen, dass die Drehbewegung der Rotorblätter die vom Berufungsgericht beschriebenen nachteiligen Auswirkungen auf den Betrachter hat. Zu Unrecht machen der Beklagte und der Beigeladene mit der Verfahrensrüge geltend, dass das Berufungsgericht zu den negativen Begleiterscheinungen der Drehbewegung nach § 86 Abs. 1 VwGO ein Sachverständigengutachten hätte einholen müssen. Das Tatsachengericht hat grundsätzlich nach eigenem Ermessen zu entscheiden, ob es sich die für die Aufklärung und Würdigung des Sachverhalts erforderliche Sachkunde zutraut oder ob es sich der Hilfe Sachverständiger bedient. Seine Aufklärungspflicht verletzt es erst, wenn es sich eine ihm unmöglich zur Verfügung stehende Sachkunde zuschreibt oder seine Entscheidungsgründe auf mangelnde Sachkunde schließen lassen (vgl. BVerwG 7 B 42.87 - NJW 1987, 2454; stRspr). Das ist hier nicht der Fall. Das Berufungsgericht hat ersichtlich die allgemeine Lebenserfahrung sprechen lassen, die es ermöglicht, gewöhnliche Vorgänge des täglichen Lebens in ihren Wirkungen abzuschätzen. Dass seine Würdigung, wie der Beigeladene behauptet, "schlicht lebensfremd" sei, trifft nicht zu. Das Berufungsgericht ist vielmehr in den Lebens- und Erkenntnisbereichen geblieben, die dem Richter allgemein zugänglich sind. Ob das "Unruheelement", das der Rotor durch seine Bewegung schafft, so störend ist, dass das Maß des Zumutbaren überschritten und das Gebot der Rücksichtnahme verletzt ist, beurteilt sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls. Dabei gilt, dass die Bewegung des Rotors umso stärker spürbar wird, je geringer die Distanz zwischen der Windkraftanlage und dem Betrachter und je größer die Dimension der Bewegung ist (vgl. - BRS 40 Nr. 66).
2. Den Schwerpunkt des Beschwerdevorbringens bilden die Fragen zum zulässigen Abstand zwischen einer Windenergieanlage und der Nachbarbebauung.
Die vom Beklagten als grundsätzlich klärungsbedürftig bezeichnete Frage, ob eine Windenergieanlage mit einem Abstand zu einer Wohnnutzung, der weniger als das Doppelte ihrer Gesamthöhe beträgt, regelmäßig gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt, während dies bei einem Abstand von mehr als dem Dreifachen regelmäßig nicht der Fall ist, führt nicht zur Zulassung der Revision, weil sie in einem Revisionsverfahren keiner Antwort bedürfte. Nach den bindenden Feststellungen im Berufungsurteil beträgt die Entfernung zwischen der umstrittenen Windenergieanlage und dem Wohnhaus des Klägers mehr als das Zweifache, aber weniger als das Dreifache der Gesamthöhe der Anlage.
Wegen der Fragen,
- ob es entscheidend für die Rücksichtslosigkeit einer Windenergieanlage spricht, wenn diese einen Abstand von einer Wohnnutzung nur knapp überschreitet, der dem Zweifachen ihrer Gesamthöhe entspricht,
- ob eine nachbarrechtsrelevante Verletzung des Rücksichtnahmegebots unter dem Gesichtspunkt der optisch bedrängenden oder erdrückenden Wirkung eines im Außenbereich privilegierten Vorhabens gegenüber Wohngrundstücken im Außenbereich nur für innenbereichstypische Entfernungen von maximal etwa 60 m in Betracht kommt und ein nachbarlicher Abwehranspruch jedenfalls dann ausscheidet, wenn das neue Bauwerk einen Abstand von mehr als 2 H gegenüber der Wohnbebauung einhält und
- ob Windenergieanlagen durch die Drehbewegung des Rotors jedenfalls dann keine optisch bedrängende oder erdrückende Wirkung verursachen, wenn sie von der nächstgelegenen Wohnbebauung einen Abstand von mehr als 2 H einhalten,
ist die Revision ebenfalls nicht zuzulassen.
Das erstrebte Revisionsverfahren könnte nicht zur Klärung der Frage führen, ob ein im Außenbereich privilegiert zulässiges Vorhaben dann nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoßen würde, wenn es zu benachbarten Wohngebäuden mindestens 60 m Abstand hielte. Soweit der Beigeladene mit Rechenbeispielen belegen will, dass es realitätsfern wäre, ab Entfernungen von 50 m überhaupt noch Anforderungen an die Größe der in der Entfernung entstehenden Objekte zu stellen, lässt er außer Acht, dass die Anwendung des mathematischen Strahlensatzes mit dem Ansatz eines Blickwinkels von 40° und die Einschätzung, in welchem Maße die bewusste Wahrnehmung von baulichen Objekten mit der Entfernung abnimmt, in den Bereich der Tatsachenfeststellung gehört. Dieser Bereich ist dem Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht verschlossen. Ein Gebäudeabstand von 60 m, jenseits dessen ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmeverbot ausscheidet, lässt sich auch rechtlich nicht ableiten. Dass nachbarrechtliche Abwehransprüche unter dem Gesichtspunkt einer optisch bedrängenden Wirkung ab "innenbereichstypischen" Entfernungen von 50 bis 60 m generell ihr Ende finden müssten, weil ansonsten die eigentlich unerwünschten, bauplanungsrechtlich unzulässigen Streubebauungen des Außenbereichs die im Außenbereich privilegierten Vorhaben verdrängen könnten, trifft nicht zu. Die Forderung des Beigeladenen, dass sich die Privilegierung von Windenergieanlagen (vgl. § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB) gegenüber der Wohnbebauung im Außenbereich stets durchsetzen müssen, ist jedenfalls dann unbegründet, wenn die Wohnbebauung ebenfalls einen Privilegierungstatbestand nach § 35 Abs. 1 BauGB in Anspruch nehmen kann.
Ebenso wenig könnte in einem Revisionsverfahren in verallgemeinerungsfähiger Weise geklärt werden, ob Windenergieanlagen durch die Drehbewegung des Rotors jedenfalls dann keine optisch bedrängende oder erdrückende Wirkung verursachen, wenn sie von der nächstgelegenen Wohnbebauung einen Abstand von mehr als 2 H einhalten. Ob eine Windenergieanlage eine benachbarte Wohnbebauung unzumutbar beeinträchtigt, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Das Berufungsgericht hat eine Vielzahl von Kriterien genannt, die in die Bewertung der jeweiligen örtlichen Gegebenheiten einzufließen hat (Höhe und Standort der Windenergieanlage, Größe des Rotordurchmessers, Blickwinkel, Hauptwindrichtung, Lage der Aufenthaltsräume und deren Fenster zur Anlage etc.). Wenn es in Anwendung der Kriterien einer Windenergieanlage, die knapp mehr als das Zweifache ihrer Gesamthöhe von einem Wohnhaus entfernt ist, eine optisch bedrängende Wirkung attestiert, ist dies eine tatrichterliche Würdigung, die nach § 137 Abs. 2 VwGO vom Revisionsgericht zu akzeptieren ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO und die Streitwertentscheidung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
OAAAC-35743